KAPITEL 8

In einem Verhörraum des Polizeireviers Deptford zog Police Constable Broadhead die Zeichnung, die Belle Reilly von dem Räuber angefertigt hatte, aus einer Mappe und zeigte sie Sergeant Wootton.

Garth Franklin hatte das Bild vor ein paar Tagen auf die Polizeistation Blackheath gebracht, und Broadhead hatte keine Zeit verloren, sich auf sein Fahrrad zu schwingen und allen Personen, die im Umkreis Opfer ähnlicher Verbrechen geworden waren, die Zeichnung zu zeigen. Alle bis auf einen bestätigten, dass es sich um denselben Mann handelte.

Zum ersten Mal, seit James Broadhead abgelehnt worden war, als er sich freiwillig zur Armee hatte melden wollen, hatte er das Gefühl, dass er vielleicht auch etwas für sein Land tun konnte, wenn er bei der Polizei blieb.

Mit fünfunddreißig, unverheiratet und stark wie ein Pferd, hatte er sich verpflichtet gefühlt, sich zum Militär zu melden, aber er war für untauglich befunden worden, weil ihm an der rechten Hand zwei Finger fehlten. Er hatte sie vor elf Jahren bei dem Versuch eingebüßt, einen kleinen Jungen zu befreien, der gerade in einem baufälligen Gebäude spielte, als es zusammenbrach und Broadheads Hand unter einem Metallgitter eingequetscht wurde.

Die Rekrutierungsbehörde war der Meinung gewesen, dass er nicht in der Lage wäre, ein Gewehr abzufeuern. Er hätte gern Gelegenheit gehabt, das Gegenteil zu beweisen – immerhin hatte der Verlust seiner Finger bisher nicht seine Polizeiarbeit beeinträchtigt. Die Ablehnung machte ihm eine ganze Weile zu schaffen und gab ihm das Gefühl, als Mann minderwertig zu sein, aber die Aufregung, die er jetzt empfand, da er Beweise hatte, dass Mrs. Reillys Angreifer auch andere Verbrechen auf dem Kerbholz hatte, ließ alles andere in den Hintergrund rücken.

»Was hat er angestellt?«, wollte Wootton wissen, während er die Zeichnung näher ans Licht hielt und sie eingehend musterte. Er war in den Fünfzigern, hatte schwere Hängebacken und einen militärisch geschwungenen Schnauzbart.

Broadhead gab ihm eine Zusammenfassung über die Vergehen des Mannes und berichtete, dass andere Opfer ähnlicher Verbrechen bestätigt hatten, dass dies das Gesicht des Mannes war, der sie ausgeraubt hatte.

»Wer hat das Bild gezeichnet? Jemand aus der Truppe?«

»Mrs. Reilly, die Modistin in Blackheath. Sie hat wegen des Überfalls das Kind verloren, das sie erwartete, und wäre an den Folgen beinahe gestorben.«

Wootton runzelte die Stirn. »Dann sollten wir ihn lieber erwischen, bevor er noch mehr Unheil anrichtet. Sein Gesicht kommt mir bekannt vor, auch wenn mir jetzt kein Name dazu einfällt. Aber irgendjemand hier wird ihn erkennen, wenn wir ihn schon einmal geschnappt haben.«

James Broadhead strahlte. Die Untersuchung war für ihn zu einer persönlichen Angelegenheit geworden. Er war der erste Polizist am Tatort gewesen, und es hatte ihn erschüttert, dass eine Frau, die er schon seit Langem aus der Ferne bewunderte, so übel zugerichtet worden war. Das Railway Inn war seine Stammkneipe, und da er auch für Jimmy Reilly große Hochachtung empfand, wünschte er sich inständig, den Schurken, der Reillys Frau überfallen hatte, zur Strecke zu bringen.

