KAPITEL 30
Die Arbeiten am Haus machten raschere Fortschritte, seit Belle und Mog eingezogen waren und den Männern auf die Finger schauten. Der Herd traf ein und wurde von einem Fachmann, der auf der anderen Seite der Bucht in Paihia lebte, ordnungsgemäß an den Kamin angeschlossen. Er baute nicht nur einen Behälter zum Aufbewahren von erwärmtem Wasser ein, sondern leitete auch ein Rohr draußen von der Wasserleitung in die neue Spüle in der Küche und ein anderes für das Abwasser in die Senkgrube. »Ich komme gern wieder, wenn Sie das Haus erweitern, und baue ein Bad an«, sagte er.
Die Veranda wurde aus Kauriholz gefertigt, das Geländer weiß gestrichen. In der Küche standen Schränke und eine Kommode, und der Schornstein war gründlich gekehrt worden, sodass sie ein Feuer anzünden konnten, wenn es kalt wurde. Aber sie warteten immer noch auf die Tapeten, die sie in Auckland für die unteren Räume bestellt hatten, und auf Mogs Möbel aus England.
Die erhoffte Ankunft der Tapeten bewog Belle, zur Anlegestelle zu gehen, als die Clansman erwartet wurde. Die meisten Leute gingen jede Woche zum Hafen, wenn das Schiff kam, nicht unbedingt, weil sie bestellte Waren in Empfang nehmen oder jemanden abholen wollten, sondern weil das Schiff eine Verbindung zur Außenwelt darstellte.
An jenem Tag regnete es allerdings stark, und nicht einmal Peggy ließ sich blicken. Belle trug einen langen schwarzen wasserfesten Mantel, den sie in der Gemischtwarenhandlung gekauft hatte, einen Südwester und Gummistiefel, weil sich die unbefestigten Straßen in einen Sumpf verwandelt hatten.
Die Bucht gefiel ihr bei jedem Wetter, und als sie jetzt auf dem Landesteg stand und auf das kabbelige Wasser blickte, das genauso bleigrau wie der Himmel über ihr war, empfand sie den Anblick als ein Bild von dramatischer Schönheit. Der Regen wirkte wie ein zarter Vorhang, durch den man nur wenige Hundert Meter weit sehen konnte. Belle konnte zwar die Maschinen der Clansman hören, das Schiff selbst aber noch nicht erkennen.
Es war anzunehmen, dass andere Leute im Ort, für die Waren auf dem Schiff waren, auf dieses Geräusch horchten. Wahrscheinlich warteten sie, bis die Clansman anlegte, bevor sie kamen, um ihre Päckchen abzuholen. Vielleicht ließen sie es wegen des Regens auch sein, schließlich würden alle Waren im Lagerhaus verwahrt werden und konnten später am Tag oder auch erst am folgenden Vormittag abgeholt werden. Mog hatte vorgeschlagen, ihr Paket ebenfalls dort zu lassen, weil die Tapeten schwer waren und nicht sofort gebraucht wurden.
Aber aus irgendeinem Grund hatte Belle das Gefühl gehabt, herkommen zu müssen.
Die Maschinen der Clansman wurden lauter. Belle spähte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und glaubte, hinter dem Regenschleier einen dunklen Umriss zu erkennen. Dann war das Schiff plötzlich mit dampfenden Schloten da, und sie konnte sogar Mitglieder der Crew sehen, die an Deck alles fürs Anlegen vorbereiteten.
Sie lächelte, denn sie musste daran denken, wie Mog und sie auf der Fahrt von Auckland fast die ganze Zeit an der Reling gestanden hatten. Sie hatten beobachtet, wie sich die Wogen mit den weißen Schaumkronen vor dem Bug teilten, und über sich selbst lachen müssen, weil sie so fasziniert davon waren, obwohl sie erst vor Kurzem eine lange Seereise unternommen hatten, doch sie hatten einfach nicht anders gekonnt. Sie hatten jeden Zentimeter der Küste dieses neuen Landes sehen wollen, in das sie gekommen waren.
