KAPITEL 31
Mog beobachtete, wie Belle ihr frisch gewaschenes Haar kämmte, und lächelte. In dem weißen Spitzenhemd, das ihr knapp bis zu den Knien reichte, den dunklen Locken, die um ihre Schultern wallten, und dem verträumten Gesichtsausdruck sah sie bildhübsch aus.
»Was ziehst du an?«, fragte sie. »Nicht wieder das fade graue Kleid, hoffe ich.«
»Niemals! Ich dachte, vielleicht das malvenfarbene, das Lisette mir geschenkt hat«, sagte Belle. »Es ist schick, aber nicht gewagt, und ich verbinde keine alten Erinnerungen damit.«
»Eine gute Wahl«, lobte Mog. »Und dein Strohhut mit den Blumen passt sehr gut dazu.«
»Ich habe dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du gestern Abend so verständnisvoll warst«, sagte Belle und drehte sich zu Mog um, um sie zu umarmen. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte. Du bringst immer alles wieder ins Lot.«
Mog erwiderte die Umarmung und unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen steigen wollten. Sie hatte wirklich gehofft, dass Belle wieder einen besonderen Mann kennenlernen würde, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. Nun war sie in Sorge, Etienne würde Belle einfach von hier weglocken. Mog konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass er den Wunsch hatte, sich in Russell niederzulassen.
Dieser Mann war schwer zu durchschauen. Ein Einzelgänger, dachte sie, mutig und willensstark, aber mit einer dunklen Vergangenheit. Ihr war klar, dass er sich am Vorabend von seiner besten Seite gezeigt und darauf geachtet hatte, genau das Richtige zu sagen, und sie musste zugeben, dass sein französischer Akzent hinreißend war. Doch seine guten Manieren und sein angenehmes Äußeres hatten keine Rückschlüsse auf sein wahres Wesen erlaubt.
Mog würde ihn nicht als hübsch bezeichnen, dafür war sein Gesicht zu kantig – und dazu noch diese eisblauen Augen! –, aber trotzdem würde er so manches Frauenherz schneller schlagen lassen. Sie erinnerte sich, wie Noah einmal bemerkt hatte, dass Etienne ein Mann war, den er nicht gern zum Feind haben würde. Die dünne Narbe auf seiner Wange sprach von Messerstechereien in dunklen Gassen und von Gefahr.
Aber das Eis in seinen Augen schmolz, wenn er Belle ansah, und ihr zuliebe hatte er sogar Jimmy gerettet. Deshalb wusste Mog, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatten.
»Wird es so gehen?«, fragte Belle etwas später, als sie in die Küche kam.
Mog, die gerade ein paar Kleidungsstücke auswusch, drehte sich um. Belle sah in dem malvenfarbenen Kleid und mit dem Strohhut bildschön aus. Die Aufregung hatte ihre Wangen rosa überhaucht, und ihre Augen leuchteten. »Wunderschön schaust du aus, aber jetzt ab mit dir!«
Etienne trat gerade aus dem Duke of Marlborough, als Belle auf dem Küstenpfad näher kam. Er blieb stehen, um aufs Meer hinauszublicken; er hatte sie nicht gesehen.
Sie raffte den Rock ihres Kleides, zog ihn eng um sich und versteckte sich hinter einem Baum, um Etienne zu beobachten. Die Sonne schien, und die Pfützen vom Vortag waren fast alle schon getrocknet. Belle fragte sich, ob er mit dem Gedanken spielte, ein Boot zu mieten, um sie an irgendeinen Ort zu entführen. Die See war ruhig und spiegelglatt.
Den dunklen Anzug vom Vortag mit der dazu passenden Weste hatte er gegen ein marineblaues Jackett, eine hellgraue Hose und eine Weste getauscht, und statt einer Fliege trug Etienne heute eine Krawatte. Für einen Ort, in dem die meisten Männer sich nur für den sonntäglichen Kirchgang in Schale warfen, wirkte er dennoch viel zu elegant. Belle rief nach ihm und schlüpfte wieder hinter den Baum.
Sie kicherte, als sie hörte, wie er in ihre Richtung lief, wartete, bis er fast an ihrem Versteck vorbei war, und sprang mit einem »Buh!« hervor.
