KAPITEL 10

Die Lichter des Railway Inn waren erloschen, als Belle um Mitternacht nach ihrem ersten Tag im Royal Herbert Military Hospital zurückkehrte. Sie betrat das Haus leise durch die Seitentür und legte gerade im dunklen Flur den Mantel ab, als sie sah, wie die Küchentür geöffnet wurde und Mog in einem Streifen Licht erschien.

»Du hast mich erschreckt. Ich dachte, du bist schon im Bett«, sagte Belle.

»Glaubst du, ich kann schlafen, wenn du dich nachts auf den Straßen herumtreibst?«, fuhr Mog sie an. »Ich hatte Tee für dich hingestellt, aber inzwischen ist er ungenießbar. Du genießt wohl mit der hochnäsigen Miss das flotte Leben?«

Belle taumelte vor Erschöpfung und war nicht in der Stimmung für einen Streit. »Ich bin eben erst aus dem Krankenhaus gekommen«, antwortete sie. »Und das Einzige, was ich heute genießen durfte, war der Gestank von Wundbrand.«

»Dann willst du morgen wahrscheinlich nicht wieder da hingehen?« Mog hatte die Arme vor der Brust verschränkt und bebte vor Zorn und Empörung.

Den ganzen Heimweg lang hatte Belle sich gesagt, dass sie die Arbeit als Hilfsschwester nicht mehr aushalten könnte; noch nie im Leben hatte sie so hart gearbeitet oder so schreckliche Dinge gesehen. Aber Mogs Bemerkung verscheuchte diesen Gedanken. »Hast du schon je erlebt, dass ich eine Sache aufgebe, die ich wirklich will?«

Es war Ende April, und seit einem Monat, seit sie Mog und Garth mitgeteilt hatte, dass sie den Mietvertrag für den Laden nicht verlängern würde, und im Krankenhaus als freiwillige Hilfskraft aufgenommen worden war, regte sich Mog über ihre Pläne auf. Manchmal war sie so ausfallend geworden, dass Belle ernsthaft daran gedacht hatte, sich irgendwo ein Zimmer zu mieten und auszuziehen. Aber weil sie wusste, wie bestürzt Jimmy darauf reagieren würde, harrte sie aus und tröstete sich mit dem Gedanken, dass Mog sich irgendwann wieder beruhigen würde.

»Bei dir muss wohl eine Schraube locker sein, wenn du sechzehn Stunden am Tag arbeitest – für nichts!«, gab Mog zurück.

»Du findest, es ist nichts, dazu beizutragen, Soldaten das Leben zu retten?« Belle seufzte. »Mir erscheint es wesentlich sinnvoller, als Hüte für Frauen anzufertigen, die mehr Geld als Verstand haben.«

»Und wie sieht’s mit dem Geldverdienen aus? Bald wird nichts mehr von deinen Ersparnissen da sein, und ohne deinen Laden verdienst du nichts mehr.«

»Das ist meine Sache«, sagte Belle.

»Mag sein, doch ich wette, wenn du mit der hochnäsigen Miss darüber redest, fällt ihr wieder irgendein Blödsinn ein, der noch alberner ist als deine Arbeit im Krankenhaus.«

Es tat Belle weh, wie viel Bosheit und Eifersucht in dieser Bemerkung lag. »Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass es meine, nicht Mirandas Idee war, und rede bitte nicht so abfällig von ihr! Sie ist nicht hochnäsig, und sie ist mir eine gute Freundin gewesen. Und jetzt gehe ich zu Bett. Ich hoffe, du hast dich bis morgen Abend damit abgefunden, dass ich genau das mache, was ich mir wünsche.«

Mog schnaubte abfällig. »Es sind Frauen wie sie, die nach Frankreich abrauschen, um allen auf die Nerven zu gehen. Ich bin sicher, dass sie das als Nächstes vorhat.«

»Diese Frauen gehen in Frankreich niemandem auf die Nerven. Sie leisten Großartiges.«

Mog zog sich in die Küche zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Belle war zu müde, um ihr zu folgen und sich mit ihr zu versöhnen. Müde ging sie nach oben in ihr Schlafzimmer.

Sie wusste, dass der wahre Grund für Mogs Missbilligung in der Sorge bestand, Belle könnte vergessen, dass sie eine verheiratete Frau war. Für Mog war eine Eheschließung etwas Endgültiges. Sowie die Trauung vollzogen war, sollte eine Frau sich einzig und allein wünschen, für ihren Ehemann da zu sein und ihn glücklich zu machen. Ihrer Meinung nach sollte Belle abends zu Hause sein, um Socken für Jimmy zu stricken, ihm Briefe zu schreiben und Pläne für die Zeit nach seiner Heimkehr zu schmieden.

Belle hatte ganz und gar nicht vergessen, dass sie verheiratet war; sie wünschte sich mehr als alles andere das Ende des Krieges und Jimmys Rückkehr herbei. Doch es stand fest, dass der Krieg nicht in absehbarer Zeit zu Ende gehen würde, und sie wusste nicht einmal, ob Jimmy überleben würde. Es lag nicht in ihrer Natur, einfach die Hände in den Schoß zu legen und Däumchen zu drehen.

