Sechzehn

171 Stunden, 12 Minuten

»Zuerst muss das Wasser kochen, dann tust du die Nudeln dazu«, erklärte Quinn. »Fass mal mit deinen Zauberhänden rein, vielleicht geht’s dann ja schneller.«

Sam ignorierte Quinns Bemerkung. Diese blöden Anspielungen auf seine Kraft fingen an, ihn zu nerven.

Die Feuerwehrzentrale war ein zweistöckiger Betonwürfel. Im Erdgeschoss befand sich die Garage, in der das Löschfahrzeug und ein Krankenwagen untergebracht waren.

Der Aufenthaltsbereich im ersten Stock war ein großer Raum mit einer Kochnische, einem rechteckigen Esstisch und mehreren nicht zueinanderpassenden Polstermöbeln. Eine Tür führte in ein schlauchartiges Zimmer mit Stockbetten für sechs Leute.

Der Hauptraum hatte etwas aufgesetzt Fröhliches. An den Wänden hingen Fotos von Feuerwehrmännern, manche von ihnen förmlich und steif, andere am Rumalbern mit ihren Kollegen, daneben Dankesschreiben von allen möglichen Leuten und Briefe von Erstklässlern, die mit Zeichnungen verziert waren und den Worten Lieber Feuerwehrmann begannen. Die Rechtschreibung gab teilweise echte Rätsel auf.

In einer Ecke stand ein großer runder Tisch, der bei ihrer Ankunft alle Anzeichen einer abrupt abgebrochenen Pokerpartie aufgewiesen hatte – Karten, die aus den Händen gefallen waren, ein Haufen Chips in der Mitte und volle Aschenbecher. Edilio und er hatten ihn inzwischen abgeräumt.

Und schließlich gab es noch eine erstaunlich gut bestückte Vorratskammer: geschälte Tomaten in Dosen, Fertigsuppen und Teigwaren, Cornflakes und andere Frühstücksflocken und eine rote Emaildose mit selbst gebackenen Keksen, die zwar nicht mehr ganz frisch waren, aber durchaus genießbar wurden, wenn man sie in den Tee tunkte.

Sam hatte seine Ernennung zum Feuerwehrchef akzeptiert. Nicht weil er das wollte, sondern weil es die anderen von ihm wollten. Er hoffte nur, sie würden zu keinem Einsatz gerufen werden, denn nach drei Tagen in der Zentrale waren sie immer noch nicht dahintergekommen, wie man das Löschfahrzeug startete, geschweige denn fuhr oder sonst was damit anfing.

Drei Tage waren vergangen, seit Caine mit seiner Gang in der Stadt aufgekreuzt war und das Kommando übernommen hatte.

Drei Tage, in denen ihnen niemand zu Hilfe gekommen war. Drei Tage, in denen er immer deprimierter geworden war, weil er sich mit der neuen Situation nicht abfinden konnte.

Unterdessen war die FAYZ – inzwischen nannten sie alle so – fünf Tage alt. Fünf Tage ohne Erwachsene. Ohne Mütter, Väter, große Geschwister, Lehrer, Polizisten, Verkäufer, Kinderärzte, Priester, Zahnärzte. Fünf Tage ohne Fernsehen, Internet oder Telefon.

Zuerst waren die Kinder froh über Caine und seine Crew gewesen. Sie benötigten die Gewissheit, dass sich jemand für zuständig erklärte, Antworten lieferte und für Ordnung sorgte. Und Caine hatte sich eindeutig Autorität verschafft. Bei den wenigen Malen, die Sam mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte es ihn sehr beeindruckt, mit welchem Selbstbewusstsein Caine an die Dinge heranging, so als wäre er für diese Aufgabe geboren.

Es regten sich aber auch schon erste Zweifel. Sie betrafen Caine und Diana, doch vor allem Drake Merwin. Manche meinten, es müsste jemanden geben, vor dem sich die Leute ein wenig fürchteten, damit die Regeln eingehalten wurden. Andere sahen das zwar ähnlich, aber sie fanden, dass Drake eindeutig zu viel Furcht verbreitete.

Kinder, die Drake oder seinen sogenannten Hilfssheriffs nicht gehorcht hatten, waren geohrfeigt, mit den Fäusten traktiert und zusammengeschlagen worden. Einen Jungen hatten sie auf die Toilette gezerrt, seinen Kopf in die Schüssel gedrückt und an der Spülung gezogen. Die Furcht vor Drake ersetzte allmählich die Angst vor dem Unbekannten.