Er lachte. »Das solltest du bei einem alten Soldaten lieber lassen«, sagte er, nahm sie an den Händen und lächelte sie an. »Bei meiner blitzschnellen Reaktion hätte ich dich glatt erschießen können.«
»Hast du gut geschlafen?«
»Nicht besonders«, gestand er. »Ich habe ständig von dir geträumt. Was war mit Mog, nachdem ich euch verlassen hatte?«
»Sie hält dich für einen schlechten Umgang und lässt dir ausrichten, dass du schleunigst auf der Clansman nach Auckland zurückdampfen sollst.«
Ohne ihre Hände loszulassen, lehnte er sich an den Baum. »Und? Wirst du ihr gehorchen?« Er zog eine Augenbraue hoch.
»Du hast mir einmal gedroht, mich umzubringen, wenn ich versuche, dir wegzulaufen«, erwiderte sie mit einem unterdrückten Lachen.
»Ich glaube nicht, dass du dieses hübsche Kleid angezogen hast, um darin zu sterben«, sagte er, ließ ihre eine Hand los und strich leicht über ihre Wange. »Also, wo soll’s hingehen? Ich habe gehört, ein Mann namens Old Tom könnte eventuell dazu überredet werden, uns nach Paihia zu bringen.«
»Komisch, dass du das vorschlägst, ich habe nämlich zufällig ein, zwei Sachen zum Übernachten dabei«, meinte sie verschmitzt und zeigte ihm ihren kleinen Korb. »Wenn jemand Fragen stellt, wird Mog einfach behaupten, wir wollten französische Verwandte von dir besuchen.«
Er strahlte. »Ich habe also ihren Segen?«
»Das hängt ganz von deinem zukünftigen Verhalten ab«, sagte Belle und klimperte mit den Augen. »Vielleicht holst du lieber noch deinen Rasierer und ein sauberes Hemd. Sag, dass du nicht genau weißt, wann du zurückkommst!«
»Warte auf mich! Ich bin in fünf Minuten zurück«, sagte er, drehte sich um und lief zum Hotel zurück.
Belle schlenderte langsam am Duke of Marlborough vorbei zur Anlegestelle. Sie hätte vor lauter Glück singen und tanzen können, und sie war sehr froh, dass niemand in der Nähe war, der sie aufhielt und wissen wollte, wohin sie ging.
Sicher hatte sich bereits herumgesprochen, dass ein Franzose mit dem Schiff gekommen und im Duke abgestiegen war. So war es nun einmal in Russell. Man würde darüber diskutieren, warum er wohl gekommen war und wen er hier kennen könnte, denn alles, was aus dem Rahmen fiel, bildete Gesprächsstoff. Wenn man Belle mit ihm gesehen hätte, würde der Klatsch jetzt schon blühen.
Mog war so gescheit gewesen, sich daran zu erinnern, dass es in Paihia eine kleine französische Gemeinde gab. Zweifellos würde sie Peggy beiläufig mitteilen, dass Etienne ein alter Freund von Jimmy war, der nach Russell gekommen war, um seinen Angehörigen einen Besuch abzustatten. Und dass er Belle heute mitgenommen hatte, um ihr Gelegenheit zu geben, Paihia kennenzulernen.
Wenn Vera seinen Namen hörte, würde sie vor Neugier platzen. Belle wünschte, sie könnte zu ihr gehen und ihr alles erklären, doch Mog hatte versprochen, Vera unauffällig zur Seite zu nehmen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen.
Old Tom war kein Mann vieler Worte. Er saß gerade in seinem Boot und flickte ein Fischernetz, und als Etienne sich bei ihm erkundigte, ob er sie nach Paihia bringen könnte, erklärte er sich einverstanden, ohne Fragen zu stellen.
Old Tom war erst um die fünfzig, wurde aber so genannt, um ihn von einem anderen, jüngeren Tom zu unterscheiden. Er raffte sein Fischernetz zusammen, wischte einen Sitz ab und streckte die Hand aus, um Belle aufs Boot zu helfen.
Draußen in der Bucht war es kühl und sehr windig, und Belle nahm den Hut ab und wickelte sich in ihren Schal. Etiennes Finger stahlen sich darunter und fanden zu ihren, und allein seine Berührung ließ sie erschauern. Tausend Ängste quälten sie: Wo würden sie übernachten? Wie sollten sie zurückkommen? Und war es klug, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, wenn sie nicht einmal mit Sicherheit wusste, welche Absichten Etienne hatte?