Die Maschinen verstummten, und das Schiff glitt unter den erfahrenen Händen von Captain Farquahar an den Landesteg. Ein Crewmitglied sprang leichtfüßig und trittfest wie ein Reh an Land, um den Männern, die hier bereitstanden, dabei zu helfen, das Schiff das letzte kurze Stück zu ziehen und zu vertäuen.
Auch jetzt machten die Passagiere keine Anstalten, dem Regen zu trotzen. Bis auf einen Mann in langem Regenmantel und Hut scharten sich alle unter dem spärlichen Schutz des Vorschiffs zusammen. Er stand allein an der Reling, einen kleinen Koffer in der Hand.
Der Mann sah Belle direkt an, und sie wünschte, sie könnte ihn besser erkennen, weil sie dachte, es wäre ein flüchtiger Bekannter aus dem Ort. Aber der Regen peitschte ihr ins Gesicht, und sie sah alles nur verschwommen.
Die Gangway wurde heruntergelassen und gesichert, und auf einmal hatten die Leute es eilig, von Bord zu kommen. Belle fiel ein, dass es eine ganze Weile, vielleicht über eine Stunde, dauern könnte, bevor ihre Kiste mit Tapetenrollen ausgeladen wurde. Sie spürte, wie ihre Sachen unter dem Mantel feucht wurden, möglicherweise weil Wasser von ihrem Südwester in den Kragen tropfte oder durch die Schulternähte drang, und ihr war kalt. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, wieder nach Hause zu gehen.
Mr. und Mrs. Brewster, die sie wie viele andere an ihrem ersten Abend in Russell kennengelernt hatte, hasteten über den Landesteg, wobei Mr. Brewster versuchte, einen Regenschirm über sich und seine Frau zu halten.
»Holen Sie jemanden ab, Mrs. Reilly?«, rief er ihr zu.
»Nein, nur ein Päckchen«, sagte sie. Dann erinnerte sie sich, dass Peggy ihr erzählt hatte, dass die beiden vor zwei Wochen nach Auckland gefahren waren, weil ihr erstes Enkelkind zur Welt kommen sollte. »Was ist es denn, Junge oder Mädchen?«, fragte sie.
»Ein prächtiger, gesunder Junge«, antwortete Mrs. Brewster. »Mutter und Kind sind wohlauf, aber wir sind froh, wieder daheim zu sein.«
Sie eilten weiter, und auch andere Leute liefen an ihr vorbei. Belle lächelte einige an, die sie vom Sehen kannte, manche jedoch waren ihr völlig unbekannt. Weiter unten auf dem Landesteg waren die Crew und Angestellte der Reederei damit beschäftigt, Kisten mit Küken auszuladen, und was eben noch ein stiller und verlassener Ort gewesen war, wirkte jetzt wie ein einziger Ameisenhaufen.
Jetzt kam der Mann mit Hut den Steg herunter, und seine aufrechte Haltung und sein geschmeidiger Gang erinnerten Belle so sehr an Etienne, dass ihre Brust plötzlich wie zugeschnürt war.
Sie schob ihren Südwester ein wenig zurück und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. Der Mann blieb stehen, sah sie an, hob kurz seinen Hut und lächelte.
Es war eine ganz normale höfliche Geste, doch sie kannte nur einen, der dieses Lächeln hatte.
»Etienne?«, hauchte sie.
»Belle«, sagte er und ging jetzt schneller. Als er seinen Hut abnahm, sah sie das helle Haar, das sie so gut kannte, die kantigen Wangenknochen und die blauen Augen.
Spielte ihr Verstand ihr einen Streich? Etienne war tot! Er konnte es nicht sein! Aber er war genauso real wie sie selbst, als er jetzt auf sie zukam.
In diesem Moment verstand sie, warum die Frauen in Liebesgeschichten vor Schreck in Ohnmacht fielen, auch wenn sie früher darüber gelacht hatte. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie dachte, es würde bersten. Es war wirklich Etienne!