Quinn nahm Sam die Packung aus der Hand und schüttete die Nudeln in den Topf.

Edilio, der ihnen zusah, wandte auf einmal den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Hört ihr das?«

Sam und Quinn spitzten die Ohren. Das einzige Geräusch war das Brodeln des kochenden Wassers. Dann hörten sie es auch – lautes Weinen.

Sam war mit drei Schritten bei der Rutschstange, umschlang sie mit den Armen und Beinen und ließ sich durch die Öffnung im Fußboden nach unten in die hell erleuchtete Garage gleiten.

Es war früher Abend und das Garagentor stand weit offen. Jemand – nach den langen rötlichen Haaren zu urteilen ein Mädchen – lag zusammengekauert auf der Schwelle.

Von der Straße kamen drei dunkle Gestalten die Auffahrt heraufmarschiert.

»Hilf mir!«, flehte das Mädchen leise.

Sam kniete sich neben sie, dann fuhr er erschrocken zurück. »Bette?«

Bettes linke Gesichtshälfte war voller Blut. Es drang aus einer Platzwunde über ihrer Schläfe. Sie keuchte und schnappte nach Luft, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich und versuchte nun mit letzter Kraft, über die Ziellinie zu gelangen.

»Bette, was ist passiert?«

»Sie sind hinter mir her«, weinte Bette und klammerte sich an Sams Arm.

Die drei dunklen Schatten näherten sich dem aus der Garage fallenden Lichtkegel. Einer war eindeutig Orc. Niemand sonst war so groß. Edilio und Quinn, die Sam gefolgt waren, stellten sich in die Garageneinfahrt.

Sam löste sich aus Bettes Griff und ging neben Edilio in Stellung.

»Wenn ihr Prügel wollt, könnt ihr sie haben!«, rief Orc.

»Was soll das?«, schrie Sam ihn an. Er erkannte die anderen beiden. Der eine hieß Karl, er war aus seinem Jahrgang, der andere war ein Coates-Schüler namens Chaz. Alle drei waren mit Aluschlägern bewaffnet.

»Geht dich nichts an«, erwiderte Chaz knapp. »Wir erledigen das.«

»Was heißt erledigen? Orc, hast du Bette geschlagen?«

»Sie hat gegen die Regeln verstoßen«, erwiderte Orc.

»Du schlägst ein Mädchen?«, fragte Edilio entsetzt.

»Halt’s Maul!«

»Wo ist Howard?« Sam wollte Zeit schinden, um überlegen zu können, wie sie am besten vorgehen sollten. Einen Kampf gegen Orc hatten sie schon verloren.

Orc fasste die Frage aber als Beleidigung auf. »Ich brauch Howard nicht. Mit dir werde ich auch so fertig.«

Orc kam auf Sam zu. Einen halben Meter vor ihm blieb er stehen und legte sich den Schläger auf die Schulter.

»Aus dem Weg, Sam!«, befahl Orc.

»Ich mach da nicht mit«, gab Quinn klein bei. »Überlass sie ihm, Sam.«

»Überlassen?«, erwiderte Orc. »Ihr tut, was ich sage.«

Sam sah, dass sich auf der Straße hinter Orc etwas regte. Eine Menschenmenge kam in ihre Richtung, es waren an die zwanzig Leute. Orc hatte sie ebenfalls bemerkt.

»Die nützen dir gar nichts«, sagte er und holte aus.

Sam duckte sich.

Der Schläger sauste mit solcher Wucht an seinem Kopf vorbei, dass Orc, vom eigenen Schwung mitgerissen, eine halbe Drehung vollführte.

Sam kämpfte noch um sein Gleichgewicht, aber Edilio war sofort zur Stelle. Er nahm brüllend Anlauf, rammte Orc seinen gesenkten Kopf in den Bauch, und obwohl Orc locker das Doppelte von ihm wog, warf er ihn rücklings zu Boden.

Chaz stürzte sich sogleich auf Edilio, um ihn von Orc runterzuzerren.

Die Kids auf der Straße fingen an zu rennen. Es waren zornige Rufe und laute Drohungen zu hören, die alle gegen Orc gerichtet waren, trotzdem schien keiner von ihnen bereit, sich in den ungleichen Kampf einzumischen.

Plötzlich übertönte eine Stimme den Lärm.