Da der Wind und der Motorenlärm zu laut waren, um zu reden, lehnte sie sich einfach zurück und betrachtete die Szenerie. Einmal mehr fand sie, dass die Bay of Islands einer der schönsten Orte der Welt sein musste.
Paihia war nicht so hübsch und malerisch wie Russell. Es erstreckte sich an einem langen Küstenstreifen, vielleicht weil genug Platz vorhanden war, um die Häuser weiter auseinander zu bauen. Aber das Wissen, dass niemand sie hier kannte, war an und für sich eine Wohltat.
Etienne ging zum Postamt, um sich zu erkundigen, ob vielleicht jemand etwas von einem Cottage wusste, das er für ein paar Tage mieten konnte. Er bat Belle, draußen zu warten. »Ich brauche nämlich kein Publikum, wenn ich einen Haufen Lügen erzähle«, raunte er ihr mit einem schiefen Grinsen zu.
Lächelnd kam er mit einem Stück Papier in der Hand wieder heraus. »Sieht so aus, als hätten wir Glück. Eine gewisse Mrs. Arkwright betreut zwei, drei Häuser, die an Urlauber vermietet werden. Ich kann sofort zu ihr gehen, sie wohnt gleich um die Ecke.«
Auch jetzt wollte er nicht, dass Belle ihn begleitete, sondern schlug ihr vor, inzwischen einen Schaufensterbummel zu unternehmen.
Er blieb über eine Stunde weg, und Belle wurde allmählich unruhig. Dann tauchte er auf einmal auf der Straße am Strand auf.
»Was hat denn da so lange gedauert?«, wollte sie wissen. »Ich bin langsam nervös geworden.«
»Mrs. Arkwright wollte mir das Cottage gleich zeigen, und als wir da waren, fing sie sofort an, das Bett zu beziehen und Handtücher herauszulegen. Ich konnte sie nicht davon abhalten. Aber ich habe den Schlüssel, und wir können uns gleich auf den Weg dorthin machen. Wir brauchen nur noch ein paar Vorräte.«
»Wie ist denn das Haus?«, fragte Belle, als sie zum Lebensmittelladen gingen.
»Das wirst du schon sehen, wenn wir dort sind.«
»Kostet es viel?«
Er tippte sich mit einem Finger an die Nase, um Belle zu signalisieren, dass das nicht ihre Sache war.
Nachdem sie eine Tüte voller Lebensmittel gekauft hatten, führte Etienne sie bis zum Ende der Küstenstraße, wo sich ein bewaldeter Hügel erhob. Dort folgten sie einem schmalen Pfad zwischen Bäumen hindurch.
»Voilà!«, sagte er, als sie auf eine Lichtung traten, und zeigte auf ein winziges, weiß gestrichenes Holzhaus, dessen Hinterseite sich an den Hügel schmiegte. Ein paar Stufen führten auf eine Veranda mit Blick aufs Meer.
»Wie schön!«, rief Belle. Da es von Bäumen umgeben war, war das Haus völlig abgeschieden. Als sie auf die Veranda traten, um die Vordertür zu öffnen, konnte Belle nicht einmal das Dach eines anderen Hauses sehen.
Etienne stellte die Tüte mit den Lebensmitteln ab, um die Tür aufzusperren, und noch bevor Belle auch nur daran denken konnte, einen Schritt zu machen, hob er sie schwungvoll auf die Arme und trug sie über die Schwelle. Dann setzte er sie ab und küsste sie.
Alle Vernunft, Zurückhaltung oder auch nur Bedenken, weil die Haustür noch offen stand, lösten sich in Luft auf. Sein Kuss vom Vorabend hatte Gefühle in Belle geweckt, von denen sie beinahe vergessen hatte, dass sie existierten, und jetzt war sie wie ausgehungert nach ihm. Als Etienne sie küsste, schob sie die Hände unter sein Jackett, frustriert, weil Hosenträger und Weste im Weg waren und sie nicht seine Haut berühren konnte. Schamlos presste sie sich an ihn, als seine Zunge in ihren Mund glitt und die Glut in ihr noch mehr entflammte.
Er nahm ihr Hut und Schal ab, knöpfte ihr Kleid auf und schob es weit genug nach unten, um ihre Brüste zu befreien. Dann beugte er sich vor und schloss seine Lippen um eine Brustspitze.