»Ich habe mir ausgemalt, dich bei Sonnenschein zu treffen, in deinem schönsten Kleid«, bemerkte er mit jenem französischen Akzent, der sich ihrem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatte. »Nicht bei strömendem Regen und in einem Wettermantel und so blass, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen.«
»So fühle ich mich auch«, gestand sie mit zittriger Stimme. »Man hat mir gesagt, du wärst in Frankreich gefallen.«
»Dann hat Noah dir nicht erzählt, dass er mir nachgespürt hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast nicht hier auf mich gewartet?«
»Nein, ich wollte bloß ein Paket abholen.«
Immer noch strömten Menschen links und rechts an ihnen vorbei, immer noch fiel Regen vom Himmel. Belle hob ihre Hand und legte sie an Etiennes Wange. Sie war kalt und ein bisschen stoppelig, doch als Belle ihn berührte, wusste sie, dass sie nicht träumte.
Er nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. »Ich habe dir einmal gesagt, dass ich Feuer, Wasser und jeder Gefahr trotzen würde, um bei dir zu sein«, erinnerte er sie mit schwankender Stimme. »Sag mir bitte gleich, ob du einen anderen hast oder ob sich an deinen Gefühlen für mich etwas geändert hat, dann gehe ich zurück aufs Schiff und fahre sofort wieder ab.«
Nichts in ihrem Leben hatte sie je so sehr berührt wie seine Worte. Es gab so vieles, was sie ihn fragen wollte, aber gleichzeitig war das Einzige, worauf es wirklich ankam, dass er lebte und um die halbe Welt gereist war, um sie zu finden.
Sie zog seine Hand an ihre Lippen und küsste sie. »Es gibt keinen anderen. Du hast damals in Frankreich mein Herz gestohlen und besitzt es immer noch. Doch wir können nicht hier im Regen stehen bleiben. Komm zu mir nach Hause! Wir reden im Gehen.«
»Als Noah mich im Februar aufspürte, hattest du England gerade verlassen«, berichtete er, als sie den Uferpfad entlangwanderten. »Ich dachte, er hätte es dir geschrieben, aber da das offensichtlich nicht der Fall ist, erkläre ich dir besser alles. Ich bin zu der Zeit, als Jimmy verwundet wurde, nicht ums Leben gekommen. Anscheinend dachte sein Freund, der ihm das später schrieb, dass die Franzosen nur Tote mit Orden dekorieren. Ich war noch sehr lebendig. Noah erfuhr davon – kurz vor Weihnachten, soweit ich weiß –, bekam jedoch ein paar Tage später einen Brief, in dem stand, dass ich als vermisst, vermutlich gefallen gemeldet worden sei.«
»Warum hat er mir das nicht gesagt?« Belle schüttelte verwirrt den Kopf. »Mog und ich waren Weihnachten bei ihm.«
»Ja, das hat er mir berichtet. Anscheinend waren Lisette und er der Meinung, dass es keinen Sinn hatte, dir Hoffnungen zu machen, wenn sich später erweisen könnte, dass ich tatsächlich tot war. Deshalb wollten sie erst eine Bestätigung haben. Lisette dachte, dass ich vielleicht gefangen genommen worden wäre.«
»Und war es so?«
»Nein. Ich bin bei Passchendaele verwundet worden. Es kommt einfach zu Fehlern, wenn ein Soldat nicht von den Sanitätern seines eigenen Regiments zu den Verbandstationen gebracht wird. Anscheinend wurde ich von Kanadiern aufgelesen, die mir meine Uniform auszogen, weil sie so verdreckt war; meine persönlichen Sachen gingen verloren, und mein Regiment wurde nicht informiert, weil man mich für einen Frankokanadier hielt.«
»Das ist ja schrecklich! Konntest du ihnen nicht sagen, wer du bist?«
»Dort ging es drunter und drüber.« Etienne zuckte mit den Schultern. »Jede Menge Schwerverwundete, zu wenig Ärzte und Krankenschwestern … Außerdem hatte ich keine Ahnung, für wen sie mich hielten. Mir war bloß wichtig, dass ich es wieder warm und trocken hatte und in einem Bett lag. Aber trotzdem wäre meine Identität bald festgestellt worden, wenn ich nicht die Grippe bekommen hätte. Ich kam im Lazarett auf die Quarantänestation und war tagelange ohne Bewusstsein.«