»Können Sie vielleicht gleich nachfragen?«, bat er Wootton. »Je eher wir den Mistkerl hinter Gitter bringen, desto besser.«

Wootton ging seine Kollegen befragen und war ungefähr zwanzig Minuten fort. Broadhead, der im Verhörraum wartete, staunte über den Lärm und das Getöse in dem Gebäude. Abgesehen von Samstagabenden, wenn gelegentlich betrunkene Raufbolde in der Zelle landeten, ging es in der Wachstube in Blackheath ruhig und friedlich zu. Aber obwohl es ein Wochentag und um die Mittagszeit war, schrie hier eine Frau aus voller Kehle, jemand anders trampelte auf den Fußboden einer Zelle, Türen wurden zugeknallt, und alle paar Minuten brüllte und fluchte jemand. Irgendwann waren vor der Tür des Verhörraums Schritte zu hören, und ein Mann protestierte lautstark, dass er es nicht gewesen wäre.

Wootton kam mit zufriedener Miene zurück. »Ja, er ist hier registriert. Heißt Archie Newbold und ist ohne festen Wohnsitz. Vor ein paar Jahren wurde er wegen Invalidität aus der Armee entlassen, und wir hatten ihn ein paar Mal wegen Schlägereien und Trunkenheit hier.«

Broadhead nickte. »Also, wann schnappen wir ihn?«

»Von ›wir‹ kann keine Rede sein«, sagte der ältere Mann scharf. »Er gehört in unser Revier; wir nehmen die Verhaftung vor. Kehren Sie nur in Ihr friedliches Blackheath zurück; wir geben Bescheid, wenn wir ihn haben.«

Broadhead fühlte sich, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. »Aber Sir, ich habe die ganze Beinarbeit erledigt. Eigentlich wollte ich ihn auch festnehmen.«

Wootton fixierte ihn einen Moment lang, bevor er antwortete. »Um hier Gauner dingfest zu machen, muss man die Gegend kennen. Es gibt unzählige enge, dunkle Gassen, alte Lagerhäuser, Opiumhöhlen, Bordelle und Mietskasernen mit bis zu zehn Leuten pro Zimmer, elende Löcher, wo die Frauen genauso schlimm sind wie die Männer und die Kinder nicht weit davon entfernt. Sie wären nur eine Belastung für uns. Sie wirken zäh, doch das allein reicht hier nicht; man muss auch gerissen sein.«

Broadhead nahm Anstoß an der Unterstellung, dass sich seine Polizeiarbeit darauf beschränkte, entlaufene Hunde zu finden und alten Damen über die Straße zu helfen, aber er war klug genug, sich nicht auf einen Wortwechsel mit einem ranghöheren Polizeibeamten einzulassen. Wootton machte den Eindruck, ziemlich ungemütlich werden zu können, wenn man ihm in die Quere kam.

»Na ja, Sie wissen, wo Sie mich finden, falls Sie Unterstützung brauchen«, sagte er. »Die Zeichnung nehme ich wieder mit, da wir sie als Beweismittel brauchen.«

Wootton warf wieder einen Blick auf das Bild. »Gut getroffen. Ich frage mich, ob Mrs. Reilly auch jemanden nach einer Beschreibung zeichnen könnte. Damit könnten wir Missetätern erheblich leichter auf die Spur kommen.«

»Ich werde das Kompliment weitergeben, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich mit so etwas beschäftigen will, nicht nach allem, was sie durchgemacht hat«, erwiderte Broadhead. »So, und jetzt muss ich los. Viel Glück bei der Suche nach Newbold.«

In der letzten Novemberwoche suchte Belle zum ersten Mal seit dem Überfall wieder ihren Laden auf. Mog war bei ihr, und Miranda sollte auch jede Minute eintreffen.

»Es riecht ein bisschen klamm«, meinte Mog, als sie die Tür öffnete und das Licht einschaltete. »Aber das wird bald vergehen, wenn wir einheizen.«

Belle trat zögernd ein und empfand leise Überraschung, weil alles genauso aussah wie vor dem Überfall. Sie wusste, dass Mog und Garth den Drehspiegel ersetzt und alles, was kaputtgegangen war, weggeräumt hatten, doch sie hatte trotzdem erwartet, irgendwelche Hinweise auf das, was an ihrem letzten Nachmittag hier passiert war, zu entdecken.