Belle stöhnte vor Wonne und versuchte, ihm sein Jackett auszuziehen, aber die Wogen brennend heißer Lust, die über ihr zusammenschlugen, waren so überwältigend, dass sie es nicht schaffte. Etienne hob ihren Rock, schob seine Hand unter ihren Unterrock und zog ihren Schlüpfer nach unten, und als seine Finger in ihr heißes, feuchtes Geschlecht fanden, drückte sie seinen Kopf an ihre Brust und schrie, dass sie ihn wollte, jetzt sofort.
Sie hatte noch nicht einmal das Bett oder den Rest der Einrichtung gesehen. Doch es wäre ihr auch egal gewesen, wenn sie in einem Stall gewesen wären, als Etienne sie an die Wand schob und nur so lange aufhörte, sie zu liebkosen, wie er brauchte, um seine Hose aufzuknöpfen.
Seine Hände schlossen sich um ihre Pobacken, er hob sie hoch und ließ sie auf sein erigiertes Glied gleiten. Er hielt sie an die Wand gedrückt und drang in sie ein. Dabei küsste er sie heiß und fordernd. Es war für sie beide ein Akt wilder Leidenschaft, roher, derber Sex, wie Belle ihn in den Hintergassen von New Orleans beobachtet hatte. Damals hatte sie Mitleid mit den Mädchen gehabt, die so etwas erdulden mussten.
Aber sie brauchte kein Mitleid, sie wollte ihn genauso sehr wie er sie, und ihr Körper schien mit seinem zu verschmelzen.
Es schien nur Sekunden zu dauern, bis sie zum Höhepunkt kam, und sie hörte sich selbst, wie sie seinen Namen schrie.
Etiennes Finger bohrten sich in ihr Gesäß, sein Atem streifte ihre nackte Schulter wie Feuer, und mit einem tiefen Aufschrei kam auch er. Sein Griff lockerte sich, und sie rutschte nach unten, bis ihre Füße den Boden berührten.
»So war es nicht geplant«, murmelte er und ließ den Kopf an ihre Schulter sinken. »Ich wollte, dass es langsam und schön ist.«
Belle konnte fühlen, wie Schweißperlen über ihr Gesicht und zwischen ihren Brüsten hinunterliefen. Ihre Beine waren wie aus Gummi, und sie musste sich an die Wand lehnen.
»Langsam und schön kann es nachher sein«, keuchte sie. »Heiß und schnell war jetzt genau richtig.«
Er hob den Kopf und sah sie an, dann küsste er sie auf Lippen, Nase und Stirn. »Deine Wangen sind ganz rosig. Du hast noch nie schöner ausgesehen.«
»Kann ich mich setzen, bevor ich falle?«, fragte sie und streichelte mit beiden Händen sein Gesicht. Auch er hatte noch nie besser ausgesehen. Sie spürte die Narbe auf seiner Wange, und sie liebte seine vollen Lippen, seine stolze Nase und seine hellen Augenbrauen. Aber am meisten liebte sie seine Augen; sie waren wie die See, manchmal kalt und dunkel, wenn er zornig war, doch jetzt fiel genug Licht durch die offene Tür, um zu sehen, dass sie blau wie ein Sommerhimmel und sanft vor Liebe waren.
Sie brachten ihre Kleidung in Ordnung, und Belle räumte die Lebensmittel weg. Etienne zog die Vorhänge auf, und erst jetzt stellte Belle fest, dass das Cottage ein perfekter kleiner Schlupfwinkel war. Es war einfach eingerichtet; es gab nur ein Spülbecken, Tisch und Stühle, einen kleinen Ofen mit einem Teppich davor, zwei Armsessel und auf Regalen Porzellan und Kochtöpfe. Aber es war makellos sauber und hell, und im zweiten Raum, dem Schlafzimmer, standen bloß ein Bett und eine Kommode.
»Das Wasser ist Regenwasser aus einem Tank«, erklärte Etienne und drehte den Hahn auf. »Die Toilette befindet sich draußen. Irgendwo habe ich auch eine Zinkwanne gesehen. Und da drüben ist ein Schuppen mit Holzscheiten für den Ofen.«
»Alles, was ich brauche, ist genau hier«, sagte sie und legte ihre Arme um ihn.
Etienne zündete den Ofen an, während Belle nach draußen auf die Veranda ging, um den Blick über die Baumwipfel aufs Meer zu genießen. In der Ferne konnte sie Russell sehen, aber es hätte Millionen Kilometer entfernt sein können. Noch nie im Leben war sie so glücklich gewesen. Jetzt gab es weder Schuldgefühle, Reue oder Angst vor der Zukunft. Etienne war ihr Schicksal, wie Mog gesagt hatte, und vielleicht hatte sie all die schlimmen Dinge im vergangenen Jahr erleben müssen, um das zu erkennen.
