KAPITEL 14

Ein feuchter, grauer Morgen begrüßte sie, als sie aufwachten und Sally sie den anderen drei Mädchen vorstellte, Maud Smith, Honor Wilkins und Vera Reid. »Maud und ich sind in Cheltenham zusammen zur Schule gegangen«, sagte sie. »Honor kommt aus Sussex, Vera aus Neuseeland. Wir sind die einzigen weiblichen Fahrer hier und werden von den Männern oft aufgezogen, aber wir halten zusammen und stehen einfach darüber.«

Sally, Maud und Honor waren alle drei vom gleichen Schlag, um die dreißig, unscheinbar und mollig. Sie erinnerten Belle an Lehrerinnen. Sie wirkten vernünftig und gutmütig, aber höchstwahrscheinlich waren sie keine besonders anregende Gesellschaft.

Vera hingegen sah pfiffiger aus. Sie war jünger und hatte ein sommersprossiges, offenes Gesicht, hellblaue Augen und ein breites, warmes Lächeln. »Meine einzige Entschuldigung, warum ich hier bin, ist, dass ich anscheinend verrückt bin«, sagte sie. »Na ja, so kommt es mir jedenfalls meistens vor.«

Für weitere Gespräche blieb keine Zeit. Sally reichte Belle und Miranda jeweils einen khakifarbenen Kittel, den sie über ihren Kleidern tragen sollten, und empfahl ihnen, ihre Röcke ein paar Zentimeter zu kürzen, damit sie sie nicht durch den Schlamm schleiften. Dann gingen sie, das Haar unter eine khakifarbene Schirmmütze gestopft, in die Kantine frühstücken – Brot mit ein paar Scheiben fetten Specks und ein Becher Tee – und von dort zu Captain Taylor vom RAMC, dem Royal Army Medical Corps, der die Aufsicht über die Krankenwagenfahrer führte.

»Wir sind da drüben.« Sally zeigte auf eine weitere Hütte, durch deren offene Tür sie etwa dreißig Männer sehen konnten, die herumsaßen und warteten. »Wenn ein Zug mit Verwundeten kommt, wird eine Glocke geläutet, und wir fahren sofort zum Bahnhof. Jeder versucht, als Erster anzukommen, weil die Patienten, die sitzen können, zuerst ausgeladen werden und leichter zu transportieren sind.«

Captain Taylor war ein älterer Mann, der die Mädchen mit leicht belustigter Miene musterte, als wäre er insgeheim der Meinung, dass keine Frau kräftig genug war, um eine Krankenbahre zu tragen. Er sagte sehr wenig, nur dass er von ihnen erwarte, für sich zu bleiben und ihren Krankenwagen sauber zu halten, und dass sie sich an die Vorschriften zu halten hätten, die an einer Wand des Aufenthaltsraumes für die Fahrer hingen. Er wies jeder von ihnen einen Träger zu, der sie auf ihren Fahrten begleiten würde.

Miranda bekam Alf Dodds an die Seite gestellt, der um die fünfzig und ziemlich kurz geraten war, auffallende O-Beine, aber massive Schultern hatte.

»Von dem träume ich heute Nacht bestimmt nicht«, raunte sie Belle hinter vorgehaltener Hand zu.

Belle wurde David Parks aus Sheffield zugeteilt. Er war erst fünfundzwanzig, hatte ein frisches, jungenhaftes Gesicht, helles Haar und abstehende Ohren. Er erzählte Belle, dass er aufgrund einer Beinverletzung, die er 1915 in Ypern erhalten hatte, als Invalide aus der Armee ausgeschieden war, jedoch darum gebeten hatte, hierbleiben und bei den Verwundeten helfen zu dürfen. Als er wegging, um mit jemandem zu reden, bemerkte sie, dass er stark hinkte, und fragte sich, ob er wirklich imstande war, schwere Lasten zu tragen.

Eine Stunde später war Belle sehr froh, dass sie David an die Seite gestellt bekommen hatte. Er wusste nicht nur genau, welchen Weg sie nehmen mussten und was zu tun war, wenn sie den Bahnhof erreichten, sondern kannte sich auch mit den kleinen Tücken des Wagens aus und schien nichts dabei zu finden, mit einem weiblichen Fahrer zu arbeiten. Er sprach mit breitem nördlichen Akzent, hatte aber eine sanfte, eher schüchterne Art, die Belle gefiel. Er sagte, dass er wegen seiner Verletzung selbst keinen Wagen fahren konnte.

»Warum sind Sie nicht einfach nach Hause gegangen, nachdem Sie verwundet worden waren?«, fragte sie, als sie zum ersten Mal an diesem Tag im Konvoi mit den anderen Krankenwagen die Fahrt zum Bahnhof unternahmen. Sie hatte Mühe, mit dem Schaltknüppel und der harten Lenkung zurechtzukommen, doch David half ihr und ermutigte sie. »Hatten Sie danach nicht genug vom Krieg?«

»Was erwartet einen Krüppel wie mich schon zu Hause?« Er zuckte mit den Schultern. »Gibt mir ja doch keiner Arbeit, und meine Mum hat auch ohne mich schon genug hungrige Mäuler zu stopfen, und meine Kumpel sind alle hier draußen.«

Ähnliches hatte sie schon von anderen Soldaten im Royal Herbert Military Hospital gehört. Viele von ihnen stammten aus ärmlichen Verhältnissen; aus Städten wie Manchester, Leeds und Birmingham. Sie hatten sich zur Armee gemeldet, um Armut, Elend und schlechten Aussichten zu entkommen. Traurig, dass sehr viele von ihnen als Invaliden heimkehrten, in ein noch elenderes Dasein als vorher.