Sie wusste, dass sie erleichtert sein sollte, nichts dergleichen vorzufinden, und sogar erfreut sein müsste, den Ort zu sehen, den sie einmal so sehr geliebt hatte. Aber in Wahrheit wollte sie überhaupt nicht hier sein, weder jetzt noch in Zukunft.

Nicht, dass sie Angst gehabt hätte. Sie spürte nur, dass der Ehrgeiz, der sie angetrieben hatte, ihren Traum von einem eigenen Geschäft zu verwirklichen, nicht mehr vorhanden war. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie sich weiterhin damit beschäftigen wollte, einen Hut zu entwerfen und dann zu fertigen, und ebenso wenig wollte sie Tag für Tag in diesem Laden stehen und Frauen dabei zusehen, wie sie Hüte anprobierten, und sich anhören, zu welcher Gelegenheit sie ihn brauchten.

Die Ironie dieser inneren Kehrtwendung entging ihr nicht. Sie hatte Mog, Jimmy und Garth zugesetzt, um sie davon zu überzeugen, wie sehr sie den Laden brauchte, und nun, da die anderen nachgegeben hatten, wollte sie nicht mehr. Aber ihr fiel kein Ausweg ein, und dass sie Miranda spontan angeboten hatte, für sie zu arbeiten, machte die Lage noch verzwickter.

»Du musst neue Modelle anfertigen und die Auslage neu gestalten, damit die Leute sehen, dass du wieder da bist und dich frisch und munter in die Arbeit stürzt«, bemerkte Mog.

Belle öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie sich nie wieder frisch und munter in die Arbeit stürzen würde, schloss ihn aber wieder. Mog würde sich nur sorgen, wenn sie ihr das eröffnete.

»Vor Weihnachten schaffe ich es nicht«, brachte Belle heraus. »Ich werde bis Neujahr warten.«

Ihr Körper mochte geheilt sein, doch es war, als hätte sie den Lebensfunken verloren, der früher so stark in ihr gebrannt hatte. Häufig war sie so niedergeschlagen und melancholisch, dass sie sich unter dem Vorwand, lesen zu wollen, in ihr Schlafzimmer zurückzog. Aber sie versuchte nicht einmal, ein Buch aufzuschlagen, lag einfach auf dem Bett und starrte hoffnungslos und unsagbar traurig an die Decke.

»Das halte ich für sehr vernünftig«, sagte Mog, ohne Belle anzuschauen. Sie rückte gerade einen roten Samthut auf seinem Ständer zurecht, als gäbe es nichts Wichtigeres zu erledigen. »Du hättest keine Zeit, mehr als einige wenige neue Hüte zu fertigen, und für die Wiedereröffnung brauchst du wirklich mehr. Außerdem hilft Miranda immer noch am Teestand aus.«

Wie aufs Stichwort erschien in diesem Moment Miranda und winkte ihnen durchs Fenster zu. Froh über die Ablenkung, öffnete Belle die Tür und umarmte ihre Freundin.

Belle hatte das Gefühl, dass sie ohne Mirandas regelmäßige Besuche in den letzten Wochen zusammengebrochen wäre. Miranda war stets taktvoll und zurückhaltend. Wenn Belle in düsterer Stimmung war, nahm sie es einfach hin, und wenn sie weinerlich war, nahm Miranda die Freundin in die Arme und schlug ihr vor, sie zu frisieren oder einen Spaziergang mit ihr zu unternehmen. Oft erzählte sie ihr über die Damen, mit denen sie zusammen den Teestand am Bahnhof Charing Cross führte, Geschichten, die ausgesprochen lustig waren. Es war ihr Talent, andere zum Lachen zu bringen, das Belle über viele schlimme Tage hinweggeholfen hatte.