Später, nach einer Tasse Tee und einem Sandwich, gingen sie zu Bett. Dieses Mal zogen sie sich zuerst aus – Etienne hängte ihr Kleid sogar auf, damit es nicht zerknitterte –, und der Liebesakt war langsam und schön.
Belle fuhr mit ihrer Hand sanft über seine Narben; die eine auf seiner Schulter, die sie in Frankreich gesehen hatte, verblasste bereits, aber die neuere auf seinem rechten Oberschenkel sah noch immer entzündet aus.
»Ein Glück, dass es nicht mein Knie erwischt hat und ich keinen Wundbrand bekommen habe«, meinte er. »Nach Knieverletzungen bleibt fast immer ein starkes Hinken zurück.«
»Hat es sehr wehgetan?«
»Nicht in dem Moment, als es passiert ist. Ich habe mein Gewehr wie einen Stock benutzt und bin ein Stück zur Linie zurückgetaumelt. Doch durch den Blutverlust muss ich das Bewusstsein verloren haben. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie mich die Sanitäter hochgehoben haben. Erst als sie mir in der Verbandstation die Uniform vom Leib schnitten, setzte der Schmerz ein, und dann war es die Hölle.«
»Wusstest du, dass du die Grippe hattest?«
»Nicht wirklich. Nur, dass es mir unheimlich mies ging. Mir war glühend heiß und eiskalt zugleich. Ich kann mich kaum noch an etwas erinnern, bloß daran, dass ich gedacht habe, du wärst bei mir.«
»Ich?« Belle kicherte.
»Ja, aber so, wie du damals warst, als ich auf der Überfahrt nach Amerika seekrank wurde. Als es mir langsam wieder besser ging, fragte mich eine der Schwerstern, wer Belle sei. Anscheinend habe ich nach dir gerufen.«
»Ich bin sehr froh, dass du an mich gedacht hast«, murmelte sie und küsste seine Narben.
»Sie haben mir erzählt, alle anderen Männer auf meiner Station seien an der Grippe gestorben. Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe; es schien keinen Grund dafür zu geben.«
»Weil du zu mir kommen musstest«, erwiderte sie ernst.
Später regnete es, aber das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach und der Wind in den Bäumen machten es drinnen noch gemütlicher. Der Ofen strahlte eine wohlige Wärme aus. Belle zündete eine Öllampe an, und zusammen bereiteten sie ein improvisiertes Mahl aus Brot, Käse und Dosensuppe zu.
Etienne trug nur seine Hose, Belle ihr Hemd, und als er die Flasche Wein öffnete, die er gekauft hatte, sprach er einen Toast aus.
»Auf eine lange und glückliche gemeinsame Zukunft«, sagte er mit feierlichem Ernst und stieß mit ihr an. Dann nahm er einen Schluck Wein und schnitt eine Grimasse. »Ich muss wohl meinen eigenen Wein anbauen, wenn das der beste ist, den man hier kaufen kann.«
»Könntest du das?«
»Möglich, mit dem richtigen Boden. Das Klima scheint mir geeignet zu sein.«
»Was ist mit deinem Hof in Frankreich? Was hast du damit angestellt?«
»Noah hat ihn gekauft. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen, doch er ist nach Marseille gefahren, um mich zu finden.«
»Wirklich? Er ist ein richtiger Schatz«, meinte Belle. »Und nicht ein Wort zu mir!«
Etienne lächelte. »Ja, ein wahrer Freund. Weißt du, mittlerweile hatte er festgestellt, dass ich kurz vor Kriegsende nach Hause geschickt worden war. Doch als er keine Antwort auf einen Brief bekam, den er an den Bauernhof adressiert hatte, beschloss er, selbst hinzufahren und mich zu suchen. Er stöberte mich bei den Freunden auf, bei denen ich wohnte, und dann fuhren wir beide zu mir nach Hause.«
»Und er wollte den Hof kaufen?«
»Es war bei ihm Liebe auf den ersten Blick. Ich habe versucht, es ihm auszureden, doch er meinte, Lisette wollte, dass ihre Kinder die Ferien in Frankreich verbringen, damit Rose demnächst genauso gut Französisch spricht wie Jean-Philippe. Außerdem würde das Anwesen nur noch mehr verfallen, wenn ich dir nachfahre. Und dann sagte Noah noch, er habe genug Geld, um auf dem Grundstück ein besseres Haus zu bauen, und dass ich dort immer willkommen sei, mit dir und ohne dich.«
»Und was nun?«, hakte Belle nach. »Was wirst du hier machen?«
»Fürs Erste mit dir schlafen, bis du um Gnade flehst«, gab er grinsend zurück. »Dann müssen wir heiraten, um deinen guten Ruf zu retten.«
Sie lachte. »Ist es nicht üblich, einer Frau zuerst einen Heiratsantrag zu machen?«
»Willst du mich heiraten, Belle, meine Schöne?«, fragte er und nahm ihre Hand.