Aber Belle kannte auch Männer, die fanden, dass sich ihre Stellung im Leben durch die Armee verbessert hatte. Regelmäßige Mahlzeiten und körperlicher Drill während ihrer Ausbildung hatten aus schlaksigen Burschen Männer gemacht. Die engen Freundschaften, die sie mit Kameraden aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten schlossen, und das Vorbild, das ihre Offiziere gaben, hatten häufig ihren Horizont erweitert und ihnen neue Kenntnisse vermittelt. Belle war überzeugt, dass auch David in diese Kategorie fiel.

»Vielleicht bekommen Sie Arbeit in einem Krankenhaus, wenn der Krieg vorbei ist«, meinte sie.

Er lächelte scheu. »Ich habe Lehrbücher über Physiotherapie gelesen. So etwas würde ich gern machen. Ich schätze, auf dem Gebiet wird man nicht abgelehnt, wenn man lahm ist.«

Als sie in der Reihe der wartenden Krankenwagen weit genug aufgerückt waren, um den Bahnsteig zu sehen, waren die sitzenden Patienten schon unterwegs ins Lazarett und nur noch liegende Patienten übrig. Obwohl es auf dem Bahnhof von Krankenschwestern, Trägern und anderem Militärpersonal wimmelte, lief zu Belles Überraschung alles ruhig und reibungslos ab. An jeder Waggontür stand eine Krankenschwester mit gestärktem weißen Kittel und Häubchen, in der Hand die Notizen über die Männer, die in ihre Obhut kamen, und wies die Träger an, in welcher Reihenfolge die Krankentragen transportiert werden sollten. Jeder Patient hatte einen Beutel mit seiner persönlichen Habe bei sich, aber nur wenige trugen die blaue Krankenhauskleidung, die Belle vom Royal Herbert kannte. Die meisten hatten ihre Unterwäsche an, die zum Teil blutig und zerrissen war. Sie sah bandagierte Armstumpen, Kopfverbände, wunde, verbrannte Gesichter, und in einigen Fällen waren unter den Decken keine Beine zu erkennen. Sie hörte Stöhnen und gelegentlich Schmerzensschreie, doch im Allgemeinen waren die Verwundeten ruhig, einige sogar so still, dass sie leblos wirkten.

»Los, jetzt sind wir dran!«, sagte David, als der Krankenwagen vor ihnen abfuhr. »Lassen Sie sich möglichst nicht anmerken, dass Sie so was noch nie gemacht haben, wenn wir die Patienten aufladen, und bekommen Sie keinen Schreck wegen der Wunden!«

Belle war es zwar gewöhnt, furchtbare Verletzungen zu sehen und dabei zu helfen, Patienten ins Bett zu heben, doch sie hatte noch nie eine Trage hochgehoben; das hatten im Royal Herbert Military Hospital immer die Sanitäter übernommen. Als David und sie die erste Trage packten, auf der ein Mann mit einer Bauchwunde lag, taumelte Belle kurz, weil die Last so schwer war, und die gequälten Augen des Mannes schienen sie anzuflehen, ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen. »Bald wird es besser«, tröstete sie ihn. »Wenn Sie erst einmal im Lazarett sind, werden Sie nicht mehr so durchgeschüttelt.«

Als sie ihn hochhoben und in den Wagen schoben, fühlten sich ihre Arme an, als würden sie aus den Gelenken gezogen, aber sie redete dem Verwundeten noch einmal gut zu und wischte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn ab.

»Sie machen das sehr gut«, raunte David ihr halblaut zu, als sie den Nächsten holen gingen. »Sie sind wie geschaffen dafür – ein Lächeln und ein tröstendes Wort helfen fast genauso viel wie Morphium.«

Sowie ihr Wagen vollgeladen war und an jeder Trage Zettel hingen, startete Belle den Motor und versuchte, die tiefen Schlaglöcher auf der Straße tunlichst zu umfahren. Sie war schweißgebadet; ihre Arme fühlten sich an, als hätte man sie auf ein mittelalterliches Streckbett gespannt, und sie wusste, dass ihr beim Lazarett die gleiche Plackerei noch einmal bevorstand. Es war erst kurz nach neun Uhr morgens, und es würde bis sechs Uhr abends ununterbrochen so weitergehen. Sie fragte sich, ob sie durchhalten würde.

Wenn David nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht gegen Mittag das Handtuch geworfen. Aber er versicherte ihr, dass der erste Tag am schlimmsten sei, und sprach ihr Mut zu. »Man hat das Gefühl, keine einzige Trage mehr heben zu können, nicht wahr?«, sagte er, als er ihr einen Becher Tee und zwei Aspirin gab. »Aber die Muskeln werden bald kräftiger, und Sie gönnen Captain Taylor doch sicher nicht die Genugtuung, zu sehen, dass ein Mädchen den Job nicht schafft.«

Als Miranda und Belle um sechs Uhr abends in ihre Hütte zurückkehrten, ließen sie sich stöhnend auf ihre Betten fallen. Sie waren so oft zwischen Lazarett und Bahnhof hin- und hergefahren, dass sie mit dem Zählen nicht nachgekommen waren. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war aufs Äußerste strapaziert worden, und die furchtbaren Verletzungen, üblen Gerüche und Schmerzensschreie hatten sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt.