»Doch du hast überlebt! Es ist wie ein Wunder!«
Er lachte. »Ja, das habe ich mir auch gedacht! Nach der Grippe war ich sehr geschwächt und fuhr nach Hause nach Marseille, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich hatte den Militärarzt gebeten, mein Regiment zu informieren, aber offenbar ist dabei einiges schiefgegangen. Der Krieg war vorbei, in Frankreich herrschte Chaos, Hunderte Männer wurden vermisst. Ich wohnte bei Freunden, nicht auf meinem Hof, und aus all diesen Gründen bekam Noah nicht heraus, ob ich tot oder lebendig war.«
»Wie ist er überhaupt darauf gekommen, dass du noch leben könntest?«
»Du hast ihm erzählt, dass ich ihn als nächsten Angehörigen angeben wollte. Bei jeder Armee lässt man nichts unversucht, um Angehörige zu verständigen, falls jemand tot ist oder vermisst wird. Das wusste Noah. Dass er nicht über meinen Tod informiert wurde, hat ihn stutzig gemacht. Aber, wie gesagt, er hat dir nichts erzählt, weil er keine falschen Hoffnungen in dir wecken wollte.«
»Ich verstehe nicht, warum er mir nicht wenigstens telegrafiert oder geschrieben hat, als er erfuhr, dass du noch lebst. Wir haben schon einen Brief von ihm bekommen, seit wir hier wohnen.«
Etienne wandte sich zu ihr um und streichelte ihre Wange. »Ich hätte eigentlich auch erwartet, dass er dich darüber aufklärt.« Er zwinkerte ihr zu. »Vielleicht fand Lisette es auf diese Art romantischer. Oder Noah dachte, es könnte Probleme mit Mog geben. Er hat mir erzählt, dass sie Jimmy sehr gernhatte.«
»Das stimmt, und es wird nicht leicht sein, ihr zu erklären, warum du gekommen bist.«
»Du könntest ihr sagen, dass das Paket, das ihr erwartet, nicht eingetroffen ist und du stattdessen mich genommen hast.«
Belle lachte. »In dem Paket sind Tapeten. Wahrscheinlich würde sie erwidern, dass es nicht viel bringt, dich an die Wand zu kleben.«
Etienne grinste. »Dann muss ich wohl meinen ganzen Charme spielen lassen.« Er schwieg einen Moment und machte ein besorgtes Gesicht. »Ich wollte dich einfach nur finden und habe nicht darüber hinaus gedacht, Belle. Aber jetzt bin ich hier, und du konntest Mog nicht vorbereiten. Wir müssen ihre Gefühle schonen.«
Daran hatte Belle in dem Schock über sein Erscheinen gar nicht gedacht. Auf einmal hatte sie Angst. Wie würde Mog reagieren, wenn Belle ihr einen Fremden ins Haus brachte? Sie hatten nicht einmal ein Gästezimmer.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich in ein Hotel gehe«, sagte er. »Gibt es hier eins?«
»Der Duke of Marlborough ist gleich da drüben.« Belle zeigte auf das Gasthaus, das nur wenige Meter entfernt war. »Wenn dort ein Zimmer frei ist, ist das vielleicht die beste Lösung. Frag schnell nach – ich kann nicht mitkommen, weil Frauen in Neuseeland nicht in Pubs dürfen. Doch ich warte hier auf dich.«
Etienne betrat das Gasthaus, und Belle ging ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen. Ihr Herz hämmerte, und ihr war ein bisschen übel vor Aufregung, aber innerlich jubilierte sie.
Er war am Leben und um die halbe Welt gefahren, um bei ihr zu sein! Sie hätte ihr Glück am liebsten laut herausgeschrien.
Doch sie konnte Etienne keinen großartigen Empfang bereiten, so gern sie es auch getan hätte. Mog war nicht dumm. Was Etienne und sie auch behaupten mochten, Mog würde sofort durchschauen, dass kein Mann jemals eine so weite Reise unternehmen würde, um eine Frau zu sehen, es sei denn, er liebte sie. Sie würde fragen und fragen, bis Belle die volle Wahrheit gestand, und auch wenn Etienne Jimmy das Leben gerettet hatte, würde Mog vermutlich aus Loyalität gegenüber der Familie gegen ihn Partei ergreifen.