»Sobald es sich machen lässt«, antwortete sie. »Ich liebe dich, Etienne, und es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als deine Frau zu werden.«
Er stand auf, trat zu ihr und nahm sie in die Arme. »Seit jenem Tag in Brest, als ich dich auf das Schiff nach Amerika bringen musste, haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Weißt du, dass ich anfing, dich zu lieben, als du mich während meiner Seekrankheit gepflegt hast?«
»Nein!«
»Nicht in körperlicher Hinsicht! Du warst zu jung und verletzlich, aber du hattest so viel Geist und Charme. Dich in New Orleans zurückzulassen hat mich tief beschämt; du bist mir danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«
»Du musstest mich dort hinbringen, das wusste ich, und ich habe auch die ganze Zeit an dich gedacht. Doch du warst ja glücklich verheiratet, nicht wahr?«
»Ja, ich habe Elena geliebt, aber ich glaube, unsere Ehe war so ähnlich wie deine mit Jimmy. Wir sind zusammen aufgewachsen, und ich dachte, mehr als wir hatten, könnte man nicht erwarten. Doch es war nie so wie zwischen uns beiden.«
»Ganz ehrlich, hast du etwas für mich empfunden, nachdem du mich in Paris gerettet hattest? Ich weiß, dass wir schon im Lazarett darüber gesprochen haben, aber ich will mehr wissen.«
Er legte seine Hände an ihre Wangen und sah ihr in die Augen. »Ja, ich habe gewusst, dass ich dich liebe, doch es war der falsche Zeitpunkt, es auszusprechen. Die Männer hatten dir so übel mitgespielt, dass ich dachte, du brauchst Zeit, damit die Wunden verheilen können. Aber es war mehr als das. Ich hatte mir so viele schlimme Dinge zuschulden kommen lassen, dass ich fürchtete, ich wäre nicht gut genug für dich.«
»Wie konntest du so etwas nur denken? Du hast mir das Leben gerettet!« Bei dem Gedanken, dass er eine so schlechte Meinung von sich selbst hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen. »Hättest du nur über deine Gefühle gesprochen! Schon eine Andeutung hätte einen großen Unterschied ausgemacht.«
»Ich habe es dir gesagt, aber Feigling, der ich war, auf Französisch; damals, am Bahnhof. Ich habe gehofft, du würdest genug verstehen. Doch was hätte ich tun sollen? Du wolltest zurück nach England, zu Jimmy, und von Noah wusste ich, was er für dich empfand. Selbst wenn ich das Talent hätte, in einem Brief über meine wahren Gefühle zu schreiben, hätte ich Angst gehabt, Jimmy könnte ihn vielleicht in die Finger bekommen. Deshalb habe ich dir wie ein guter Freund geschrieben und gehofft, du würdest zwischen den Zeilen lesen und erkennen, wie es um mich steht.«
Belle seufzte. Sie hatte Herzklopfen gehabt, als sie Etiennes Brief bekommen hatte, nur um dann schwer enttäuscht zu sein, weil er so kühl und förmlich klang.
»Dann hast du mir geschrieben, dass du Jimmy heiraten wirst, und ich wusste, dass ich meine Chance verpasst hatte. Ich redete mir ein, du würdest mit ihm glücklicher werden als mit mir«, fuhr er fort. »Aber das hat mich nicht davon abgehalten, an dich zu denken. Deshalb bin ich nach Blackheath gefahren; ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es dir gut geht. Ich hatte nicht erwartet, jemals wieder etwas von dir zu hören oder zu sehen, doch dann kam es in Frankreich zu dieser zufälligen Begegnung mit Jimmy.«
»Ein seltsamer Zufall«, bemerkte sie nachdenklich.