Jimmy hielt zu ihr. Sie hatte ihm geschrieben, dass sie unentgeltlich als Krankenschwester arbeiten wollte, und in seinem Antwortbrief wurden seine Ansichten unmissverständlich klar.

Der Gedanke, dass du deinen Teil beitragen willst, um verwundeten Soldaten zu helfen, macht mich stolz, schrieb er. Die Verwundeten, die ich hier gesehen habe, brauchen weiß Gott alles, was sie an Hilfe bekommen können, um sich zu erholen. Onkel Garth und Mog lehnen sicher jede Tätigkeit ab, die dich aus dem heimischen Nest entführt, doch kümmere dich einfach nicht darum! Sie haben aufgrund ihrer Erfahrungen sehr starre Ansichten.

Ich denke, wenn ich zurückkomme, sollten wir unser eigenes Heim gründen. Wir lassen schon zu lange unser Leben von den Wünschen und Vorstellungen anderer bestimmen. Ich stelle mir oft vor, wie es wäre, mit dir an der See zu leben, vielleicht eine Pension zu führen statt einer Schenke. Ich würde alles geben, um an einem stillen, friedlichen Ort zu sein. Auch wenn wir aus der Schusslinie sind – das Artilleriefeuer hört nie auf, und ich kann all diese Gräuel nur verkraften, indem ich mir ausmale, mit dir unter weichem, frischem Bettzeug zu liegen, in vollkommener Stille und bei offenem Fenster, durch das eine leichte Brise weht, oder an einem prasselnden Kaminfeuer zu sitzen und etwas anderes zu essen als Dosenfleisch.

Jimmy erwähnte in seinen Briefen immer wieder das unablässige Artilleriefeuer und seine Sehnsucht nach Stille, und Belle war durchaus bewusst, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, nach dem Krieg vielleicht nicht mehr derselbe sein würde. Möglicherweise würde es ihr nicht gelingen, nach Frankreich zu gehen, doch die Arbeit in einem Lazarett vermittelte ihr wenigstens ein bisschen mehr Verständnis für alles, was Jimmy durchmachte.

Sowie Belle im Bett lag, dachte sie über den langen Tag nach, der hinter ihr lag. Die Oberschwester im Royal Herbert Military Hospital, eine schlanke, streng blickende Frau, hatte sie von oben bis unten gemustert, als Belle sich am Morgen auf ihrer Station gemeldet hatte. Belle trug das vorschriftsmäßige hochgeschlossene, knöchellange dunkelblaue Kleid mit weißen Manschetten und Kragen sowie Schürze und Häubchen, schien aber vor den Augen der Frau keine Gnade zu finden.

»Ihr Haar muss vollständig von Ihrer Haube bedeckt sein«, erklärte die Oberschwester kurz. »Sie tun genau das, was ich Ihnen sage, und wenn ich feststelle, dass Sie inkompetent sind, schicke ich Sie unverzüglich nach Hause.«

»Ja, Oberschwester«, antwortete Belle und stopfte die paar Locken, die entschlüpft waren, wieder unter das Häubchen. Der frostige Empfang erschütterte sie ein wenig. Sie hatte zwar nicht erwartet, Dank für ihre freiwilligen Hilfsdienste zu ernten, aber auch nicht damit gerechnet, wie ein Schulmädchen abgekanzelt zu werden.

Ihre erste Reaktion auf den Vierzig-Betten-Saal, dem sie zugewiesen wurde, war Überraschung, wie ordentlich und friedlich es hier war, wenn auch ein wenig düster, da die Fenster hoch oben und sehr schmal waren. Die meisten Patienten lagen in ihren Betten; ihre Kissen waren glatt gestrichen, die schneeweißen Decken akkurat zurückgeschlagen, doch anders als erwartet gab es kein gepeinigtes Stöhnen oder Herumwälzen. Fast alle Augen richteten sich auf sie; ein paar der Patienten brachten sogar ein freches Grinsen zustande. Zwei Schwestern des Queen-Alexandra-Korps und zwei weitere Frauen – vermutlich Freiwillige wie sie selbst – hatten Dienst.

Die erste Aufgabe, die ihr zugeteilt wurde, bestand darin, den Saal zu verlassen und ein Bett zu reinigen, in dem in der vergangenen Nacht ein Soldat gestorben war. Das Desinfektionsmittel war so stark, dass Belles Hände brannten, und der Geruch erinnerte sie an New Orleans und das Mittel, mit dem die Mädchen dort die Geschlechtsteile ihrer Kunden gewaschen hatten. Der Gedanke, wie die Oberschwester reagieren würde, wenn sie das wüsste, entlockte ihr ein Lächeln.