»Wie aufregend, wieder hier zu sein!«, rief Miranda atemlos, entdeckte dann auf einem Ständer einen mitternachtsblauen Hut und flitzte hin. »Was für ein Prachtstück!«, stieß sie hervor, nahm schwungvoll den braunen Filzhut ab und setzte den blauen auf. Dann warf sie sich vor dem Spiegel in Positur, zog die Wangen ein und zog einen Schmollmund. »Wie konnte mir der bloß entgehen? Das bin einfach ich!«

Wie immer brachte sie Belle zum Lachen. Der blaue Hut war im Grunde ein Witz, ganz Tüll und Samtblumen, ein Nichts von einem Hütchen, das man aufsetzte, um in einem eleganten Hotel Tee zu trinken. Er passte perfekt zu Mirandas blondem Haar. »Ich glaube, deine Mutter wäre der Meinung, dass der Hut kaum deinen Kopf warm halten dürfte«, sagte sie.

»Wen kümmert es bei einem so schicken und witzigen Hütchen, ob der Kopf warm bleibt?«, gab Miranda zurück. »Du bist wirklich begabt, Belle. Hoffentlich lerne ich in meiner Zeit hier, etwas zustande zu bringen, das einem Hut ähnlich sieht.«

Belles Gewissen meldete sich. Ihr wurde klar, dass Miranda ihr Angebot vollkommen ernst nahm. Bestimmt würde sie die Enttäuschung verwinden, wenn Belle ihr erklärte, wie ihr zumute war, aber im Moment sah ihre Freundin mit dem blauen Hut und den vor freudiger Erregung geröteten Wagen so hübsch aus, dass Belle es nicht übers Herz brachte, ihre Seifenblase der Vorfreude platzen zu lassen.

Mog bat die beiden, ins Railway Inn zu kommen, wenn sie mit der Besichtigung fertig waren, und verabschiedete sich, um ein paar Besorgungen zu erledigen. Miranda schlenderte durch den Laden, um einen Hut nach dem anderen anzuprobieren, und bei jedem Modell verwandelte sie sich in eine andere Person, die sich weitschweifig darüber ausließ, zu welchem Anlass sie den Hut tragen würde.

Als sie einen eher schlichten Glockenhut aus marineblauem Filz aufsetzte, wurde sie zu einem Mädchen vom Lande, das sich um eine Stellung als Kindermädchen bewarb. »Über kleine Gören weiß ich Bescheid«, verkündete sie mit breitem ländlichen Akzent. »Bin die Älteste von zehn, wissen Sie, und weil meine Ma gern einen zur Brust nimmt, muss ich mich um das Kroppzeug kümmern. Halte nix davon, die Kleinen zu vermöbeln, auch wenn sie schrecklich nerven. Ein kräftiger Klaps tut’s allemal. Und danach ab in den Kohlenkeller.«

Belle brach in Gelächter aus, weil Mirandas Gesichtsausdruck sie lebhaft an eine verhasste Lehrerin erinnerte, die ihre Schülerinnen regelmäßig mit dem Rohrstock geschlagen hatte.

Als es an die Tür klopfte, fuhren beide zusammen. Miranda nahm hastig den Hut ab. »Ein Polizist!«, rief sie.

Belle stand auf. »Das ist Constable Broadhead. Ich habe dir von ihm erzählt.«

Sie öffnete die Tür und bat ihn herein. Belle konnte sich nicht daran erinnern, welche Rolle er an dem Tag des Überfalls gespielt hatte, doch inzwischen hatte er sie mehrmals zu Hause besucht, und er war ihr irgendwie ans Herz gewachsen.

»Was führt Sie zu mir, Constable?«, fragte sie.