»Hört auf damit!«

Drake Merwin.

Orc stieß Edilio weg und sprang auf die Beine. Er holte mit dem Fuß aus und fing an, auf ihn einzutreten.

Sam eilte seinem Freund zu Hilfe, doch Drake war schneller. Er packte Orc an den Haaren, riss seinen Kopf nach hinten und hieb ihm den Ellbogen ins Gesicht.

Orc blutete aus der Nase. Er stieß einen wütenden Schrei aus.

Drake schlug noch einmal zu und ließ ihn auf den Asphalt fallen.

»Welches Wort von ›hört auf damit‹ hast du nicht verstanden, Orc?«, fragte Drake.

Orc ging in die Hocke und wollte sich auf Drake stürzen. Doch Drake, wendig wie ein Stierkämpfer, wich mit einem Schritt zur Seite aus. Er streckte die Hand aus und sagte zu Chaz: »Gib mal her.«

Chaz reichte ihm seinen Baseballschläger.

Drake stieß Orc den Schläger in die Rippen, in die Nieren und schließlich noch einmal ins Gesicht. Jeder Stoß war wohlüberlegt, präzise und wirkungsvoll.

Orc wälzte sich hilflos auf den Rücken.

Drake drückte das dicke Ende des Schlägers auf Orcs Hals. »Mann, wann kapierst du es endlich? Was ich sage, gilt auch für dich.«

Dann lachte er, machte einen Schritt zurück, wirbelte den Schläger durch die Luft, fing ihn auf und legte ihn auf seine Schulter. Er grinste Sam an.

»Also, Feuerwehrmann, was läuft hier?«

Sam hatte schon oft mit Schlägertypen zu tun gehabt, aber einem wie Drake war er noch nie begegnet. Orc war im Vergleich zu ihm ein Riesenkerl, doch Drake hatte ihn außer Gefecht gesetzt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Sam deutete auf die immer noch auf dem Boden kauernde Bette. »Orc hat sie geschlagen.«

»Ja und?«

»Ich wollte verhindern, dass er es noch einmal tut.« Sam bemühte sich, möglichst gelassen zu bleiben.

»Hat aber nicht so ausgesehen, als wäre dir dein Rettungsmanöver gelungen. Ich hatte eher den Eindruck, dass Orc dir gleich den Schädel von den Schultern pusten würde.«

»Bette hat nichts getan!«, rief eine schrille Kinderstimme aus der Menge.

Ohne sich umzublicken, sagte Drake: »Halt den Mund!« Er deutete auf Chaz. »Du. Was war los?«

Chaz war ein athletischer Junge mit schulterlangen blonden Haaren und einer modischen Brille. Er trug die Coates-Uniform, die inzwischen verdreckt und zerknittert war.

»Das Mädchen«, er zeigte auf Bette, »hat die Kraft eingesetzt.«

Sam spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief.

Chaz hatte von der Kraft gesprochen, als wäre nichts dabei und als wüssten alle davon.

Drakes Miene verzog sich zu einem bösen Grinsen. »Ich weiß echt nicht, was du meinst, Chaz«, sagte er in einem eindeutig drohenden Ton.

»Nichts«, antwortete Chaz rasch.

»Sie hat uns einen Zaubertrick gezeigt«, warf jemand ein. »Sie hat niemandem wehgetan.«

»Ich hab ihr gesagt, sie soll damit aufhören.« Orc war wieder auf den Beinen und starrte Drake hasserfüllt an.

»Orc ist mein Hilfssheriff«, erklärte Drake. »Wenn ihr etwas Verbotenes tut und er verlangt, dass ihr damit aufhört, müsst ihr ihm gehorchen. Wenn dieses Mädchen ungehorsam war, hat es nur bekommen, was es verdient.«

»Ihr habt kein Recht, andere zu schlagen«, widersprach Sam.

Drake setzte sein Haifischgrinsen auf: zu viele Zähne, kein Humor. »Jemand muss dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden. Richtig?«

»Gibt es eine Regel gegen Zaubertricks?«, fragte Edilio.

»Ja«, erwiderte Drake. »Aber das wissen offenbar noch nicht alle. Chaz? Gib dem Feuerwehrchef die Liste mit den neuesten Regeln.«

Sam nahm ein zerknülltes, in der Mitte gefaltetes Blatt Papier entgegen, ohne es anzusehen.