»So hatte ich mir das nicht vorgestellt«, gestand Miranda mit schwacher Stimme.

»Ich auch nicht«, stimmte Belle ihr zu. »Ich weiß nicht mal, ob ich noch die Arme heben kann, um mich auszuziehen und mein Haar zu bürsten.«

»Schluss mit dem Gejammer«, rief Vera vom anderen Ende des Raumes. Sie hatte sich bis auf ihren spitzenbesetzten Unterrock ausgezogen und ein Bad genommen und schlüpfte jetzt in ein hellblaues Kleid, als wollte sie zu einer Party gehen. »Geht baden, ihr zwei, das wird euch beleben.«

Belle rappelte sich hoch. »War heute besonders viel los?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Eher durchschnittlich für eine Phase mit Kampfhandlungen«, antwortete Vera. »Bis Ostern war es relativ ruhig, aber dann fing die Schlacht bei Arras an, und kurz darauf wurden an die zweitausend Verwundete eingeliefert, Briten, Franzosen, Australier und Kanadier. Es heißt, dass es bald noch viel schlimmer werden soll.«

»Ich glaube nicht, dass ich einen Tag wie heute noch einmal durchstehe«, gestand Miranda und sprach damit Belle aus dem Herzen.

»Doch, das wirst du«, sagte Vera bestimmt. »Ich habe an meinem ersten Tag das Gleiche gedacht, doch man gewöhnt sich daran. Nehmt ein Bad, holt euch was zu essen und geht dann zu Bett! Ihr werdet schlafen wie Babys, und wenn ihr morgen aufwacht, ist es gar nicht mehr so schlimm. Gebt mir eure Röcke, damit ich sie kürzen kann.«

»Das würdest du für uns tun?«, fragte Belle. Ihr Rock hatte sie den ganzen Tag behindert, aber sie hatte nicht die Kraft, ihn heute Abend noch selbst zu säumen.

»Na klar. Wir sitzen alle in einem Boot«, meinte Vera. »Nur wenn wir einander helfen, halten wir durch.«

»Aber wolltest du nicht irgendwohin?«, erkundigte sich Miranda. Vera hatte die Nadeln aus ihrem Haar genommen und bürstete es energisch.

»Nur zum Abendessen, doch wir ziehen uns immer um, wenn wir von der Arbeit zurückkommen. Wie Sally sagen würde: ›Wir Mädels dürfen uns nicht gehen lassen.‹«

In den folgenden Tagen machte Belle die Feststellung, dass Veras Philosophie, einander zu helfen, die Arbeit erleichterte und Kameradschaft schuf. Es war kein großer Aufwand, einer anderen Fahrerin beim Beladen des Wagens zu helfen, und derartige Gefälligkeiten wurden unweigerlich erwidert, vor allem, wenn ein Patient besonders viel wog. Seit ihrer Ankunft regnete es fast ununterbrochen, und eines Tages blieb Mirandas Laster im Schlamm stecken. Sofort eilten Männer herbei und legten Säcke unter die Reifen. Als David an einem anderen Tag mit der Trage stolperte, war augenblicklich eine helfende Hand zur Stelle, um ihn zu stützen.

In den Zeiten, in denen nur wenige Züge eintrafen, lernten Miranda und Belle die anderen Fahrer und Träger kennen. Sie entstammten allen möglichen Gesellschaftsschichten. Einige waren wie David Kriegsinvaliden, die bleiben wollten, um anderen zu helfen, andere waren wegen geringfügiger gesundheitlicher Probleme für untauglich erklärt worden. Aber die meisten waren aus ähnlichen Gründen wie Miranda und sie hier: Sie wollten ihren Teil beitragen. Welchen Hintergrund sie auch hatten, alle fügten sich in die Gemeinschaft ein, und es wurde viel gelacht und gescherzt, und obwohl die Arbeit extrem hart war, gab es Belle und Miranda ein Gefühl von Freiheit, in einer von Männern dominierten Welt akzeptiert zu werden.

Einer der älteren Fahrer, von dem sie beide angenommen hatten, dass er weibliche Rettungsfahrer in Grund und Boden verdammte, brüllte eines Tages vor Lachen, als er zufällig mit anhörte, wie Belle und Miranda zwei Krankenschwestern nachmachten, die wahre Schreckschrauben waren. Als einen Tag darauf bei Belles Wagen der Keilriemen riss, kam er ihr zu Hilfe und zeigte ihr, wie man einen neuen anlegte. Als sie sich bedankte, wehrte er mit den Worten ab, dass es nicht der Rede wert sei und sie und Miranda tolle Mädchen seien und er froh sei, sie bei der Truppe zu haben. Belle freute sich unheimlich über sein Lob, und in diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass Miranda und sie die richtige Entscheidung getroffen hatten, als sie hierhergekommen waren, egal, wie schwer die Arbeit und wie primitiv die Lebensbedingungen waren.

Selbst Captain Taylor nickte ihnen von Zeit zu Zeit beifällig zu, und David erzählte ihr, dass er gehört hatte, wie Taylor zu einem anderen Offizier sagte: »Diese beiden Neuen sind aus dem richtigen Holz geschnitzt.«

Der Regen hielt unerbittlich an. Am Ende des Tages waren sie häufig völlig durchnässt und bis ins Mark erfroren, und abends erinnerte ihre Baracke fast an eine Waschstube. Überall waren nasse Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt, und rund um den Ofen standen mit Zeitungspapier ausgestopfte, durchweichte Stiefel. Trotzdem schien Belle mehr Energie zu haben als daheim. Statt gleich nach dem Abendessen direkt in die Baracke zurückzugehen, um Karten zu spielen, zu lesen oder Briefe zu schreiben, machte sie gern einen Abstecher in die Krankenstationen, um nach den Männern zu sehen, die sie eingeliefert hatte.