»Man hat den Täter gefunden und verhaftet«, verkündete er strahlend. »Ganz frühmorgens, in Deptford. Morgen wird er vor Gericht gestellt, aber bis zur Verhandlung bleibt er in Haft. Ob die noch vor Weihnachten abgehalten wird, hängt davon ab, wie ausgelastet die Gerichte im Moment sind.«

Belle fiel ein Stein vom Herzen. »Das ist eine gute Nachricht«, sagte sie. »Die anderen Ladenbesitzer und ich können uns gleich sicherer fühlen, wenn wir wissen, dass er hinter Gittern ist.«

Der Polizist nickte. »Ich habe weiter unten auf der Straße Mrs. Franklin getroffen, und sie hat mir erzählt, dass ich Sie hier finde. Freut mich, dass Sie wieder auf den Beinen sind, Mrs. Reilly. Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, noch dazu, da Ihr Mann nicht zu Hause ist.«

Belle stellte ihm Miranda vor und erklärte, dass sie bei ihr im Geschäft mitarbeiten würde. »Jimmy ist unterwegs zur Westfront«, fügte sie hinzu. »Wenigstens war er das, als ich zuletzt von ihm hörte. Gott weiß, wann er wieder nach Hause kommen wird.«

»Und alle haben gemeint, bis Weihnachten wäre der Krieg vorbei!«, sagte Broadhead. Er wirkte ein bisschen verlegen, als hätte er gern noch etwas hinzugefügt, brächte es aber nicht über die Lippen.

»Muss ich morgen vor Gericht erscheinen?«, erkundigte sich Belle in der Hoffnung, ihm auf die Sprünge zu helfen.

»Oh nein, das ist nur eine erste Anhörung. Ein Anwalt teilt dem Richter mit, worum es bei dem Fall geht.«

»Sie sagen mir doch Bescheid, wenn ich gebraucht werde?«

»Ja, natürlich«, antwortete er und lächelte. »Jetzt muss ich weiter, doch Sie sollen wissen, dass wir den Mann ohne Ihre Zeichnung nie gefasst hätten. Sie haben wirklich Talent. Und Ihre Hüte sind auch sehr schön.«

»Vielen Dank, Constable«, sagte sie. »Und ich bin sehr froh, dass Sie den Mann erwischt haben.«

Als er das Geschäft verlassen hatte, lehnte sich Miranda an die Wand und grinste Belle an.

»Was schaust du denn so?«

»Er hat was für dich übrig«, antwortete Miranda.

»Mach dich nicht lächerlich!«, gab Belle zurück.

»Er konnte nicht die Augen von dir lassen! Ich wette, er hat gehört, dass du einmal in Paris gelebt hast, und hofft auf ein bisschen o-là-là.«

Belle drohte Miranda wie eine Lehrerin mit dem Finger. »Und du, meine Liebe, hast eine schmutzige Fantasie!«

Miranda lag mit ihrer Vermutung völlig richtig, denn als James Broadhead zum Polizeirevier zurückging, war er in Gedanken tatsächlich bei Belle. Gleich von dem Tag an, als sie ihr Geschäft eröffnet hatte, hatte sie im Ort für eine gewisse Aufregung gesorgt, die sogar bis zur Wachstube vorgedrungen war. Schon ihre auffallende Schönheit war Grund genug, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, aber irgendetwas an ihrem eleganten, durch und durch weiblichen Hutsalon faszinierte alle, Männer wie Frauen. Jedes Mal, wenn James auf seiner Runde an dem Laden vorbeiging, konnte er nicht widerstehen, einen Blick ins Fenster zu werfen. Er hatte das Gerücht gehört, dass sie Französin sei, was auf eine gewisse Leichtfertigkeit hinzuweisen schien. Allerdings verlor das Gerücht sofort an Gewicht, als bekannt wurde, dass sie lediglich ihre Ausbildung zur Modistin in Frankreich absolviert hatte und dass sie Jimmy Reilly heiraten würde, der zusammen mit seinem Onkel die Bahnhofsschenke führte.

