Vierundzwanzig

127 Stunden, 45 Minuten

Astrid hätte das Boot beinahe nicht gesehen. Eine Sekunde lang fragte sie sich, ob es Erwachsene waren, ob jemand kam, um sie aus der FAYZ zu retten. Nein. Wenn Rettung von draußen käme, dann sicher nicht in einem einzigen Motorboot.

Astrid glaubte ohnehin nicht mehr daran, dass das geschehen würde. Jetzt nicht und wahrscheinlich niemals.

Sie kniff die Augen leicht zusammen und versuchte zu erkennen, wer auf dem Boot war. Wenn sie nur einen Feldstecher hätte! Es konnten drei Leute sein. Vielleicht auch vier. Schwer zu sagen. Aber das Boot kam eindeutig näher.

Sie ging vor der Minibar in die Hocke und warf einen Blick hinein. Bei ihrem letzten Aufenthalt hatten sie den kleinen Kühlschrank so gut wie leer geplündert. Bis auf eine Handvoll Cashewnüsse war nichts mehr da.

Sie musste Pete etwas zu essen geben. Und zwar bald. Bevor die Leute auf dem Boot hier waren.

Sie könnte es unten im Restaurant versuchen. Dort müsste etwas zu finden sein, vielleicht sogar Hühnerfleisch für ein Sandwich oder wenigstens ein Joghurt – egal was. Sie könnte aber auch auf Nummer sicher gehen und die Minibars in den anderen Zimmern nach Essbarem durchsuchen.

Astrid öffnete die Tür. Sah den Flur entlang. Er war leer.

»Also Schokoriegel«, sagte sie leise und gestand sich ein, dass sie nicht genug Mumm hatte, um nach unten ins Restaurant zu gehen.

Im Zimmer nebenan war eine Minibar, doch der Schlüssel dazu fehlte. Sie probierte es in drei weiteren Zimmern, bis ihr klar wurde, dass sie an dem ersten Abend einfach nur Glück gehabt hatten. Die Kühlschränke waren alle verschlossen. Aber Moment mal, vielleicht waren die Schlüssel austauschbar!

Sie kehrte zurück in den Flur und da hörte sie das Pling eines der Aufzüge. Dann das leise Surren des elektrischen Türöffners. War das Sam? Sie blieb wie angewurzelt stehen, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht.

Die Furcht war stärker.

Der Aufzug befand sich am Ende des Flurs, um die Ecke. Ihr blieben nur noch ein paar Sekunden.

»Komm!«, zischte sie dem kleinen Pete zu und schob ihn vor sich her. Mit zitternden Fingern steckte sie die Zugangskarte in den Schlitz und zog sie wieder heraus. Zu schnell. Sie musste sich mehr Zeit lassen. Noch einmal. Wieder erschien kein grünes Blinken. Und noch mal. Sie hörte das Schließen der Aufzugtür.

Das konnte nur er sein. Plötzlich wusste Astrid, dass es Drake war.

Sie versuchte es erneut. Das Licht blinkte grün. Astrid drehte den Türknopf.

Jetzt war er da. Am Ende des Flurs. Mit einem Gewehr über der Schulter und einer Pistole in der Hand.

Astrid wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.

Drake grinste. Er hob die Pistole und zielte.

Astrid stieß Pete in den Raum und stolperte hinterher. Hastig schlug sie die Tür zu und schob den Riegel vor. Dann legte sie noch die Sicherheitskette vor.

Ein unbeschreiblich lauter Knall ertönte. In der Metalltür befand sich ein nun Loch von der Größe einer Zehn-Cent-Münze.

Nach der nächsten Explosion hing der Türgriff herab.

Der kleine Pete konnte sie retten. Er hatte die Macht dazu. Aber er war ruhig, bemerkte noch nichts.

Der Balkon. Das war die einzige Möglichkeit.

Drake warf sich gegen die Tür. Sie hielt. Das Bolzenschloss war unbeschädigt. Wieder knallte es und gleich noch einmal. In seiner Wut feuerte er einen Schuss nach dem anderen auf das Schloss ab.

Wahrscheinlich befürchtete er, dass sie und Pete sich wieder wegbeamen würden.