Oft bot sie den Krankenschwestern ihre Hilfe an, indem sie für die Patienten, die keinen Stift halten konnten, Briefe schrieb, denen, die erblindet waren, etwas vorlas, oder einfach diejenigen fütterte, die selbst nicht dazu imstande waren. Miranda zog sie deswegen auf. Sie fand, dass sie tagsüber schon genug Elend sahen und nicht noch mehr brauchten.

Weil Belle so beschäftigt war, fielen ihre Briefe an Jimmy jetzt genauso kurz aus wie die, die sie von ihm erhielt. Sie versuchte, Mog und Garth jede Woche zu schreiben, aber es erwies sich als schwierig, auf Mogs Berichte über den Dorfklatsch, die Lebensmittelknappheit und die anwesenden Damen beim wöchentlichen Handarbeitszirkel einzugehen. Angesichts all dessen, was sie selbst hier jeden Tag zu sehen bekam, schien das alles nichtig und banal.

Jetzt verstand sie, warum Jimmy immer so wenig über seinen Alltag zu erzählen hatte. Einerseits saß ihm die Zensur im Nacken, aber wahrscheinlich störte ihn viel eher das Gefühl, dass er das, was er erlebte, Menschen, die diese Erfahrungen nicht machten, kaum vermitteln konnte. Ihr ging es genauso. Sie konnte weder den Galgenhumor erklären, mit dessen Hilfe sie das tägliche Grauen verkraftete, noch, warum sie so sehr an allen hing, mit denen sie zusammenarbeitete. Jetzt wusste sie, dass das Leben eines Soldaten ganz und gar nicht so war, wie es daheim in den Zeitungen dargestellt wurde.

Bis zu ihrer Ankunft in Frankreich hatte Belle geglaubt, dass Jimmy ständig im Schützengraben hockte und ununterbrochen feindlichem Beschuss ausgesetzt war. Jetzt wusste sie dank David, der an der Front gewesen war, dass die Soldaten nur vier Tage hintereinander dort blieben, bevor sie wieder hinter die Linien geschickt wurden.

Jimmy war wieder an die Front gegangen, nachdem seine Wunde verheilt war, aber zu einem anderen Regiment, und laut seinem bisher letzten Brief waren er und seine Kameraden noch in Reserve. Doch David hatte ihr erklärt, dass er nicht mal an vorderster Front in ständiger Lebensgefahr schwebte. Anscheinend erlebten die Männer lange Phasen extremer Langeweile, in denen es nichts anderes zu tun gab, als feindliche Aktivitäten zu beobachten. Außerdem war an einigen Frontabschnitten relativ wenig los; David zufolge herrschte oft auf beiden Seiten die Einstellung »Leben und leben lassen«. Natürlich konnte man auch an diesen ruhigen Stellen von einem Scharfschützen oder einer Handgranate getötet werden, aber wirkliche Gefahr entstand, wenn die Generäle eine Offensive befahlen oder die Männer auf Patrouille ins Niemandsland geschickt wurden.

Belle hatte sich außerdem vorgestellt, dass »in Reserve sein« gleichbedeutend mit »untätig sein« war, doch David belehrte sie eines Besseren. Die Soldaten hatten viel zu tun; sie mussten trainieren, Proviant transportieren, Gräben ausheben und verstärken, die Toten begraben, Stacheldrahtverhaue reparieren, Munition dorthin bringen, wo sie gebraucht wurde, und zusätzlich noch ihre Uniformen waschen und flicken.

Jimmy hatte gelegentlich Läuse, Schlamm, triefnasse Uniformen, Ratten und den Zustand der Latrinen erwähnt, seit er 1915 seine Ausbildung abgeschlossen hatte, aber eher nebenbei, als machte ihm das alles nicht sonderlich viel aus. Doch die Fahrer hier, die alle schon einmal Verwundete von den Verbandstationen abgeholt hatten, waren in ihren Beschreibungen dieser Gräuel wesentlich drastischer. Einer von ihnen erzählte Belle, wie die Männer von den Läusen fast in den Wahnsinn getrieben wurden und brennende Kerzen an die Nähte ihrer Uniformen hielten, um sie loszuwerden. Er sagte, ihre Körper wären über und über mit Bissen übersät, die sich häufig entzündeten. Der schwere Schlamm, durch den die Soldaten waten mussten, war oft mit Exkrementen aus den Latrinen und sogar mit Leichenteilen von Gefallenen durchsetzt. Ratten, angeblich so groß wie Katzen, überrannten die Gräben, und selbst eine relativ geringfügige Verletzung konnte zu Wundbrand und in weiterer Folge zu Amputation führen.

Am Ostermontag, dem neunten April, als die Schlacht bei Arras begann, machten Schneefall und eisige Graupelschauer den Soldaten zusätzlich zu schaffen. Die Verwundeten, die täglich eintrafen, sprachen von Panzern, die im dicken Schlamm versanken, von Maultieren, die strauchelten und ertranken, und von anderen Verwundeten, die sich nicht aus der zähen Masse befreien konnten und ebenfalls darin starben.