Als sie fertig war, forderte Schwester Adams, eine sehr hagere, unscheinbare Frau Ende dreißig, die offenbar die Dienstaufsicht hatte, Belle auf, dabei zuzuschauen, wie Schwester May die Verbände wechselte.

Es war eine wahre Feuertaufe. Der erste Patient war von einer Granate erwischt worden. Was von seinem rechten Arm geblieben war, war amputiert worden, aber sein Oberkörper und seine rechte Seite waren eine einzige Masse aus zerfetztem und verbranntem Fleisch.

Belle empfand keinen Ekel, sie war nur fassungslos angesichts einer so grauenhaften Wunde, und wäre ihr aufgetragen worden, sie mit Kochsalzlösung zu reinigen, hätte sie nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Sie hätte Angst gehabt, dem Mann noch mehr wehzutun. Aber Gefreiter Lomax gab keinen Laut von sich, als Schwester May behutsam die Wunde abtupfte. Er heftete den Blick auf Belle und versuchte sogar, sich mit ihr zu unterhalten.

»Ihr erster Tag?«, fragte er.

Belle bejahte.

»Passen Sie gut auf, was Schwester May macht, sie ist die beste und vorsichtigste der Schwestern hier. Wie ich sehe, tragen Sie einen Ehering. Ist Ihr Mann in Frankreich?«

Wie Miranda gesagt hatte, wurden verheiratete Frauen nicht für den Pflegedienst angenommen. Belle hatte gelogen, was ihr Alter anging, und behauptet, sie wäre dreiundzwanzig, aber sie hatte zugegeben, dass sie verheiratet war. Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte man keinen Hehl daraus gemacht, dass sie nur genommen wurde, weil ihr Mann im aktiven Dienst war.

»Ja, er dürfte in der Nähe von Ypern sein. Er darf es natürlich nicht sagen, doch es gab in seinen Briefen ein paar kleine Hinweise.«

»Wir haben hier sehr viele Patienten, die dort verwundet wurden«, bemerkte Schwester May. »Ich hoffe, Ihr Ehemann kommt mit heiler Haut davon.«

»Danke, Schwester«, sagte Belle, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Lomax zuwandte. »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte sie. Er war noch so jung, höchstens neunzehn, obwohl sein unverletzter Arm muskulös war, wirkte sein Körper schlank und gelenkig.

»Nach Sussex zurückkehren und Dad auf der Farm helfen. Zum Glück bin ich Linkshänder und kann den Großteil der Arbeit noch verrichten.«

Sein Mut und das Fehlen jedes Selbstmitleids schnürten Belle die Kehle zu.

Als Schwester May und sie die eine Seite des Saals erledigt hatten, war Belle klar, dass es unter den Verwundeten eine Art Ehrenkodex zu sein schien, nicht über Schmerzen zu jammern. Nicht ein einziger von ihnen beschwerte sich oder schrie beim Anlegen der frischen Verbände auf. Ein Mann hatte beide Beine verloren, ein anderer musste auf dem Bauch liegen, weil sein Rücken eine einzige riesige Wunde war. Wieder ein anderer hatte an diesem Morgen erfahren, dass er Wundbrand bekommen hatte und sein Bein oberhalb des Knies amputiert werden musste.

Der Geruch seiner Wunde war das Einzige an diesem Tag, bei dem Belle schlecht geworden war. Sie leerte unzählige Bettpfannen und musste dreimal einen Patienten säubern, der an Durchfall litt. Sie putzte Blut und Erbrochenes weg und half, einen Mann aufzubahren, der letzten Endes seiner schrecklichen Bauchwunde erlegen war. Aber nur der Geruch des Wundbrands bereitete ihr wirklich Übelkeit.

Schwester May war ungefähr achtundzwanzig, groß und gut gebaut und mit den rosigen Wangen eines Mädchens vom Lande. Sie war energisch und professionell, doch Belle spürte ihre angeborene Güte, als sie rasch und geschickt und ohne viel Aufhebens ihre Arbeit erledigte. Von ihr konnte man viel lernen, weil sie zu jedem Patienten ein paar Informationen gab und genau erklärte, was er brauchte. Sie hatte gesagt, sie und die anderen Krankenschwestern seien sehr froh über freiwillige Hilfe, und sie sei der Meinung, dass Belle aus dem richtigen Holz geschnitzt war, um von Nutzen zu sein.

Am Nachmittag traf ein Konvoi von Rettungswagen mit über hundert weiteren Verwundeten auf Tragen ein. Belle ging mit Schwester May und Schwester Adams nach draußen, um die Leute in Empfang zu nehmen und den Sanitätern zu zeigen, auf welche Station sie die Männer jeweils bringen sollten.

Mindestens die Hälfte der Neuankömmlinge war in sehr schlechter Verfassung. In Frankreich waren sie von ihren Uniformen befreit und an den Verbandstationen versorgt worden, doch jetzt mussten sie operiert werden, um eine Überlebenschance zu haben.