Etienne kam kurz darauf wieder. Er hatte ein Zimmer bekommen. »Wenn es dir lieber ist, heute Abend unter vier Augen mit Mog zu sprechen, kann ich gleich hierbleiben und dich morgen treffen.«
Belle dachte kurz nach. »Nein, das würde noch verdächtiger wirken«, erwiderte sie schließlich. »Niemand in dieser Stadt würde einen alten Freund am ersten Abend allein lassen. Und genau das bist du, Etienne, ein alter und sehr guter Freund.«
Er seufzte. »Ich bin sicher, deine Mog wird uns ansehen, dass wir mehr als nur Freunde sind.«
»Vielleicht, doch es gibt vieles, wofür sie dir dankbar sein muss, immerhin hast du mich in Paris befreit und Jimmy gerettet. Versprich mir bloß eins: Gib nicht zu, dass wir in Frankreich eine Nacht miteinander verbracht haben, egal, wie hartnäckig sie nachhakt! Wir erzählen ihr, dass du mich im Lazarett besucht hast, mehr jedoch nicht.«
Als Belle später am Abend, nachdem Etienne ins Hotel zurückgekehrt war, zu Bett ging, dachte sie bei sich, dass das Treffen sehr gut verlaufen war.
Mog war sehr erstaunt gewesen, den Mann auf einmal vor sich zu sehen, von dem sie so viel gehört hatte und der als tot galt. Ein paar Sekunden starrte sie ihn fassungslos an, aber sie erholte sich schnell und fing an, ihn mit Fragen zu bestürmen. Warum hatte er nicht vorher geschrieben? War es nicht seltsam, aus einer Laune heraus den weiten Weg auf sich zu nehmen? Hatte er vor, in Neuseeland zu bleiben? Und warum hatte man ihn für tot erklärt?
Etienne beantwortete ihre Fragen mit mildem Charme. Er sagte, dass er verwundet worden war und dann die Grippe gehabt hatte, und erklärte, warum Noah an seinem Tod gezweifelt hatte.
»Noah und ich waren in Verbindung geblieben, nachdem Belle zu Ihnen zurückgekehrt war«, sagte er. »Von ihm habe ich erfahren, dass Sie alle nach Blackheath gezogen sind und Belle Jimmy geheiratet hatte. Es war ein unglaublicher Zufall, dass Jimmy mir in Frankreich über den Weg lief. Einiges, was er sagte, verriet mir, wer er war, und wenn wir allein gewesen wären, hätte ich mich ihm auch zu erkennen gegeben, doch ein solches Gespräch war im Beisein anderer nicht möglich.«
»Höchst eigenartig, dass Sie zufällig in der Nähe waren, als er in die Luft gejagt wurde«, bemerkte Mog scharf.
Er beachtete ihren sarkastischen Unterton nicht. »Eigentlich nicht. Die Franzosen haben oft Seite an Seite mit den Briten gekämpft. Das hat Jimmy Ihnen sicher erzählt. Ich glaubte, ihn am Vorabend aus der Ferne gesehen zu haben; vielleicht hielt ich deshalb unbewusst nach ihm Ausschau. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Doch ich denke, Sie haben gehört, wie die Wetterbedingungen an diesem Tag waren – strömender Regen und so dichter Nebel, dass man nur ein paar Meter weit sehen konnte. Briten und Franzosen gerieten bei der Offensive durcheinander, weil wir riesige Bombentrichter umgehen mussten. An diesem Tag habe ich bestimmt hundert Männer gesehen, die getötet oder verwundet wurden, Engländer wie Franzosen. Aber als dieser Mann ganz in meiner Nähe getroffen wurde und sein Helm herunterfiel, erkannte ich, dass es Jimmy war, und half ihm.«
»Warum?«, fragte sie. »Jimmy hat uns erzählt, dass es untersagt war, Verwundeten zu helfen.«
»Wegen Belle natürlich«, erwiderte er schulterzuckend. »Wenn Sanitäter mit Tragen in der Nähe gewesen wären, hätte ich sie gerufen. Aber bei so schwerem Beschuss war es ihnen unmöglich, zu uns zu gelangen, und ich konnte ihn nicht in diesem überfluteten Granattrichter ertrinken lassen.«
Danach wurde Mog richtig warm mit Etienne. Sie stellte den Lammeintopf auf den Tisch, den sie zum Abendessen zubereitet hatte, und erzählte Etienne, wie sie mit Jimmys Behinderung und schließlich mit seinem und Garths Tod fertigwerden mussten.