Jimmy hatte Quartier in einer Scheune genommen und schrieb mehr über das Essen und Trinken in einem Estaminet als über die Bedingungen in dem tief liegenden Marschland. Aber es war eindeutig nur eine Frage der Zeit, bis sein Regiment den Marschbefehl erhalten würde. Belle, die Tag für Tag an ihren Patienten sah, was ihrem Mann alles zustoßen konnte, fiel es zusehends schwerer, heitere, aufmunternde Briefe an ihn zu schreiben.

Vera war sehr aufgeregt wegen der bevorstehenden Ankunft ihrer beiden Brüder, die in das ANZAC, das Australian and New Zealand Army Corps, eingetreten waren und unterwegs von Neuseeland hierher waren. Die beiden hießen Tony und »Spud«, also »Knolle«, und sie lachte bloß, als Belle etwas über den Grund für diesen Spitznamen wissen wollte. Doch zu der Freude, ihre Brüder vielleicht zu sehen, sei es auch nur kurz, gesellte sich die Furcht, man würde die beiden direkt an die Front schicken, wie es schon zuvor kanadischen und australischen Soldaten passiert war.

Sally, Maud und Honor hatten hier draußen alle Brüder oder Cousins, und Belle war aufgefallen, dass sie zwar kaum darüber redeten, aber jeden Tag verstohlen die Gefallenenlisten überprüften. Unter ihnen schien die stillschweigende Übereinkunft zu bestehen, sich die Sorge um Angehörige an der Front nicht anmerken zu lassen. Henry, einer der Fahrer, erfuhr kurz nach Belles und Mirandas Ankunft, dass sein Neffe als vermisst, vermutlich tot gemeldet worden war, und Belle hatte zufällig gesehen, wie Henry mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern hinter der Baracke gestanden hatte. Doch als die Glocke schrillte, sprang er in seinen Wagen und versah wie jeden Tag seinen Dienst. Sally meinte in ihrer üblichen praktischen Art, dass Arbeit die beste Ablenkung sei.

Aber obwohl sämtliche Krankenschwestern, Fahrer, Sanitäter, Ärzte und das übrige Personal es schafften, kaum jemals die Fassung zu verlieren, schaute es bei den Angehörigen, die aus England kamen, um ihre Söhne oder Ehemänner zu sehen, anders aus. Tag für Tag sahen die Mädchen diese Leute im Lazarett eintreffen. Sie fielen nicht nur durch ihre Zivilkleidung auf, sondern auch durch ihre angespannten und fassungslosen Mienen. Die meisten von ihnen hatten England noch nie verlassen, sie sprachen kein Französisch, und sie wussten, dass ihre Söhne oder Ehemänner sterben würden. Oft kamen sie zu spät und fanden ihren Angehörigen nur noch tot vor. Das Pflegepersonal zeigte immer Mitgefühl und bemühte sich, Trost zu spenden, aber es schien besonders tragisch, dass diese armen Menschen einen so weiten Weg auf sich genommen und trotzdem keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, Abschied zu nehmen. Fast jeden Tag gab es Beerdigungen; Belle lief es jedes Mal kalt über den Rücken, wenn auf dem Horn der letzte Zapfenstreich geblasen wurde.

David war eher philosophisch, was trauernde Angehörige betraf. Er meinte, dass sie im Gegensatz zu den Verwandten Tausender anderer Männer, die in einem Massengrab in der Nähe des Schlachtfelds begraben worden waren, wenigstens wussten, wo ihre Nächsten beerdigt waren, und die Worte eines Geistlichen gehört hatten. Und manche Tote wurden nie gefunden; sie waren in Stücke gerissen worden und lagen in Fetzen im Schlamm. Für die Familien jener Männer musste es eine wahre Folter sein, gegen jede Hoffnung zu hoffen, dass sie gefangen genommen worden waren oder in irgendeinem Lazarett lagen und eines Tages nach Hause kommen würden.

Ende Mai, als die beiden Mädchen seit über einem Monat in Frankreich waren, teilte man ihnen mit, dass sie am nächsten Tag keinen Dienst hätten. Bis dahin hatten sie gelegentlich ein paar Stunden freigehabt, meistens sonntags, wenn nicht so viele Züge kamen. Aber da das nächste Dorf nicht viel zu bieten hatte und ziemlich weit entfernt war, waren sie einfach in der Baracke geblieben oder hatten sich um ihre Wäsche gekümmert.

Nicht in aller Herrgottsfrühe aus den Federn zu müssen war an sich schon ein Geschenk, und als sie beim Aufwachen feststellten, dass die Sonne schien, schlug Miranda vor, sich am Nachmittag eine Mitfahrgelegenheit nach Calais zu besorgen und sich dort ein bisschen umzusehen.

Jeden Tag fuhren Lastwagen nach Calais und zurück, um Vorräte von den Docks abzuholen, und sie wussten, dass es kein Problem wäre, einen der Fahrer zu bitten, sie mitzunehmen. Sie nahmen ein Bad, wuschen sich die Haare und zogen ihre schönsten Kleider an. Bevor sie England verlassen hatten, hatte man ihnen empfohlen, ausschließlich zweckmäßige Alltagskleidung mitzunehmen, weil der Platz in ihrer Unterkunft begrenzt war. Aber keine von ihnen hatte widerstehen können, ein hübsches Kleid für einen besonderen Anlass einzupacken. Mirandas war aus blauem Crêpe de Chine, Belles malvenfarben geblümt.