Aber vor dem Tag, an dem Belle überfallen worden war, hatte James noch nie mit ihr gesprochen, nur gelegentlich durchs Schaufenster einen flüchtigen Blick auf sie erhascht. Manchmal bediente sie gerade eine Kundin, manchmal saß sie auf einem Stuhl und arbeitete oder schrieb etwas. Doch die Wirkung ihrer dunklen, glänzenden Locken, der samtigen Haut und der schlanken, aber sehr weiblichen Figur versetzte ihm immer einen leisen Stich.

Am Tag ihrer Hochzeit war er gerade in dem Moment an der Kirche vorbeigegangen, als sie an Jimmys Arm herausgekommen war, und bei ihrem Anblick hatte es ihm den Atem verschlagen. »Hinreißend« war das einzige Wort, mit dem sich beschreiben ließ, wie sie in dem Kleid aus cremefarbener Seide und dem duftigen Schleier, der ihr bezauberndes Gesicht umrahmte, aussah. Sie blickte zu Jimmy auf und lachte über etwas, und in James regte sich blanker Neid. Noch nie hatte eine Frau ihn so angesehen.

Es war reiner Zufall gewesen, dass er am Tag des Überfalls als Erster am Tatort eingetroffen war. Seine tägliche Runde war erst einen Tag zuvor geändert worden, und wenn er den alten Weg genommen hätte, wäre er zu diesem Zeitpunkt in Richtung Lee Green statt Tranquil Vale unterwegs gewesen. Und Stokes, der Schuster, der aus dem Laden gerannt gekommen war und um Hilfe gerufen hatte, wäre auf einen anderen Polizisten gestoßen.

Belle lag zusammengekrümmt auf dem Fußboden, die Wand hinter ihr mit Blut bespritzt. Bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, dass sie ein Kind erwartete, doch durch die Lage ihres Körpers zeigte sich die Wölbung ihres Bauchs, und ihre eine Hand war immer noch schützend darübergelegt, was James zutiefst berührte.

Sowie der Arzt da war, rannte James in Richtung Heide, um nach dem Täter Ausschau zu halten. Wenn er ihn erwischt hätte, hätte er dem Kerl wahrscheinlich den Hals umgedreht.

Seit jenem Abend hatte er Belle bei drei weiteren Gelegenheiten aufgesucht. Zum ersten Mal am Tag nach dem Überfall, als er zu ihr gekommen war, um ihre Aussage aufzunehmen. Sie hatte immer noch sehr blass, mitgenommen und erschöpft ausgesehen, sich aber trotzdem bemüht, ihm so viele Informationen wie möglich zu geben.

Dann hörte er, dass sie ihr Baby verloren hatte und es für eine Weile auf Messers Schneide stand, ob sie überleben würde. Zum Glück schaffte sie es, und bei jedem weiteren Vorwand, den er fand, um mit ihr zu sprechen, sah sie ein bisschen besser aus. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, war sie nicht wehleidig; sie schien eher ungeduldig zu sein, die ewige Fragerei endlich hinter sich zu bringen, damit sie James ihrerseits ein paar Fragen zu seiner Person stellen konnte.

Andere Leute, denen seine fehlenden Finger auffielen, wandten immer hastig den Blick ab, als wäre ihnen der Anblick peinlich. Belle hingegen wollte von ihm wissen, wie es dazu gekommen war und wie lange es gedauert hatte, bis er seine Hand wieder hatte gebrauchen können. Sie fragte nach den Verletzungen des kleinen Jungen, den er gerettet hatte, und fand, dass die Mutter des Kindes ihm unendlich dankbar sein müsse. An jenem Tag hatte James die Bahnhofswirtschaft mit dem Gefühl verlassen, dass seine fehlenden Finger eher eine Art Ehrenzeichen waren als ein Makel, den er verbergen müsste.