Belle hatte sich noch nie im Leben so hilflos gefühlt. Alles, was sie tun konnte, war, den Schwestern zuzusehen und von ihnen zu lernen, während sie mit den Patienten sprachen und sie beruhigten. Schwester May trug ihr auf, den Männern, die trinken durften, Wasser zu bringen, und anderen, die rauchen wollten, eine Zigarette anzuzünden und sie ihnen an die Lippen zu halten, und irgendwann nahm sie Belle beiseite und fragte sie, ob sie für einen Mann, der sein Augenlicht verloren hatte, einen Brief nach Hause schreiben könne.

»Sein Name ist Albert Fellows, und er wird die Nacht vermutlich nicht überstehen«, sagte sie leise. »Er hat zusätzlich zu den Verletzungen im Gesicht eine furchtbare Wunde in der Brust. Er behauptet, achtzehn zu sein, also alt genug, um sich zu melden, doch ich schätze ihn auf siebzehn. Er möchte, dass seine Mutter weiß, dass er an sie gedacht hat, als es zu Ende ging.«

Albert Fellows’ Kopf und Augen waren verbunden, und was sonst noch von seinem Gesicht zu sehen war, war eine einzige Masse von zerfetztem Gewebe. Belle nahm seine Hand, als sie sich, mit Notizblock und Stift bewaffnet, an sein Bett setzte. »Hallo, Albert. Ich bin Mrs. Reilly«, stellte sie sich vor. »Ich bin keine Krankenschwester, nur eine Freiwillige, doch Schwester May hat gesagt, dass Sie Ihrer Mutter einen Brief schicken wollen. Was möchten Sie ihr denn schreiben?«

Es war unmöglich zu erkennen, wie sein Gesicht vor der Verwundung ausgesehen hatte, aber die Hand, die in ihrer lag, war zwar schwielig und rau, aber klein und erinnerte Belle daran, dass Albert Fellows noch ein Junge war.

»Hab nie viel geschrieben«, krächzte er. »Der Sergeant hat das immer für mich gemacht. Schreiben Sie einfach, was Sie für das Beste halten!«

»Dann also ›Liebe Mutter‹«, schlug Belle vor.

»Ich nenne sie Ma«, sagte er.

»›Liebe Ma, ich bin zurzeit im Royal Herbert Military Hospital in Woolwich‹«, begann sie. »In Ordnung?«

»Ja, sagen Sie ihr, dass ich schlecht beisammen bin, aber in guten Händen. Und dass ich nicht schlapp gemacht habe, als es hieß ›Raus aus dem Schützengraben!‹. Und schreiben Sie ihr, wie leid es mir tut, dass ich ihr so viel Kummer mache!« Er brach ab, und sein schweres Atmen verriet, wie sehr ihn das Reden anstrengte.

Den Ausdruck ›schlapp machen‹ hatte Belle an diesem Tag schon mehrmals gehört. Er bedeutete, Angst zu haben. Sie war überzeugt, dass alle Männer Angst gehabt hatten, doch ebenso wenig wie sie über ihre Verletzungen klagten, erwähnten sie ihre Furcht. Sie fragte sich, wie irgendjemand den Mut aufbringen konnte, aus dem Schützengraben zu springen, obwohl auf ihn geschossen wurde.

»Haben Sie Geschwister, die ich erwähnen sollte?«, erkundigte sie sich.

»Ich bin ihr Einziger. Pa ist vor ein paar Jahren gestorben«, keuchte er. »Sagen Sie ihr, dass sie Whisky von mir streicheln soll; das ist mein Hund! Sonst fällt mir nichts ein.«

»Sie könnten ihr schreiben, dass Sie sie lieb haben«, schlug Belle vor.

»So ’n sentimentaler Kram, das ist nichts für uns«, brachte er heraus.

Belle drückte sanft seine Hand, froh, dass er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ein bisschen sentimental zu sein. Ich weiß, dass ich so etwas gern von meinem tapferen Sohn hören würde.«

»Na gut. Und sagen Sie ihr, dass sie auf sich aufpassen und nicht so viel arbeiten soll!«

Schwester May hatte Belle empfohlen, sich Notizen anzufertigen und den Brief später ordentlich zu schreiben. »Und ich unterschreibe mit ›Dein dich liebender Sohn Albert‹«, schlug Belle vor.

»Geben Sie ihn für mich auf?«, fragte er.

»Ja, natürlich, Albert. Und jetzt schlafen Sie ein bisschen, bis der Arzt zu Ihnen kommt.«

»Sind Sie jung? Sie klingen jung, und Ihre Hände sind schön weich und glatt.«

»Ja, ich bin jung«, antwortete sie und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich helfe hier noch nicht lang genug aus, um raue Hände zu haben. Doch das kommt sicher bald.«

»Ich hab noch nicht mal ein Mädchen geküsst«, brachte er mühsam heraus. »Ein paar von den anderen haben mir alle möglichen Sachen erzählt, die sie mit Mädchen angestellt haben. Die haben wohl dick aufgetragen, um sich wichtigzumachen, was?«

»Ganz bestimmt«, sagte sie und wünschte, sie könnte ihm versichern, dass er das eines Tages alles selbst erleben würde. Aber das konnte sie nicht; er wusste bereits, dass er es nicht schaffen würde. »Ich muss jetzt gehen, doch ich sehe später noch mal nach Ihnen.«

Albert starb eine Stunde später. Schwester May war bei ihm und hielt seine Hand. Belle konnte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten, und die Schwester legte tröstend eine Hand auf ihren Arm.