»Ich wünschte, ich hätte einen hübscheren Hut«, seufzte Miranda, als sie den marineblauen Filzhut aufsetzte, den sie aus England mitgebracht hatte.

»Wenn wir so aussehen, als gingen wir zu einer Gartenparty, erregen wir bloß unnötig Aufsehen«, sagte Belle und griff nach dem hellbraunen Hut, den sie passend zu ihrem Wintermantel angefertigt hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es erlaubt war, nach Calais zu fahren. Eine der Krankenschwestern hatte ihr gesagt, dass es weder den Schwestern noch den freiwilligen Hilfskräften gestattet war, mit Soldaten zu verkehren, und dass sie nach Hause geschickt werden konnten, falls sie diese Regel missachteten. Dieselbe Schwester hatte hinzugefügt, dass eine ihrer Kolleginnen nicht einmal mit ihrem Vater, einem Offizier im Dienst, das Gelände des Lazaretts verlassen durfte. Das schien absolut lachhaft, aber die Oberschwester im Royal Herbert Military Hospital hatte ihr Personal genauso an der Kandare gehalten.

»Vielleicht können wir uns in Calais jede einen neuen Hut kaufen«, sagte Belle. »Die hier können wir unmöglich den ganzen Sommer lang tragen.«

»Sehnst du dich nicht auch danach, ein ausgiebiges Bad zu nehmen und etwas Schickes anzuziehen und dann in ein richtig elegantes Lokal zu gehen?«, fragte Miranda und kniff sich in die Wangen, damit sie rosig wurden.

»Ich sehne mich nach vielen Dingen«, gestand Belle. »Nach Mogs Essen, einem bequemen Bett und nach Jimmy, der sich nachts an mich kuschelt. Die einzigen eleganten Lokale, in denen ich je war, kenne ich aus Paris, und ich will lieber gar nicht daran denken, warum ich dort war.«

»Vielleicht könnten wir ja irgendwann einmal nach Paris fahren«, meinte Miranda hoffnungsvoll. »Du könntest diesen Freund von dir besuchen, den mit den vielen Restaurants. Er würde uns bestimmt einen tollen Abend bieten.«

»Dieser Teil meines Lebens ist tot und begraben. Ich denke nie daran«, sagte Belle mit einer gewissen Schärfe. Das stimmte nicht ganz; seit sie hier war, dachte sie viel öfter als früher an Etienne und Philippe, den Mann, den Miranda meinte. Jedes Mal, wenn sie einen französischen Akzent hörte, fühlte sie sich schlagartig in die Vergangenheit zurückversetzt. Aber das Miranda anzuvertrauen hieße, eine Flut von Erinnerungen heraufzubeschwören.

Miranda schnitt ein Gesicht. »Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe. Ich will doch nur ein bisschen Spaß.«

Der Fahrer, den sie um eine Mitfahrgelegenheit baten, war ein Franzose um die fünfzig. Er sprach nicht sehr gut Englisch, schaffte es aber, ihnen verständlich zu machen, dass er um sechs zurückmusste und ohne sie fahren würde, wenn sie nicht rechtzeitig zur Stelle waren.

»Calais ist kein guter Ort für filles jolies«, fügte er tadelnd hinzu. »Viele Soldaten!«

Der Fahrer hatte recht. Es gab tatsächlich viele Soldaten in Calais. Sie waren überall, in Bars und Cafés, auf Lastwagen und auf den Straßen, Franzosen, Engländer, Australier und sogar ein paar Schotten im Kilt. Die Mädchen wurden bestaunt und angegafft, und ein junger Soldat fing an, laut zu singen If You Were the Only Girl in the World, und seine Kameraden stimmten alle mit ein.

Obwohl Belle und Miranda am liebsten gelacht hätten, gingen sie hocherhobenen Hauptes weiter, da ihnen bewusst war, dass jemand vom Lazarett sie hier sehen könnte und sie schon am nächsten Tag rausfliegen würden, wenn sie den Eindruck erweckten, dass sie die Männer ermutigten.

Es war ein herrliches Gefühl, draußen in der Sonne zu sein, fern von den Bildern, Geräuschen und Gerüchen des Lazaretts, und Geschäfte und Cafés und ganz normale Menschen zu sehen. In einer schmalen Seitengasse entdeckten sie einen verstaubten kleinen Hutsalon, wo sich jede einen Strohhut kaufte und ihn sofort aufsetzte. Anschließend erstanden sie neue Strümpfe, tranken in einem Café heiße Schokolade und unternahmen schließlich einen Spaziergang am Strand entlang.

Auf dem Ärmelkanal herrschte reger Schiffsverkehr, eine Erinnerung, dass der Krieg nicht nur zu Lande geführt wurde. Die Deutschen hielten ein Stück weiter die Küste hinauf Seebrügge und Ostende, und ihre U-Boote beschossen ständig britische Schiffe.