Das war es! Er musste glauben, dass genau das passiert war.

Sie zerrte Pete zum Balkon, öffnete die Tür und blickte hinab. Zu hoch. Aber direkt unter ihnen begann sich noch ein Balkon.

Astrid schob die Tür zu und stieg über das Geländer. Sie spürte eine solche Todesangst, dass sie am ganzen Körper zitterte, sie hatte aber keine andere Wahl.

Wie brachte sie Pete dazu, ihr zu folgen?

»Gameboy«, flüsterte sie und hielt ihm das Gerät vors Gesicht. »Komm, Petey, dein Gameboy.«

Sie half ihrem Bruder über das Geländer, legte seine Hand darauf, nur die eine, denn in der anderen hielt er den Gameboy. Er war wieder in sein blödes Spiel vertieft, viel zu ruhig, um seine Kraft einzusetzen, viel zu unberechenbar.

Das würde nicht funktionieren. Wie sollte sie ihrem Bruder klarmachen, was er tun musste?

Er war klein. Sie könnte ihn schwingen. Zwei Sekunden lang könnte sie sich festhalten.

Sie umklammerte das Geländer mit der Linken, packte Petes Handgelenk mit der Rechten und riss ihn vom Geländer weg. Er fiel. Sie fing ihn auf, hielt sich selbst mit den Fingerspitzen fest, schwang ihn zurück und ließ los. Er landete auf der Sonnenliege des unteren Balkons.Er war ziemlich heftig aufgeschlagen und saß benommen da.

Astrid hörte, wie Drake sich mit voller Wucht gegen die Tür schmiss, gleich darauf ein Splittern, als das Bolzenschloss nachgab. Jetzt hielt nur noch die Kette des Sicherheitsschlosses und die hätte er im Bruchteil einer Sekunde aufgesprengt.

Sie schwang sich hinunter, ließ sich fallen und wäre beinahe auf dem kleinen Pete gelandet. Durch ihr Bein fuhr ein stechender Schmerz, es blutete, doch darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Sie hob Pete auf, umschlang ihn mit den Armen und drückte sich an die Schiebetür des Balkons.

»Fensterplatz«, flüsterte sie in sein Ohr. »Fensterplatz, Baby, Fensterplatz.«

Sie konnte Drake im Zimmer über ihr hören. Wie er die Schiebetür öffnete und auf den Balkon trat.

Sie waren außer Sichtweite. Es sei denn, er lehnte sich weit hinaus.

Drake fluchte.

Sie hatten es geschafft. Der Psychopath glaubte, sie waren verschwunden.

Danke, lieber Gott!, dachte Astrid im Stillen.

Doch dann fing Pete an zu jammern.

Bei seiner Landung war der Gameboy auf den Boden gefallen und dabei war die Rückseite aufgebrochen. Eine der Batterien war davongerollt. Und nun wollte er weiterspielen.

Astrid hätte beinahe laut geschluchzt.

Drake hörte auf zu fluchen.

Sie sah hoch und da war er. Er lehnte sich über das Geländer und grinste sie mit seinem gemeinen Haifischgrinsen an.

Die Pistole lag in seiner Hand. Um auf sie zielen zu können, benötigte er aber einen anderen Winkel, also schwang er die Beine über das Geländer, hielt sich mit einer Hand fest und ging in die Hocke, wie Astrid es getan hatte.

Er richtete die Pistole auf sie.

Er lachte.

Doch plötzlich schrie er auf und stürzte ab.

Astrid war mit einem Satz beim Geländer. Drake lag ausgestreckt auf dem Rasen. Er war bewusstlos, das Gewehr ragte unter ihm hervor, die Pistole war ihm aus der Hand gefallen.

»Astrid!«, rief Sam.

Er lehnte sich über das Geländer. In der Hand hielt er die Tischlampe, mit der er auf Drakes Hand gedroschen hatte.

»Sam.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja, sobald ich Petes Batterie gefunden habe.« Das klang so albern, dass sie beinahe gelacht hätte.

»Unten am Strand ist ein Boot.«

»Wo fahren wir hin?«

»Wie wär’s mit irgendwohin, nur weg von hier?«

GONE Verloren
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