Die Art, wie Mog Etienne behandelte, beruhigte Belle: Mog fand offenbar nichts verdächtig daran, dass er, ein alter Freund, hier bei ihnen auftauchte. Mog vertraute voll und ganz auf Noahs Urteilsvermögen, und da er das alles in die Wege geleitet hatte, war Etienne ihr willkommen.
Später redeten sie über das Haus und die Pläne, die sie und Belle hatten. Die einzige Frage, die Mog ihm noch stellte, war, warum er ausgerechnet nach Neuseeland gekommen war.
»Aus demselben Grund wie Sie«, antwortete Etienne mit seinem typisch französischen Schulterzucken. »Mein Hof hat unter meiner Abwesenheit gelitten, und auch in Frankreich herrschen Trauer und Zorn. Wir haben noch höhere Verluste zu verzeichnen als die Briten. Ich hatte ohnehin schon daran gedacht, irgendwo neu anzufangen. Als sich dann Noah bei mir meldete und mir erzählte, was Ihnen zugestoßen war und dass Sie hierher ausgewandert sind, schien mir Neuseeland eine gute Wahl zu sein. Das Klima auf der Nordinsel ist so ähnlich wie in Frankreich; ich könnte hier einen Bauernhof führen oder fischen. Und wo sollte ich sonst hingehen, wenn nicht an einen Ort, an dem eine alte Freundin lebt?«
Kurz darauf verabschiedete sich Etienne, und als Belle ihn zur Tür brachte, zog er sie mit sich nach draußen und küsste sie. Es war genauso wie damals, als er sie im Lazarett geküsst hatte – als loderte in ihrem Inneren eine Flamme auf. In diesem Moment wusste Belle, dass es schwerer als alles andere sein würde, ihre Gefühle für ihn zu verbergen. Sie beide würden es nicht schaffen, die zartfühlende, keusche Werbung durchzuhalten, die bei einer frisch verwitweten Frau erwartet wurde. Sie wollte ihn jetzt, wollte nackt in seinen Armen liegen und vor Lust vergehen.
»Morgen lassen wir uns etwas einfallen, wie wir uns allein sehen können«, murmelte er an ihrem Nacken. »Ich liebe dich, Belle, und zusammen werden wir alle Hindernisse überwinden.«
Sie ging hinein und lehnte sich an die geschlossene Tür, um sich zu sammeln, bevor sie sich Mogs unvermeidlichen Fragen stellen musste.
Es gab keine echten Hindernisse. Sie waren beide frei und ungebunden, auch wenn diese prüden Ideale von Witwenschaft existierten, auf die andere so viel Wert legten. Belle war es im Grunde egal, ob die Leute in ihr ein leichtfertiges Ding sahen, das sich, obwohl erst seit Kurzem verwitwet, mit einem Franzosen einließ. Aber sie wollte nicht, dass ihr Verhalten auf Mog zurückfiel und ihr schadete.
»Er ist nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte«, sagte Mog, als sie zu Bett gingen.
»Wie hattest du ihn dir denn vorgestellt?«
»Unterschicht«, antwortete Mog. »Mit dem Aussehen eines Schurken!«
Belle gluckste. »Ein bisschen verwegen sieht er ja wirklich aus. Ich hatte eine Todesangst vor ihm, als ich ihn in Brest zum ersten Mal sah.«
»Ich hätte ihn nicht gern zum Feind«, gab Mog zu. »Doch er hat auch eine sanfte, sehr gewinnende Seite.«
Belle freute sich, dass Mog dieser Meinung war, und legte sich zu ihr ins Bett.
Sie löschten das Licht, und Mog schwieg. Sie schien angestrengt nachzudenken.
