Sechsunddreissig
84 Stunden, 41 Minuten
»Astrid«, sagte Sam. »Du musst mit diesen Kids reden, herausfinden, welche Kräfte sie haben und wie gut sie sie kontrollieren können. Wir brauchen Leute, die uns helfen, wenn es zu einem Kampf kommt.«
Astrid war der Vorschlag sichtlich unangenehm. »Ich? Sollte das nicht besser Edilio tun?«
»Für Edilio habe ich einen anderen Job.«
Sam, Astrid, der kleine Pete und Edilio saßen müde und ausgelaugt auf der Treppe zum Rathaus. Quinn war verschwunden, niemand wusste, wohin. Die befreiten Coates-Kids – die Coates-Freaks, wie sie sich jetzt stolz nannten – hatten sich in Ralphs Laden gestärkt und wurden gerade von Albert Hillsborough, einem Jungen, der seit Beginn der FAYZ den McDonald’s weitergeführt hatte, mit warmen Hamburgern versorgt. Einigen war schlecht geworden, weil sie zu viel auf einmal gegessen hatten.
Lana war mit dem Heilen der geschundenen Hände gerade fertig geworden. Sam beobachtete, wie sie vor Erschöpfung taumelte, ihre Beine unter ihr nachgaben und sie auf dem Rasen zusammenbrach. Bevor er aufstehen konnte, um nach ihr zu sehen, waren bereits mehrere Coates-Kids herbeigeeilt. Sie brachten sie in eine angenehme Liegeposition und behandelten sie mit einer Behutsamkeit, die an Ehrfurcht grenzte. Dann rollten sie eine Jacke zu einem Kissen zusammen und wärmten sie mit einer Decke aus einem der ramponierten Behelfszelte.
»In Ordnung, ich spreche mit ihnen«, sagte Astrid, obwohl sie immer noch abgeneigt schien. »Ich kann die Leute aber nicht lesen wie Diana.«
»Machst du dir deshalb Sorgen? Du bist nicht Diana. Und ich bin nicht Caine.«
»Ich hab irgendwie gehofft, dass jetzt alles vorbei wäre. Wenigstens eine Zeit lang.«
»Es wird bald vorbei sein. Aber zuerst müssen wir uns einen Plan überlegen und dafür sorgen, dass wir vorbereitet sind, wenn Caine zurückkommt.«
»Du hast Recht.« Sie lächelte. »Glaub ja nicht, ich hätte von einer guten Mahlzeit, einer heißen Dusche und stundenlangem Ausschlafen geträumt.«
»Natürlich nicht.« Er grinste. Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Sorg dafür, dass es dem kleinen Pete gut geht, okay? Ich will nicht, dass du plötzlich verschwindest.«
Astrid hob ihren Bruder hoch, vergewisserte sich, dass er zufrieden war, und mischte sich unter die Coates-Kinder.
Sam gab Edilio ein Zeichen, sich neben ihn zu setzen. »Edilio, du musst etwas für mich erledigen. Dazu musst du mit dem Auto fahren und es muss geheim bleiben.«
»Die Geheimhaltung ist kein Problem. Aber das mit dem Fahren…«
»Besorg dir am besten einen Laster. Ich möchte, dass du zum Kraftwerk fährst.« Er erklärte ihm, was er von ihm wollte. Edilios Miene wurde mit jedem Wort ernster. »Schaffst du das? Du brauchst jemanden, der dich begleitet.«
»Ich pack das«, antwortete Edilio. »Gerne mache ich es nicht, das weißt du.«
»Wen wirst du mitnehmen?«
»Elwood. Vorausgesetzt, Dahra erlaubt es mir.«
»Okay. Nimm dir ein paar Stunden Zeit, dich mit dem Laster vertraut zu machen.«
»Ein paar Tage wären besser«, meinte Edilio. Doch dann deutete er eine spöttische Habtachtstellung an und sagte: »Wird erledigt, Sir!«
Sam blieb allein zurück. Er ließ die Schultern hängen und spürte, wie ihm der Kopf schwirrte. Die Erlebnisse der letzten Stunden ließen ihn nicht los. Er musste nachdenken, sich vorbereiten. Caine schmiedete sicher schon einen Plan.