»Es war am besten so, Reilly«, sagte sie sanft. »Jetzt hat er keine Schmerzen mehr, und was für ein Leben hätte er als Blinder mit entstelltem Gesicht führen können? Es ist auch besser, dass seine Mutter ihn nicht so gesehen hat. Sie kann stolz auf seinen Mut sein und ihren Jungen so in Erinnerung behalten, wie er war.«

»Wird es jedes Mal so sein?«, fragte Belle. Sie wusste nicht, ob sie immer die Fassung behalten würde, wenn derartige Szenen an der Tagesordnung waren.

»Wir müssen Trost aus den Patienten beziehen, die wieder genesen«, erklärte die Schwester. »Nicht an die denken, die es nicht geschafft haben. Wir geben für sie alle unser Bestes, und auch wenn Sie für Albert nicht mehr tun konnten, als an seine Mutter zu schreiben, hat ihm das mehr geholfen als das Morphium.«

Als Belle allmählich die Augen zufielen, fragte sie sich, wie es Miranda heute wohl ergangen war. Sie waren morgens gemeinsam zum Royal Herbert Military Hospital gegangen, doch Miranda war auf eine andere Station geschickt worden, und Belle hatte sie nicht mehr gesehen, nicht einmal, als der Konvoi mit Verwundeten eingetroffen war.

Drei Tage vergingen, ehe Belle ihre Freundin wiedersah. An ihrem zweiten Tag hatte Belle um sechs Uhr morgens ihren Dienst angetreten und ihn um sechs Uhr abends beendet. Hatte Miranda vielleicht andere Arbeitszeiten?

Doch als sie am vierten Tag Shooters Hill hinaufging, bimmelte hinter ihr eine Fahrradglocke, und sie drehte sich um. Miranda radelte eifrig den Hügel hinauf.

»Das nenne ich mal eine gute Idee!«, rief Belle. »Viel schneller als zu Fuß!«

»Papa hat es mir gekauft«, schnaufte Miranda und stieg ab, um neben Belle herzugehen und ihr Fahrrad zu schieben. »Wie läuft es bei dir?«

»Auf die Einsicht hinaus, dass Krankenpflege nichts für schwache Nerven ist«, erwiderte Belle. »Wie geht es dir damit? Ich dachte schon, du hättest aufgegeben, weil ich dich gar nicht mehr gesehen habe.«

»Ich bin in der Station für Offiziere«, sagte Miranda. »Fast hätte ich alles hingeschmissen und die Flucht ergriffen. Es ist ziemlich grausig. Dass sie alle Gentlemen sind, macht ihre Verletzungen nicht appetitlicher als die von einfachen Soldaten. Aber ich gebe nicht auf. Wenn ich alles hinwerfe, jubiliert meine Mutter nämlich vor Freude.«

Belle lachte. »Mir geht es genauso. Mog wartet nur darauf, dass ich genug habe. Sie ist in letzter Zeit ziemlich gemein.«

Die beiden unterhielten sich im Gehen über die Einstellung der beiden älteren Frauen.

»Ich denke, wir haben bis September genug Erfahrung gesammelt, um uns dafür zu bewerben, nach Frankreich zu kommen«, meinte Miranda. »Zu Hause habe ich noch nichts davon erwähnt. Und du?«

»Nein. Ich traue mich nicht. Ich warte lieber bis zur letzten Minute«, gestand Belle.

»Vielleicht solltest du dir auch ein Fahrrad besorgen«, sagte Miranda, als sie ihres in den Schuppen schob. »Ich könnte dir beibringen, auf einem zu fahren.«

»Wirklich?«, fragte Belle begeistert. »Sonntag habe ich frei, du auch?«

Miranda bejahte und schlug vor, sich am Nachmittag zu treffen. »Wir könnten im Greenwich Park üben.«

Nachdem sie vereinbart hatten, sich um drei Uhr zu treffen, eilten sie auf ihre jeweiligen Stationen.

Belles erste Aufgabe an diesem Morgen war, draußen ein paar Betten sauber zu schrubben. Bei der Vorstellung, das Radfahren zu lernen, lächelte sie in sich hinein. Mit einem Fahrrad würde sie sehr viel schneller ins Krankenhaus und wieder nach Hause kommen.

Am Sonntagnachmittag wartete Miranda schon mit ihrem Rad bei der Kirche, als Belle um drei Uhr eintraf. Es war ein sonniger Tag, und auf der Heide wimmelte es von Familien, die Drachen steigen ließen, zum Teich schlenderten, um Segelboote fahren zu lassen, ihre Hunde abrichteten und Ball spielten.