»Hast du in Paris eine Affäre mit ihm gehabt?«
Die Frage war in dem dunklen Raum fast greifbar.
Mog meinte die Zeit, nachdem Etienne sie vor Pascal gerettet hatte, nicht voriges Jahr in Frankreich, erkannte Belle. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie ehrlich.
»Aber du warst in ihn verliebt?«
Die Versuchung, es zu bestreiten, war groß, vor allem im Dunkeln, wo ihr Gesicht sie nicht verraten konnte. Doch Mog hatte es nicht verdient, belogen zu werden.
»Ja«, gestand sie. »Aber er hat mir nie gesagt, dass er meine Gefühle erwidert, und das war’s dann.«
»Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmte, als du damals nach Hause gekommen bist. Du hast nicht viel über ihn geredet, doch ich hatte so ein unbestimmtes Gefühl. Warum hast du Jimmy geheiratet?«
»Weil ich ihn geliebt habe und weil wir füreinander geschaffen waren.«
»Aber du hast Etienne wiedergesehen, letztes Jahr im Lazarett, nicht wahr?«
»Ja, er kam mich nach Mirandas Tod besuchen. Er hatte sie und ihren amerikanischen Verlobten kennengelernt.«
»Und du hast dich wieder in ihn verliebt?«
»Nein, es war nur ein freundschaftlicher Besuch, mehr nicht.«
Eine Weile herrschte Schweigen, und Belle hoffte, dass Mog die Fragen ausgegangen wären.
»Mir machst du nichts vor«, erklang die Stimme, die Belle in ihrer Kindheit so oft zurechtgewiesen hatte, aus der Dunkelheit. »Vergiss nicht, dass ich einen Großteil meines Lebens in einem Bordell gearbeitet habe! Ich habe Hunderte Männer in ihren schlimmsten Momenten erlebt und hin und wieder in ihren besten. Ich habe gelernt, in ihren Gesichtern zu lesen. Allein die Art, wie ein Mann geht, verrät mir Dinge, von denen die meisten Frauen keine Ahnung haben. Und ich weiß, dass Etienne dich liebt. Und er hatte etwas mit dir. Ich habe es in seinen Augen gesehen.«
Belle lag wie erstarrt da. Mog hatte nie als Prostituierte gearbeitet, sie war in Annies Bordell nur das Hausmädchen gewesen. Nie hätte sie gedacht, dass diese Frau, die sich ein Leben lang um sie gekümmert hatte, als wäre sie ihr eigenes Kind, nur durch Beobachtungen ein derartiges Wissen erlangen könnte.
»Und jetzt erzähl mir, wann es passiert ist! Ich schätze mal, kurz nach Mirandas Tod.«
Mog hatte oft den Ausspruch zitiert: »Irgendwann holen uns unsere Sünden ein«, und Belle wusste, dass dieser Moment nun für sie gekommen war.
»Ja«, flüsterte sie. »Nur eine Nacht, dann musste er an die Front zurück. Ich hätte es nicht tun sollen. Der Himmel weiß, welche Schuldgefühle ich nachher hatte.«
»Dann wurde Jimmy verwundet, und ihr seid nach Hause zurückgekehrt.«
»Ja.«
Belle wartete auf ein aufgebrachtes »Wie konntest du nur!«, gefolgt von einer Aufzählung von Jimmys Tugenden.