»Jetzt glaube ich, es war Schicksal. Ich habe gleich gemerkt, dass er ein guter Mensch war. Ich mochte ihn wirklich, und es hat mir gefallen, wie er über dich sprach.«
»Was hat er gesagt?« Jimmy hatte ihr seine Version erzählt, und Belle wollte wissen, ob sie mit der von Etienne übereinstimmte.
»Er hat mir erzählt, du seist in deinem Laden überfallen worden und hättest dein Baby verloren. Und er bereute, dass er sich freiwillig gemeldet hatte, wenn er bei dir hätte bleiben sollen. Ich war einerseits eifersüchtig auf ihn, andererseits jedoch froh, dass du mit einem so anständigen und fürsorglichen Mann verheiratet warst.«
»Und du bist trotzdem zum Lazarett gefahren, um mich zu sehen?«
»Ja. Als ich vom Tod deiner Freundin erfuhr, konnte ich einfach nicht anders. Ich kam nur, um dich zu sehen, ansonsten habe ich mir keine Hoffnungen mehr gemacht. Aber als ich dich sah und küsste, war es, als würde ich von einem Wirbelsturm mitgerissen.«
»Für mich war es genauso«, gestand sie. »Eine Art Wahnsinn, der jede Vernunft, jedes Pflichtgefühl vertrieb.«
Etienne setzte sich, zog sie auf seinen Schoß und wischte eine Träne weg, die ihr übers Gesicht lief. »Hättest du Jimmy meinetwegen verlassen, wenn er nicht verwundet worden wäre?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht irgendwann einmal, wenn die Sehnsucht nach dir zu groß geworden wäre, obwohl ich damals glaubte, ich könnte es nicht. Doch was hat dich bewogen, ihn zu retten, Etienne? Sag mir die Wahrheit.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich muss gestehen, dass ich einen Moment lang versucht war, ihn dort liegen zu lassen. Aber obwohl der Weg zu dir frei gewesen wäre, wenn ich ihn hätte sterben lassen, wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich damit nicht leben könnte. Und nachher war ich froh, weil ich wenigstens ein Mal im Leben die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Doch damit war es nicht zu Ende, Belle. Als du mir geschrieben hast, wie schlimm es um ihn stand und dass es mit uns beiden aus war, wünschte ich wirklich, ich hätte ihn dort gelassen. Nicht, weil ich dann dich bekommen hätte, sondern weil mir klar war, wie dein Leben in Zukunft aussehen würde. Ich habe so viele Ehefrauen und Mütter gesehen, die ihre verwundeten Männer und Söhne pflegen mussten, die Strapazen und die Armut, und nur zu oft ließen diese Männer ihre Verbitterung an ihnen aus. Hat sich Jimmy auch an dir abreagiert?«
Aus Loyalität zu Jimmy hätte Belle es gern geleugnet, doch ihr war klar, dass Noah es Etienne gegenüber erwähnt haben könnte. »Manchmal. Sagen wir einfach, er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte.«
Beide schwiegen eine Weile.
Etienne brach das Schweigen. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir über uns und unsere Zukunft reden«, meinte er und ließ seine Hand verführerisch über ihr nacktes Bein gleiten.
»Du sagtest ›reden‹. Das ist etwas anderes«, tadelte sie ihn. »Womit willst du hier deinen Lebensunterhalt verdienen? Die Möglichkeiten sind ziemlich begrenzt.«
»Nur für einen Mann ohne Vorstellungskraft«, entgegnete er grinsend. »Ob fischen oder einen Bauernhof führen, ich kann einiges, und ich habe auch ein bisschen Geld. Ich meinte eigentlich, wann wir heiraten und wo wir wohnen sollen. Aber gehen wir doch ins Bett und unterhalten uns in aller Ruhe darüber!«
Bei Tagesanbruch wachte Belle auf. Etienne schlief tief und fest, eng an ihren Rücken geschmiegt, einen Arm um sie gelegt. Sie hatten sich die ganze Nacht hindurch geliebt, und Belle errötete tief, wenn sie an einige der erotischen Dinge dachte, die er mit ihr angestellt hatte. Sie hatte immer geglaubt, mehr über Männer und Sex zu wissen als andere Frauen, aber sie hatte sich geirrt. Die Liebe erhob Sex über die rein mechanischen Tricks hinaus, die sie in ihrem früheren Leben gelernt hatte, und verwandelte ihn in etwas unglaublich Schönes. Serge, der erfahrene Liebhaber, der in New Orleans angeheuert worden war, um sie in die Kunst der körperlichen Liebe einzuführen, hatte mit seinem Können ihre Sinnlichkeit geweckt. Doch obwohl es eine erregende und befriedigende Erfahrung gewesen war, war es ohne Liebe nichtssagend und leer. Jimmy hatte ihr alles, was er besaß, an Liebe geschenkt und war vor dem Krieg ein enthusiastischer Liebhaber gewesen. Aber trotz ihrer Ermutigung, jede Scheu abzulegen, war er stets ein wenig gehemmt gewesen.