»Mama findet, ich sollte an einem Sonntag nicht Rad fahren«, erzählte Miranda. »Sie sagt, es wäre pietätlos.«

Belle kicherte. Sie hatte kurz vor der Schließung ihres Ladens das Pech gehabt, ihre Bekanntschaft mit Mrs. Forbes-Alton zu erneuern. Die Frau hatte sie wegen ihrer freiwilligen Krankenpflege ins Kreuzverhör genommen und keinen Hehl daraus gemacht, dass ihrer Meinung nach Belle für die »abwegigen Ideen« Mirandas verantwortlich sei. Belle war in Versuchung gewesen, damit zu kontern, dass es vielleicht weniger Verwundete zu versorgen gäbe, wenn sie, Mrs. Forbes-Alton, nicht so eifrig damit beschäftigt wäre, weiße Federn zu verteilen, ließ es dann aber doch sein. Die Frau war einfach zu einschüchternd, und außerdem würde Miranda die Leidtragende sein.

Die beiden schoben das Fahrrad in einen abgelegenen Winkel des Parks.

»Dann steig mal auf!«, forderte Miranda Belle auf, als sie einen menschenleeren Weg gefunden hatten. »Ich stütze das Rad, bis du das Gleichgewicht halten kannst.«

Belle schwang sich mit Mirandas Hilfe auf den Fahrradsattel und trat in die Pedale. Miranda lief neben ihr her und hielt sie fest. Dann ließ sie los, und Belle kippte mitsamt dem Rad um.

Das Ganze wiederholte sich etliche Male. Belle blieb mit ihrem Rock an der Fahrradkette hängen, verletzte sich am Handgelenk und schürfte sich die Knie auf, doch sie war fest entschlossen, diese Fertigkeit zu erlernen.

»Wie lange hast du gebraucht?«, fragte sie Miranda atemlos.

»Eine Ewigkeit, und ich hatte einen Hosenrock an, was die Sache wesentlich erleichtert«, antwortete ihre Freundin.

»Eine Ewigkeit habe ich nicht Zeit«, brummte Belle. »Ich muss es heute lernen, damit ich Garth morgen bitten kann, mir ein Fahrrad zu kaufen. Dann kann ich schon Dienstag damit zum Krankenhaus fahren.«

Sie biss die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Diesmal hielt sie sich ungefähr zehn Meter im Sattel, bis sie wieder das Gleichgewicht verlor.

»Jetzt hast du es raus!«, rief Miranda. »Rauf mit dir und weitermachen!«

Belle schaffte es, auf dem Rad zu bleiben. Sie wackelte hin und her und fuhr nicht geradeaus, aber sie stürzte nicht.

»Gut gemacht!«, brüllte Miranda, die weit, weit hinter ihr zurückgeblieben war. »Fahr weiter, bis du an eine Stelle kommst, wo du drehen kannst, ohne abzusteigen, und komm zu mir zurück!«

Belle tat wie geheißen. Sie blieb nicht nur im Sattel, sie wendete problemlos und radelte mit wachsendem Selbstvertrauen zurück. Miranda klatschte begeistert in die Hände.

»Du hast es viel schneller gelernt als ich«, sagte sie. »Komm, gehen wir eine Tasse Tee trinken, dann kannst du nachher den ganzen Weg heimfahren!«

Nachdem sich Belles Begeisterung über ihre neuen Kenntnisse erst einmal gelegt hatte, unterhielten sich die beiden jungen Frauen bei Tee und einem Stück Kuchen über ihre erste Woche im Krankenhaus.

»Ich bin nicht wirklich für diese Arbeit geschaffen«, gab Miranda zu. »Beim Ausleeren von Bettpfannen wird mir schlecht, und ich glaube nicht, dass ich je einen Verband anlegen könnte, doch zum Glück erledigen das die ausgebildeten Schwestern. Schwester MacDonald meckert ständig an mir herum. Sie mag mich kein bisschen. Aber ich denke einfach daran, dass ich Rettungswagen fahren will und nur Grundkenntnisse in Erster Hilfe brauche, und das hilft.«

Nach allem, was Miranda erzählte, ließ man sie auf ihrer Station tatsächlich vor allem Reinigungsarbeiten verrichten. Belle musste auch den Boden kehren, Bettpfannen austeilen und einsammeln, Patienten füttern, die nicht eigenhändig essen konnten, und Betten machen. Aber man traute ihr auch zu, Patienten zu waschen und zu rasieren, und sie hatte bereits kleinere Wunden verbunden.

Doch keine von ihnen hatte Lust, länger bei den Strapazen ihrer Tätigkeit zu verweilen. Es gab auch lustige Geschichten, über die man lachen konnte.