»Bitte schön«, sagte Drake. »Jetzt kennt ihr die Regeln.«

Er lachte und warf Chaz den Baseballschläger zu. »Okay, alle ab nach Hause!«

»Bette bleibt vorläufig hier«, sagte Sam.

»Von mir aus.«

Drake marschierte davon, dicht gefolgt von Orc und den anderen. Die Menge teilte sich, um sie vorbeizulassen.

Sam kniete sich neben Bette. »Du bekommst erst mal einen Verband.«

»Was meinte er mit Zaubertricks?«, fragte Quinn.

Bette schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Sie kann kleine Lichtkugeln aus ihren Händen zaubern«, meldete sich eine Kinderstimme. »Das war ein cooler Trick.«

»Ihr habt gehört, was Drake gesagt hat«, erwiderte Quinn mit lauter Stimme. »Ab nach Hause!«

Sie halfen Bette in den Krankenwagen und setzten sie auf die Pritsche. Edilio reinigte die Wunde mit Wattebäuschen, behandelte sie mit einem Desinfektionsmittel und klebte zwei Pflasterverbände darüber.

»Du kannst hier übernachten, Bette«, sagte Sam.

»Nein. Ich muss nach Hause zu meinem Bruder. Aber danke.« Sie lächelte Edilio gequält an. »Es tut mir leid, dass du wegen mir getreten wurdest.«

Edilio zuckte verlegen die Achseln und grinste schief. »Halb so schlimm.«

Sam begleitete Bette nach Hause. Quinn und Edilio gingen wieder nach oben.

Quinn sah nach dem Topf und holte mit der Schöpfkelle ein paar Nudeln heraus. Er probierte eine.

»Schmeckt wie Matsch.«

»Zu lange gekocht«, meinte Edilio mit einem Blick über seine Schulter.

»Cheerios?«, fragte Quinn.

Er schüttete die kleinen Vollkornringe in eine Schale und summte vor sich hin, da er keine Unterhaltung mit Edilio anfangen wollte. Er ertrug ihn kaum noch – sein fröhliches Wesen, die Tatsache, dass es nichts gab, was er nicht konnte, und dass er sich eben wie ein mexikanischer Kampftrupp auf Orc gestürzt hatte.

Quinn fand das idiotisch. Mit einem Kerl wie Orc suchte man keinen Streit. Natürlich war es schlimm, was Bette passiert war, aber was sollte es bringen, sich mit jemandem anzulegen, gegen den man keine Chance hatte? Wäre Drake nicht zufällig vorbeigekommen, könnte Edilio jetzt wahrscheinlich nicht einmal mehr gehen.

Sam kehrte zurück. Edilio nickte er zu, Quinn würdigte er kaum eines Blickes.

Quinn biss die Zähne zusammen. Na toll! Jetzt war Sam sauer auf ihn, weil er nicht bereit gewesen war, seinen Kopf hinzuhalten. Dabei war Sam selbst kein großer Held. Quinn erinnerte sich daran, wie oft Sam vor einer Welle gekniffen hatte, auf die er sehr wohl aufgesprungen war.

»Die Nudeln sind ungenießbar«, teilte er ihm mit.

»Ich hab Bette nach Hause gebracht. Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Sie sagt jedenfalls, es ginge ihr gut.«

»Bette hat das, was du auch hast, nicht wahr?«, fragte Quinn, während Sam sich an den Tisch setzte und nach der Schachtel mit den Cheerios griff.

»Ja. Aber wahrscheinlich nicht ganz so stark. Sie hat mir erzählt, dass sie ihre Hände gerade mal zum Leuchten bringen kann.«

»Sie hat also noch keinem den Arm abgefackelt?« Quinn war es leid, von Sam mit dieser Mischung aus Mitleid und Verachtung angesehen zu werden. Er war es leid, sich beleidigen zu lassen, nur weil er auf seinen gesunden Menschenverstand vertraute und sich um seinen eigenen Kram kümmerte.

Sam hob den Kopf und blickte ihn scharf an, als wollte er sich auf den Streit einlassen. Doch dann riss er sich zusammen, presste die Lippen aufeinander, schob sein Essen weg und blieb stumm.