Miranda blickte zu einem Flugzeug hinauf, das über ihren Köpfen flog. »Komisch, wie selbstverständlich das jetzt für uns ist!«, meinte sie nachdenklich. »Papa hat mir vor ein paar Jahren mal ein Bild von einem Flugzeug gezeigt, er war ganz aufgeregt. Aber ich habe gedacht, es wäre nur eine Spielerei, die bald wieder in Vergessenheit geraten würde. Und heute ist es mir immer noch ein Rätsel, wie sie sich in der Luft halten.«

»Ich begreife auch nicht, wie die Dinger fliegen können«, gab Belle zu. »Und Automobile! Ich war ungefähr dreizehn, als ich zum ersten Mal eines sah und neben ihm herrannte. Damals hieß es, dass sie sich nie durchsetzen würden. Aber jetzt gibt es schon viele, und sogar wir können sie fahren. Stell dir bloß vor, wenn wir mal Kinder haben und ihnen so etwas erzählen! Sie werden sich ein Leben vor der Erfindung all dieser Sachen gar nicht mehr vorstellen können.«

»Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie das Leben nach dem Krieg sein wird«, gestand Miranda. »Ich meine, wie soll ich jemals wieder so leben wie früher?«

Belle war überrascht, wie trübselig ihre Freundin klang. »Es wird nicht wie früher sein«, versicherte sie ihr. »Wie wäre das möglich, wenn sich durch den Krieg alles verändert hat?«

»Tausende Männer sind schon gefallen, und noch viel mehr werden den Rest ihres Lebens Krüppel bleiben«, sagte Miranda. »Die Chancen, dass ich mich verliebe und heirate, stehen also noch schlechter als vor dem Krieg. Du hast deinen Jimmy, aber ich werde wohl als alte Jungfer bei meinen Eltern leben.«

»Was ist denn das für eine pessimistische Einstellung«, entgegnete Belle ärgerlich. »Du wirst einen Mann kennenlernen und dich verlieben, da bin ich ganz sicher. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du nie wieder nach Hause zurückgehst, dass für dich ein neues Leben anfängt. Du kommst hier so gut zurecht, dass du nach dem Krieg bestimmt irgendeine Arbeit findest, die dir Spaß macht.«

»Aber warum kann ich mir das einfach nicht vorstellen?«, fragte Miranda, während sie einen Kieselstein aufhob und ihn über das Wasser hüpfen ließ. »Ich wette, du kannst es.«

»Na ja, schon«, gab Belle zu. »Doch sich etwas vorzustellen heißt nur, an das zu denken, was du dir wünschst. Ich male mir gern aus, mit Jimmy irgendwo an der See zu leben und vielleicht eine Fremdenpension zu führen oder so. Ich bezweifle, dass es je dazu kommen wird, aber wenn man keinen Traum hat, an dessen Verwirklichung man arbeiten kann, ändert sich gar nichts.«

Sie schlenderten in die Stadt zurück und setzten sich in ein Café, um vor der Rückfahrt eine Kleinigkeit zu essen.

Das Lokal war klein und schäbig, mit schlichten Holztischen, die dringend einer Säuberung bedurft hätten, doch die besseren Cafés waren mit Soldaten überfüllt gewesen. Zwei ältere Männer verzehrten gerade eine Speise, bei der es sich um einen Schmortopf zu handeln schien, und weil es köstlich duftete, bestellten Belle und Miranda bei der Kellnerin dasselbe für sich und dazu etwas Wein.

Sie aßen gerade, als zwei amerikanische Soldaten eintraten. Sie waren jung, vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, groß und sonnengebräunt, und ihre hellbraunen Uniformen sahen, verglichen mit denen ihrer englischen Verbündeten, richtig schick aus.

Miranda strahlte sie an, und Belle warf ihr einen warnenden Blick zu.

Beide Männer nahmen ihre Kappen ab und blieben am Tisch der Mädchen stehen, nicht nur, um die beiden, sondern auch ihr Essen zu betrachten. »Das sieht sehr gut aus, Ma’am«, sagte der dunkelhaarige, der die Rangabzeichen eines Sergeants trug. »Würden Sie es empfehlen?«

»Es schmeckt hervorragend«, antwortete Miranda und errötete leicht.

»Dann nehmen wir es auch«, sagte er. »Wir sind erst vor ein paar Tagen hier angekommen und kennen uns noch nicht besonders gut aus. Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«

»Unbedingt«, erwiderte Miranda, ohne Belle anzusehen, die damit sicherlich nicht einverstanden war. »Ich bin Miranda Forbes-Alton, und das ist Belle Reilly. Wir kennen uns auch nicht sehr gut aus, wir sind heute zum ersten Mal in Calais.«

»Will Fergus«, stellte sich der dunkelhaarige Sergeant vor und gab ihr die Hand. »Und das ist Patrick Mehler«, fügte er hinzu und deutete mit dem Kopf auf seinen blonden Gefährten. »Stören wir auch wirklich nicht?«

»Wir müssen ohnehin bald zurück«, erwiderte Belle in der Hoffnung, Miranda in ihrem Überschwang ein wenig zu bremsen.

»Und wohin zurück, Ma’am?«, erkundigte sich der Sergeant, als die beiden Männer Platz nahmen.

»Camiers. Das Lazarett«, sagte Miranda. »Wir sind Rettungsfahrer. Und Sie müssen uns nicht mit ›Ma’am‹ anreden, wir sind Miranda und Belle. In England spricht man nur Damen aus dem Königshaus mit ›Ma’am‹ an.«

Will lachte und ließ strahlend weiße Zähne aufblitzen. »Na schön, meine Damen, darf ich Belle und Miranda sagen? Ich fasse es nicht, dass zwei so hübsche Mädchen eine derartig schwere Arbeit verrichten. Um von einer von euch gefahren zu werden, würde es sich schon fast lohnen, verwundet zu werden.«

In diesem Moment wusste Belle, dass Miranda sich in den Mann verlieben würde. Er war gut aussehend, charmant und unversehrt. Mehr noch, er hatte nicht diesen kriegsmüden Gesichtsausdruck, den man von fast allen anderen Männern kannte.