»Am Freitag hat eine neue Freiwillige angefangen«, erzählte Miranda. »Die Schwester hat sie aufgefordert, eine Bettpfanne zu einem Patienten zu bringen, dessen Bettvorhänge zugezogen waren. Er wurde gerade von Kopf bis Fuß gewaschen und war bis auf seine Verbände splitternackt. Du hättest sie sehen sollen, als sie wieder rauskam: das Gesicht puterrot und zitternd wie ein Wackelpudding. Später hat sie mir erzählt, dass sie vorher noch nie einen nackten Mann gesehen hatte. Sie hat nicht mal Brüder.«

Belle lachte. Die Schwestern auf ihrer Station hatten ähnliche Geschichten erzählt; tatsächlich hatten sie gesagt, dass Belle die erste Freiwillige sei, die nicht verlegen wirkte. Zum Glück wussten sie, dass Belle verheiratet war, sonst hätten sie sich bestimmt gewundert. »Für die Männer ist es genauso unangenehm«, sagte sie. »Wir bekamen gestern einen ganz jungen Burschen herein, und ich musste ihn waschen. Er kniff die ganze Zeit die Augen zu. Er dachte wohl, wenn er mich nicht sieht, kann ich ihn auch nicht sehen. Wahrscheinlich hat ihn außer seiner Mutter noch nie jemand nackt gesehen. Als ich ihn später füttern kam, wurde er gleich wieder rot und wich ständig meinem Blick aus.«

»Wie war es für dich, als du … äh, du weißt schon, was ich meine … in New Orleans.«

»Nach dem ersten halben Dutzend Männer bist du nicht mehr verlegen.« Belle seufzte. »Ich habe viel zu viel über Männer gelernt. Als ich von Paris wieder herkam, habe ich versucht, das alles aus meinem Gedächtnis zu streichen, doch es ist mir nicht gelungen.«

»Ich frage mich oft, wie es für mich sein wird, wenn und falls ich wieder einen Mann kennenlerne, den ich wirklich mag«, sagte Miranda. »Ich ermahne mich ständig, so etwas nie wieder zu machen, bis ich verheiratet bin, aber ich weiß nicht, ob ich stark genug bin.«

Belle sah ihre Freundin forschend an. Miranda wollte damit vermutlich andeuten, dass sie häufig daran dachte, mit einem Mann zu schlafen, und dass sie es vermisste. Alle anderen Frauen in ihrem Alter und mit ähnlichem Hintergrund, die Belle kannte, waren keusch und züchtig, doch in Miranda schien eine angeborene Sinnlichkeit zu schlummern. Je länger Belle sie kannte, desto weniger wahrscheinlich schien ihr, dass Miranda sich je den strengen Regeln unterwerfen würde, die die Gesellschaft für junge Frauen aufgestellt hatte. Vielleicht lag es an dieser Wesensgleichheit, dass sie so gute Freundinnen geworden waren.

»Dann pass auf, dass du dich in einen Mann verliebst, der es wert ist!«, warnte Belle sie. »Du willst all diesen Kummer und Schmerz bestimmt nicht noch einmal erleiden. Durch den Krieg genießen die Frauen vielleicht ein bisschen mehr Freiheiten und haben mehr Möglichkeiten, aber manches ändert sich nie.«

»Ich weiß«, seufzte Miranda. »Meine Mutter zum Beispiel. Sie ist so ein unglaublicher Snob! Wahrscheinlich bildet sie sich ein, dass die Scheiße von Offizieren nicht so stinkt wie die von gemeinen Soldaten.«

Belle lachte. »Wenn du die Arbeit im Krankenhaus wirklich so sehr verabscheust, dann hör doch auf! Ich wette, du könntest problemlos einen Job als Fahrerin bekommen. Bestimmt gibt es viele Leute, deren Chauffeur beim Militär dient. Du könntest eine Zeitungsanzeige aufgeben.«

Miranda schnitt ein Gesicht. »Ich muss dabeibleiben, Belle. Ich will mir und meiner Familie beweisen, dass ich durchhalten kann, dass ich nützlich und unabhängig sein kann. Schwester Crooke hat gestern zu mir gesagt, sie habe nicht geglaubt, dass ich den ersten Tag überstehen würde. Sie ist keine, die großzügig mit Lob umgeht, doch ich denke, sie wollte damit andeuten, dass ich sie überrascht habe und meine Sache nicht schlecht mache. Das muss doch irgendwie zählen.«

Belle hob ihre Teetasse und stieß mit Miranda an. »Auf Frankreich!«, meinte sie.

»Auf Frankreich«, antwortete Miranda. »Glaubst du wirklich, dass wir dort hinkommen?«

»Wenn man entschlossen genug ist, kann man alles erreichen«, erklärte Belle. »Und das werde ich dir sofort beweisen, indem ich auf deinem Fahrrad nach Hause fahre.«

Belle radelte selbstbewusst den ganzen Weg zur Kirche zurück und wartete dort auf Miranda.