Quinn ließ nicht locker. »Deshalb darfst du es niemandem sagen. Sie werden denken, dass du ein Freak bist. Du hast ja gesehen, was mit Freaks passiert.«

»Bette ist kein Freak«, stieß Sam hervor. »Sie ist bloß ein Mädchen aus unserer Schule.«

»Sei doch nicht blöd, Mann! Bette, der kleine Pete, das Mädchen in dem Feuer, du. Wenn es vier von euch gibt, dann gibt es noch mehr. Normale Leute mögen das nicht. Sie werden denken, du bist gefährlich.«

»Denkst du das etwa auch, Quinn?«, fragte Sam leise, wobei er es vermied, ihm in die Augen zu schauen.

Er kramte den Zettel mit den Regeln aus seiner Hosentasche, faltete ihn auseinander und legte ihn auf den Tisch.

»Ich sag bloß, pass auf, Mann«, fuhr Quinn ungerührt fort. »Die Kids haben auch so schon jede Menge Angst. Wie sollen die normalen Leute…«

»Hör endlich auf, die Leute in irgendwelche Schubladen zu stecken!«, fauchte Sam ihn an.

Edilio übernahm wieder einmal die Rolle des Friedensstifters, diesmal zwischen Sam und Quinn, indem er Sam bat, die Regeln vorzulesen.

Sam glättete den Zettel, überflog ihn rasch und seufzte. »Nummer eins: Caine ist Bürgermeister von Perdido Beach und dem gesamten als FAYZ bekannten Gebiet.«

Edilio schnaubte. »Der Typ scheint ja mächtig von sich selbst eingenommen, was?«

»Zweitens: Drake wird zum Sheriff ernannt und ist berechtigt, die Regeln durchzusetzen. Bei Nummer drei steht, dass ich der Chef der Feuerwehr und für Notfälle zuständig bin. Toll! Hab ich ein Glück.« Er hob den Blick und fügte hinzu: »Haben wir ein Glück.«

»Fein, dass du dich auch an die kleinen Leute erinnerst«, stichelte Quinn.

»Viertens: Niemand darf einen Laden betreten und sich ohne Erlaubnis des Bürgermeisters oder Sheriffs was nehmen.«

»Hast du ein Problem damit?«, warf Quinn ein. »Es geht nicht, dass die Kids die Geschäfte plündern und sich einfach nehmen, was sie wollen.«

»Okay«, stimmte Sam ihm widerwillig zu. »Nummer fünf: Wir müssen Mary in der Kindertagesstätte helfen und für sie besorgen, was sie braucht. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sechs: Du sollst nicht töten.«

»Echt?«, fragte Quinn.

Sam setzte ein müdes Lächeln auf. Das tat er immer, wenn er nicht mehr streiten wollte und davon ausging, dass alle anderen es auch satthatten. »Scherz«, sagte er.

»Okay, lass den Blödsinn und lies einfach weiter!«

»Die Welt steht kopf, da kann ein kleiner Scherz ja wohl nicht schaden«, entgegnete Sam. »Sechs: Bei bestimmten Aufgaben müssen alle mithelfen, zum Beispiel bei Hausdurchsuchungen und Ähnlichem. Sieben: Schlechtes Benehmen muss Drake gemeldet werden.«

»Wir sollen uns gegenseitig bespitzeln«, bemerkte Edilio.

»Keine Sorge, du wirst nicht abgeschoben«, erwiderte Quinn. »Und sollte jemand einen Weg finden, wie sie dich nach Mexiko zurückschicken, komm ich mit.«

»Honduras. Nicht Mexiko, zum tausendsten Mal.«

»Nummer acht. Da haben wir’s: Keiner darf Zaubertricks vorführen oder Dinge tun, die anderen Angst machen oder Unruhe stiften.«

»Was heißt das?«, fragte Quinn.

»Dass Caine von der Kraft weiß.«

»Überrascht dich das?«, wollte Edilio wissen. »Alle behaupten, das in der Kirche war höhere Gewalt. Ich hab von Anfang an gesagt, dass Caine die Kraft hat und so eine Art Magier ist.«

»Nein«, widersprach Quinn. »Wenn er die Kraft hätte, bräuchte er Orc und Drake nicht, um andere daran zu hindern, sie einzusetzen.«

»Natürlich braucht er sie«, sagte Sam. »Wenn er der Einzige sein will, der sie hat.«

»Paranoid geworden, oder was?«

Sam las unbeirrt weiter. »Nummer neun: Wir befinden uns im Ausnahmezustand. Für die Dauer der Krise darf niemand diejenigen, die ihr Amt ausüben, kritisieren, lächerlich machen oder behindern.« Sam schüttelte fassungslos den Kopf. »Wir dürfen also nicht mehr unsere Meinung sagen?«

»Hör mal, das ist wie in der Schule«, wandte Quinn ein. »Die Lehrer darfst du auch nicht beleidigen. Wenigstens nicht vor der Klasse.«

Quinn hatte die Chance auf eine Versöhnung verspielt. Sam fühlte sich schon wieder von ihm enttäuscht.