Etienne kannte derartige Hemmungen nicht. Er war heißblütig und verstand etwas von Frauen, war grob, wenn es angebracht war, und dann wieder sanft. Er hatte sie auf einem fliegenden Teppich ins Reich der Sinne und der Leidenschaft entführt, doch es waren die zärtlichen Momente, wenn er nur daran dachte, sie glücklich zu machen, die an etwas tief in ihrem Inneren rührten und sie zum Weinen brachten. Trotz all ihrer Erfahrungen hatte Belle noch nie so empfunden.
Jetzt war sie wund von der langen Liebesnacht, genau wie damals in Frankreich, aber es war ein gutes Gefühl. Vorsichtig, um Etienne nicht zu wecken, glitt sie unter seinem Arm hervor, schlüpfte in ihr Hemd und stahl sich aus dem Schlafzimmer.
Im Ofen glommen immer noch Holzscheite, und sie legte ein paar nach, bevor sie auf die Veranda hinaustrat. Am Horizont ging gerade die Sonne auf und warf goldene Strahlen durch den noch grauen Wolkenhimmel. Belles Kehle war wie zugeschnürt angesichts der Schönheit der Bucht mit dem gold gefleckten, silberblauen Wasser und dem Dunkelgrün der Bäume im Hintergrund.
Die Unberührtheit der Umgebung schien ihr zu sagen, dass das der Ort war, an den Etienne und sie gehörten. Schon bald nach ihrer Ankunft in Neuseeland hatte sie das Gefühl gehabt, dass es ein Land war, in dem Menschen mit Kraft, Entschlossenheit, Mut und Fantasie willkommen waren. Jetzt, mit Etienne an ihrer Seite, war sie davon überzeugt, dass ihr nichts unmöglich war, nicht einmal, sein Kind zur Welt zu bringen.
Als sie den Kopf wandte, sah sie, dass er hinter ihr stand, nur mit einem Handtuch bekleidet, das er um die Hüften geschlungen hatte. Sein Haar war zerzaust, und ein Bartschatten zeigte sich auf seinen Wangen. Die Narben auf Schulter und Oberschenkel würden eine ständige Erinnerung an die Gräuel des Kriegs bleiben, so wie die dünne Narbe auf seiner Wange von seiner weniger ehrenhaften Vergangenheit zeugte.
Auch Belle trug Narben, selbst wenn sie nicht zu sehen waren. Zwei versehrte Menschen, die gemeinsam alles erreichen konnten.
Er stellte sich an das Geländer, legte einen Arm um sie und betrachtete die Aussicht. Die Sonne war höher gestiegen, und ein hauchzarter, langer weißer Wolkenstreifen lag über der Bucht.
»Ich liebe die frühen Morgenstunden«, sagte er. »Sogar in Verdun waren sie manchmal schön und machten uns Hoffnung, dass der Tag, der vor uns lag, besser als der vorige werden würde. Aber wenn ich all das hier sehe, weiß ich, dass Gott mit uns ist.«
Belle lächelte. Seine Worte wirkten wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken. »Und was unternehmen wir heute?«
»Spazieren gehen, die Umgebung erkunden, überlegen, wie wir hier ein Vermögen machen können. Überprüfen, ob sich der Boden für den Anbau von Weintrauben eignet. Fisch fürs Abendessen kaufen.«
»Du hast einmal zu mir gesagt, eines Tages würden wir zusammen sein, und du hast recht behalten. Vielleicht ist mit dir alles möglich.«
»Fisch zum Abendessen auf jeden Fall«, sagte er und zeigte auf ein Fischerboot in der Bucht. »Aber mit dem Weinanbau und dem Vermögen dauert es vielleicht ein bisschen länger.«
sponsored by www.boox.to