»Bravo!«, lobte die Freundin. »Mir ist gerade eingefallen, dass du dich auf einem Fahrrad schnell davonmachen könntest, falls dieser Blessard dich wieder belästigt.«

»Ich hoffe, dass er es jetzt, da der Laden geschlossen ist, aufgibt. Ein ausgesprochen unangenehmer Typ. Ich habe keine Ahnung, was er von mir will. Es scheint um mehr als einen Zeitungsartikel zu gehen.«

»Ich glaube, dass er auf dich scharf ist«, erwiderte Miranda. »Er weiß einiges über dich und deine Vergangenheit, und das reizt ihn.«

»Sag bitte nicht so etwas! Es erinnert mich an diesen Mann in Paris, der es auf mich abgesehen hatte!«, rief Belle entsetzt.

»Er wird gleich viel weniger scharf auf dich sein, wenn er dich in deiner Schwesterntracht sieht.« Miranda verzog das Gesicht und lachte. »Geh heim und zerbrich dir seinetwegen nicht den Kopf! Dieser Blessard ist einfach ein Idiot. Viel Glück bei dem Versuch, Garth dazu zu bringen, dir ein Fahrrad zu kaufen!«

Aber als Belle langsam heimwärts schlenderte, dachte sie doch an Blessard.

Nach Newbolds Prozess war sie zunächst nie allein in ihrem Laden gewesen, und im Lauf der Zeit hatte sie den Reporter beinahe vergessen. Doch eines Tages, als Miranda gerade zur Schreibwarenhandlung gelaufen war, tauchte er auf und versetzte ihr einen heftigen Schock. Anscheinend hatte er den Laden beobachtet und eine günstige Gelegenheit abgewartet, um Belle allein zu erwischen.

Aber sie ließ sich ihre Unruhe nicht anmerken. Er sagte, er wäre nur vorbeigekommen, um sie zu fragen, ob sie ihm ein Interview für einen Artikel über die verschiedenen Arten der Identifizierung von Verdächtigen, an dem er gerade arbeitete, geben würde. Sein Interesse galt vor allem der Tatsache, dass sie ein Bild des Täters gezeichnet hatte.

»Es tut mir leid, doch ich möchte kein Interview geben, weder jetzt noch zu einem späteren Zeitpunkt«, entgegnete Belle. Zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon, deshalb bat sie ihn zu gehen.

Da er ohne Weiteres abzog, schien es, als hätte sie sich in seinen Absichten getäuscht. Aber zwei Wochen später kam er wieder, genau an dem Tag, an dem sie morgens den Laden selbst geöffnet hatte, um Miranda eine kleine Pause zu gönnen.

Diesmal war er wesentlich aufdringlicher, nahm unaufgefordert Platz und nannte sie plump vertraulich Belle, als wäre er ein alter Freund.

»Mrs. Reilly«, korrigierte sie. »Ich habe Ihnen schon bei Ihrem letzten Besuch gesagt, dass ich kein Interview gebe. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen? Ich bin sehr beschäftigt, und ein Gentleman, der in meinem Laden sitzt, schreckt meine Kundinnen ab.«

Er stand auf und ging zur Tür. Als er sich umdrehte, dachte sie zunächst, er wolle sich entschuldigen. Doch sie irrte sich.

»Damals in Paris wären Sie nicht so etepetete gewesen«, sagte er. »Ich weiß eine ganze Menge über Sie, Belle, vergessen Sie das nicht!«

»Und vergessen Sie nicht, dass ich mich nicht so leicht einschüchtern lasse!«, gab sie zurück. »Wenn Sie sich hier noch einmal blicken lassen, rufe ich die Polizei.«

Aber als er weg war, musste sie ins Hinterzimmer gehen und sich einen Moment hinsetzen, so erschüttert war sie.

Während der Gerichtsverhandlung gegen Kent war zur Sprache gekommen, dass sie nach Paris verschleppt und an ein Bordell verkauft worden war. Belle war allerdings überzeugt, dass Blessard nicht darauf anspielte, sondern auf die Zeit zwei Jahre später, als sie nach Paris zurückgekehrt war und dort als Prostituierte gearbeitet hatte. Ihr war ein Rätsel, wie er das herausgefunden hatte, nachdem es ihren Freunden in Paris gelungen war, diese Tatsache sogar vor der Polizei zu verbergen. Doch sie wusste von Noah, dass ein Reporter, der einer wirklich großen Sache auf der Spur war, immer weiter nachbohren würde, bis er gefunden hatte, was er suchte.

Seit jenem Tag war Blessard nicht wieder aufgetaucht, aber Belle hatte immer darauf geachtet, nicht allein im Laden zu sein. Garth hatte gedroht, dem Mann den Hals umzudrehen, wenn er sich im Railway Inn blicken ließ. Doch Mirandas Bemerkung, Blessard könnte wegen ihrer Vergangenheit scharf auf Belle sein, ließ ihr keine Ruhe. Sie wusste, was es bedeutete, wenn ein Mann wie besessen von einer Frau war. Aber wie Miranda richtig bemerkt hatte, konnte sie ihm jetzt einfach auf dem Rad davonfahren, falls er ihr irgendwo auflauerte.