»Dann wird dir Nummer zehn besonders gut gefallen. In Ausnahmefällen entscheidet der Sheriff, ob die hier genannten Regeln ausreichen. Falls dies nicht zutrifft, darf er neue Regeln formulieren, um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen

»Formulieren?«, schnaubte Quinn. »Das klingt, als hätte Astrid ihnen geholfen, das zu schreiben.«

Sam schob den Zettel weg. »Nein. Das ist nicht Astrids Stil.« Er verschränkte die Hände ineinander, legte sie auf den Tisch und verkündete: »Das ist Unrecht.«

Edilio blickte besorgt drein. »Ja. In Wirklichkeit heißt das, Caine und Drake können tun und lassen, was sie wollen.«

»Darauf läuft es hinaus«, stimmte Sam ihm zu. »Außerdem sorgt er dafür, dass die Leute anfangen, sich gegenseitig zu verdächtigen und auszuspielen.«

Quinn lachte. »Du kapierst es nicht. Sie treffen einfach Vorsichtsmaßnahmen. Das sind keine normalen Zeiten, okay? Wir sind von der Außenwelt abgeschnitten, es gibt keine Erwachsenen, keine Polizei, keine Lehrer und Eltern, und nichts für ungut, aber ein paar von uns mutieren gerade. Und du tust so, als müsste alles so laufen wie immer, als gäbe es keine FAYZ.«

»Und du tust so, als hätte Bette die Prügel verdient.« Sam platzte endgültig der Kragen. »Warum bist du nicht sauer, Quinn? Warum hast du kein Problem damit, dass ein Mädchen, das niemandem etwas getan hat, von Orc zusammengeschlagen wird?«

»Oh, daher weht der Wind! Dann ist es also meine Schuld?« Quinn stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Ich sag dir was, Sam. Ich finde es nicht richtig, dass er sie verprügelt hat. Okay? Aber was erwartest du? Kids werden von ihren Mitschülern schikaniert, weil sie die falschen Klamotten anhaben, keinen Sport mögen oder einfach anders sind. Bisher mussten dann immer die Lehrer und Eltern eingreifen. Das ist im normalen Leben so. Aber meinst du wirklich, dass die Leute jetzt, wo alles so verkorkst ist, dich für cool halten, weil du Laserstrahlen aus deinen Händen schießen kannst? Nein, Alter, so läuft das nicht.«

»Er hat Recht«, sagte Edilio, was Sam stärker überraschte als Quinn. »Wenn noch mehr Leute solche Kräfte haben wie du und Bette, gibt es Ärger. Einige haben die Kraft, die anderen nicht. Ich weiß, wovon ich rede – als Bürger zweiter Klasse.« Dabei warf er Quinn einen finsteren Blick zu, doch der ignorierte ihn. »Die anderen werden neidisch und bekommen Angst. Ich meine, sie drehen ja jetzt schon durch. Das heißt, sie werden jemanden suchen, den sie für sämtliche Probleme verantwortlich machen können. Auf Spanisch heißt das cabeza de turco. Das ist jemand, der für alles den Kopf hinhalten muss.«

»Ein Sündenbock«, übersetzte Quinn.

Edilio nickte. »Ja, ein Sündenbock.«

Quinn streckte beide Hände aus. »Sag ich doch! Genau so läuft das: Wenn du anders bist, wirst du zum Opfer. Sam, du möchtest über den Dingen stehen, gerecht sein, aber du hast es noch nicht begriffen. Das Schlimmste, was uns vorher passieren konnte, war, dass wir Ärger bekamen, Fernsehverbot hatten, was weiß ich. Wenn wir jetzt Mist bauen, ziehen sie uns mit dem Baseballschläger eins über. Schlägertypen hat es schon immer gegeben, aber früher sind die Erwachsenen mit ihnen fertig geworden. Jetzt sind die Schläger an der Macht, Alter. Und sie bestimmen die neuen Spielregeln.«

GONE Verloren
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