Die Amerikaner gaben ihre Bestellung auf, und die vier unterhielten sich. Will kam aus Philadelphia, Patrick aus Boston, und sie waren Teil eines Vorauskommandos, das alles für die amerikanischen Truppen vorbereiten sollte, die Ende des Jahres eintreffen würden.

Belle erwähnte sehr bald, dass sie verheiratet war. Patrick war ebenfalls verheiratet, und weil sie merkte, dass auch er sich ein bisschen unbehaglich fühlte, erzählte sie ihm von Jimmy und warum Miranda und sie hier waren. Dann erkundigte sie sich nach seiner Ehefrau, um ihre Position unmissverständlich klarzumachen.

Innerhalb kürzester Zeit stand für Belle fest, dass Will genauso angetan von Miranda war wie sie von ihm. Sie lachten wie alte Freunde miteinander, redeten pausenlos und rückten immer näher zusammen. Wenn es nicht gegen die Vorschriften verstoßen hätte, mit Soldaten zu verkehren, hätte sich Belle für Miranda gefreut, doch sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie für einen Mann, der ihr gefiel, alles riskieren würde.

Als Belle Miranda erinnerte, dass sie aufbrechen müssten, um ihre Mitfahrgelegenheit nicht zu verpassen, bot Will sofort an, sie zurückzubringen. »Ich habe einen Dienstwagen«, sagte er. »Bleibt noch ein bisschen! Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt.«

Belle wusste, dass Miranda es ihr verübeln würde, wenn sie Wills Angebot ablehnte. Außerdem sah sie eine aufkeimende Romanze vor sich, und das wollte sie ihrer Freundin nicht verderben. Deshalb lächelte sie und ließ sich auf einen Drink einladen.

Will hielt Wort. Nach einem Stadtbummel und einigen weiteren Drinks brachte er sie zurück. Das heißt, Patrick fuhr, und Will und Miranda saßen hinten und küssten sich die ganze Fahrt lang.

»Ihnen missfällt das«, hatte Patrick in der letzten Bar, in die sie gegangen waren, festgestellt. Miranda und Will standen ein Stück entfernt und schauten einander verzückt in die Augen.

»Nein, gar nicht. Sie sind ein reizendes Paar.« Belle seufzte. »Ich möchte nur nicht, dass jemand Miranda wehtut oder dass sie im Lazarett Ärger bekommt.«

»So habe ich Will noch nie bei einem Mädchen erlebt«, sagte Patrick. »Ihn hat’s schwer erwischt, würde ich meinen. Verdammt, warum sollen sie nicht ein bisschen Spaß haben? Bestimmt ist es bei Ihnen in England genauso wie bei uns, wo es ständig heißt ›Tu dies nicht, tu das nicht‹. Wir sind hier in Frankreich, es ist Krieg, und jeder von uns könnte schon morgen getötet werden. Wir beide sind verheiratet, Belle, und wissen, wie es ist, verliebt zu sein. Sollten wir uns nicht für die beiden freuen?«

»Ja, Sie haben recht«, gab sie zu. »Aber es geht so schnell! Und Miranda ist sehr eigensinnig.«

»Und Will ist ein guter Kerl.« Patrick legte eine Hand auf ihre Schulter. »Man beschließt nicht, sich zu verlieben, es passiert einfach. Außerdem sind Sie zu jung und zu hübsch, um sich den Kopf zu zerbrechen, was alles schiefgehen könnte.«

Will und Patrick setzten sie vor dem Lazarett ab. Es war beinahe elf, und als Belle mit Miranda zu ihrer Baracke ging, stellte sie fest, dass ihre Freundin einen Schwips hatte.

»Ist Will nicht fabelhaft?«, hauchte Miranda atemlos.

Belle warf ihrer Freundin, die sich bei ihr eingehängt hatte, einen verstohlenen Blick zu. Selbst im schwachen Licht der Lampen, die über jeder Stationstür hingen, konnte sie sehen, dass Mirandas Augen leuchteten. »Ja, ist er«, stimmte sie zu. Sie fröstelte in der Kälte. »Aber im Moment mache ich mir eher Sorgen, ob wir nicht gewaltigen Ärger bekommen.«

»Ich treffe ihn morgen wieder«, verkündete Miranda in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich habe den Mann kennengelernt, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will, alles andere ist mir egal.«

Vera, die im Bett saß und las, als sie hereinkamen, legte einen Finger an ihre Lippen, um Miranda und Belle daran zu erinnern, dass die anderen drei schon schliefen.

»Ihr kommt spät«, flüsterte sie. »Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht. Habt ihr den Ausflug genossen?«

»Und ob!«, wisperte Miranda und drehte auf dem Weg zum Waschraum eine Pirouette nach der anderen.

Belle setzte sich auf Veras Bett. »Hat jemand nach uns gefragt? Bekommen wir Ärger?«

»Höchstens mit mir, weil ich Angst um euch hatte«, gab Vera lächelnd zurück. »Sag mal, was ist denn passiert?«

»Die ganze Geschichte morgen früh«, raunte Belle ihr zu. »Einstweilen nur so viel: Miranda hat sich verliebt. Sag den anderen nichts; wir wollen nicht, dass es Captain Taylor zu Ohren kommt.«

Bevor Belle das Licht ausschaltete, warf sie noch einen Blick auf Miranda. Sie schlief nicht, sondern lag einfach da und lächelte. Noch nie hatte sie so strahlend ausgesehen.