Caine. Sein Bruder.
Wie viel Zeit blieb ihm noch? Drei Tage.
In drei Tagen würde er verpuffen.
Und Caine ebenfalls.
Vielleicht sterben. Oder in das alte Universum zurückkehren, wo er eine Menge unglaublicher Geschichten zu erzählen hätte.
Und Astrid zurücklassen.
»Ich hab Geburtstage noch nie gemocht«, murmelte Sam vor sich hin.
Albert hatte die letzten Hamburger an die Coates-Kids verteilt. Jetzt stieg er die Treppen zu Sam herauf.
»Bin froh, dass du wieder da bist, Mann«, sagte er.
»Cool, dass du den McDonald’s weitergeführt hast«, erwiderte Sam. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich verpflichtet, aufzustehen und dem Jungen die Hand zu schütteln.
»Hab ich gern gemacht.«
Albert lag etwas auf dem Herzen. Sam hatte zwar weder die Zeit noch die Energie für ein längeres Gespräch, aber seine innere Stimme sagte ihm, dass Albert jemand war, auf den er zählen konnte und den er nicht vor den Kopf stoßen sollte.
»Was gibt’s, Albert?«
»Ich hab in Ralphs Laden Inventur gemacht, und wenn mir genug Leute helfen, kann ich zu Thanksgiving ein Festessen auf die Beine stellen.«
Sam starrte ihn an. Er blinzelte. »Was?«
»Nächste Woche ist Thanksgiving.«
»Ich weiß.«
»Bis jetzt hat sich noch niemand die tiefgekühlten Truthähne aus dem Laden genommen. Ich rechne mit zweihundertfünfzig Kids, wenn ganz Perdido Beach kommt. Ein Truthahn müsste für etwa acht Leute reichen. Das heißt, wir brauchen ungefähr zweiunddreißig Truthähne. Das wäre kein Problem, weil noch sechsundvierzig da sind.«
»Zweiunddreißig Truthähne?«
»Preiselbeersoße und Füllungen haben wir auch genug, obwohl ich mir überlegen muss, wie ich die sieben verschiedenen Sorten am besten mische. Ich meine, wie das dann schmeckt.«
»Füllungen«, wiederholte Sam abwesend. »Albert, hör mal zu…«
Albert fiel ihm ins Wort. »Ich weiß. Alles läuft auf einen großen Kampf hinaus. Und du wirst demnächst fünfzehn. Es können lauter schreckliche Dinge passieren, aber…«
Diesmal unterbrach Sam ihn. »Albert? Mach dich an die Arbeit und bereite alles für das Festessen vor.«
»Ja?«
»Ja. Dann haben die Kids endlich was, worauf sie sich freuen können.«
Albert ging die Stufen wieder hinunter und Sam unterdrückte ein Gähnen. Er sah Astrid, die mit drei Coates-Kids in ein Gespräch vertieft war. Er musterte ihre verdreckten Kleider, die strähnigen, fettigen Haare und die Schmutzspuren in ihrem Gesicht – und fand sie wunderschön.
Von hier oben konnte er den spiegelglatten Ozean hinter den Häusern der Stadt sehen. Ihm stand so viel bevor: sein Geburtstag, Thanksgiving und die entscheidende Machtprobe mit Caine. Dabei hätte er Astrid am liebsten einfach nur an die Hand genommen, um mit ihr zum Strand runterzugehen, auf dem heißen Sand eine Decke auszubreiten, sich neben sie zu legen und ungefähr einen Monat lang zu schlafen.
Nach Thanksgiving, schwor er sich. Gleich nach dem Kuchen.