Aber die erwartete Strafpredigt blieb aus. Mog drehte sich zu Belle um und legte einen Arm um sie. »Ich habe damals gleich gewusst, dass irgendetwas nicht stimmt. In deinen Augen lag ein Leid, das sich nicht nur mit Jimmys Verletzungen erklären ließ. Als er dann nach Hause kam, fiel mir auf, wie gebrochen du gewirkt hast, wenn er mal wieder auf dir herumgehackt hat. Ich nehme an, du hast gedacht, du hättest es verdient?«
Belle fing an zu weinen. »Bevor ich Frankreich verließ, habe ich Etienne geschrieben, dass ich ihn nie wiedersehen kann und er nicht versuchen darf, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich habe mich bemüht, Jimmy glücklich zu machen, doch ich konnte es nicht.«
»Niemand kann einen anderen glücklich machen, dafür ist jeder Mensch selbst verantwortlich«, meinte Mog. »Ich habe es gehasst, wie er dich behandelt hat, und das habe ich ihm auch gesagt, immer wieder. Doch er saß in seiner ganz persönlichen Hölle fest, und ich glaube, er hatte die Fähigkeit verloren, etwas für andere zu empfinden.«
»Aber das entschuldigt nicht, dass ich ihm untreu war. Damals war er noch gesund und unversehrt.«
»Hättest du ihn verlassen, wenn er nicht verwundet worden wäre?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe daran gedacht, bis zum Ende des Krieges zu warten und ihm dann zu sagen, dass ich Etienne liebe. Doch ich habe mich nach wie vor an den Schwur »… bis dass der Tod uns scheidet« gebunden gefühlt, und ich bezweifle, dass ich es übers Herz gebracht hätte, Jimmy so wehzutun. Weißt du, trotz meiner Gefühle für Etienne habe ich nie aufgehört, ihn zu lieben.«
»Und an dem Tag, als Jimmy den Brief bekam, in dem stand, dass Etienne ihn gerettet hat und dass er tot ist, wie war dir da zumute?«
»Als wäre mir das Herz aus der Brust gerissen worden«, gab Belle leise zu.
Mogs Arm schloss sich fester um sie. »Mein armer Liebling! Ich wünschte, du hättest mir das alles erzählt.«
»Du bist nicht böse auf mich? Du findest nicht, dass mir recht geschehen ist?«
»Wer bin ich, um über dich zu urteilen?«, fragte Mog zurück. »Ich denke, wenn du mir das alles erzählt hättest, nachdem du aus Frankreich zurück warst, hätte ich dich wüst beschimpft. Ich hatte Jimmy lieb, er war wie ein Sohn für mich. Aber tief im Inneren weiß ich, dass Garth und ich dich gedrängt haben, ihn zu heiraten. Ich habe mir für dich so sehr einen guten, anständigen Mann gewünscht, der dich anbetet, dass ich die kleine Stimme ignoriert habe, die mir zuflüsterte, dass ihr nicht ganz und gar perfekt zusammenpasst. Ich habe mir eingeredet, dich einfach in die richtige Richtung zu lenken. Und weil ihr glücklich wart, bevor du das Baby verloren hast, habe ich wirklich geglaubt, ich hätte das Richtige getan.
Aber als ich heute Abend gesehen habe, wie du und Etienne euch anschaut, wie eure Augen dabei leuchten, konnte ich die Leidenschaft in euch beiden fühlen. Du und Jimmy, ihr habt bestimmt eine gute Ehe geführt, doch so wie zwischen Etienne und dir war es nie. Ich glaube, dass dieser Franzose dein Schicksal ist.«
»Du hast so ein großes Herz«, seufzte Belle. »Ich hatte solche Angst, dass du dich für mich schämen würdest.«
»Wie könnte ich mich für eine Frau schämen, die ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt, um richtig an ihrem Mann zu handeln? Ich habe ein paar von den hässlichen Sachen gehört, die er zu dir gesagt hat, Belle. Doch du hast zu ihm gehalten und ihn bis zum Ende aufopfernd gepflegt. Das ist es, was zählt.«
»Und was mache ich jetzt?«
Mog lachte leise. »Ich weiß, was ich machen würde – gleich morgen mit ihm mit der Fähre nach Paihia fahren und irgendein verborgenes Plätzchen suchen, wo ihr bleiben könnt, bis ihr euch um den Verstand gevögelt habt.«
»Mog!«, keuchte Belle.
»So war es bei Garth und mir. Wir sind in den Flitterwochen kaum aus dem Hotelzimmer gekommen. Natürlich zäumst du das Pferd gewissermaßen von hinten auf – erst die Flitterwochen, dann die Heirat. Aber die holt ihr dann nach.«
»Was willst du den Leuten sagen, wo ich bin, und wie willst du Etiennes Anwesenheit erklären?«
»Ich lass mir was einfallen. Und jetzt trockne deine Tränen und schlaf! Du musst morgen früh aufstehen, um deine Haare zu waschen, zu baden und dich für ihn schön zu machen.«