Heute hätte er Belle gern gesagt, wie sehr er sich freute, dass sie jetzt schon viel wohler aussah, doch das tiefe Blau ihrer Augen, ihre langen, dunklen Wimpern und ihre vollen Lippen hatten ihn zu sehr aus der Fassung gebracht. Wenn ich nur ein wenig redegewandter wäre!, dachte er bei sich, hätte sie sich vielleicht ein bisschen länger mit mir unterhalten. Er hätte liebend gern jeden einzelnen Hut im Laden begutachtet, den Boden gefegt und die Fenster geputzt, einfach nur, um bei ihr sein zu dürfen. Aber ihre Freundin war auch dort gewesen, und ihm war nichts mehr eingefallen, was er hätte sagen können.

Er war in Hochstimmung, weil man den Täter gefasst hatte, und das Lob seiner Vorgesetzten für all die Laufereien, die er in diesem Fall auf sich genommen hatte, erfüllte ihn mit Stolz. Vielleicht wurde er sogar befördert, was die Sache schön abrunden würde. Doch er wusste, dass er versuchen musste, sich jeden Gedanken an Belle aus dem Kopf zu schlagen. Schließlich war sie eine verheiratete Frau.

James Broadhead war nicht der Einzige, der an Belle dachte. Auch Jimmy war in Gedanken bei seiner Frau – eine unfehlbare Methode, damit ihm innerlich warm wurde.

Der Marsch vom Ausbildungslager in Etaples durch Frankreich war eine einzige Tortur. Die französischen Straßen waren gepflastert und beschwerlich zum Gehen, zumal in den schweren Armeestiefeln, die noch nicht eingelaufen waren. Jimmy hatte etliche Blasen – die auf seiner Ferse war mittlerweile so groß wie eine halbe Krone. Aber anderen ging es noch schlechter als ihm; ihre Füße bluteten, und sie schleppten sich wie Greise dahin.

Antwerpen war gefallen, und auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die vor den Deutschen flüchteten. Einige von ihnen schoben Handkarren oder Kinderwagen, die mit ihrer Habe beladen waren, andere krümmten sich unter der Last der Habseligkeiten, die sie auf dem Buckel trugen. Frauen mit verängstigten Augen und Babys in den Armen baten um Milch und Brot, und man sah viele Kinder und alte Menschen, die bemitleidenswert verloren wirkten. Keiner von ihnen schien zu wissen, wo er hinwollte oder wie er überleben sollte. Jimmy dachte bei sich, dass sie an Schafe erinnerten, die blindlings dem Leittier folgten.

Seit Anfang November hatte es ständig geregnet, und jetzt mussten sie es mit Schneefall aufnehmen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn sie jeden Abend einen trockenen Unterschlupf und etwas Warmes zu essen gehabt hätten, wenn sie ihre Sachen richtig trocknen und den nächsten Tag halbwegs erholt hätten beginnen können. Aber stattdessen war das Beste, was sie erhoffen konnten, eine Nacht in einer Scheune – im Gegensatz zu einigen anderen Regimentern verfügten sie nicht einmal über Zelte. Viele Nächte verbrachten sie, vor Kälte zitternd, im Freien, mit einem wasserdichten Cape als einzigem Schutz und kalter Rinderpastete zum Essen.

Als er an diesem Abend an Belle dachte, hatten sie in einer Scheune Zuflucht gefunden, und als er sich umschaute und beobachtete, wie die Männer, mit denen er in Etaples ausgebildet worden war, eng aneinandergedrängt versuchten, im Heu zu schlafen, fragte er sich, wie viele von ihnen es überhaupt bis zur Front schaffen würden. Etliche von ihnen hatten schlimmen Husten; andere liefen immer wieder nach draußen, weil sie Durchfall hatten, und von einem Mann, der heute zusammengebrochen war, erzählte man sich, dass er an einer Lungenentzündung litt.

Die meisten waren Bankangestellte, Verkäufer und Fabrikarbeiter sowie ein paar Lehrer, alles Männer, die nicht daran gewöhnt waren, sich ständig im Freien aufzuhalten. Die Ausbildung in Etaples hatte sie vielleicht bis zu einem gewissen Grad abgehärtet, doch dieser lange Marsch schwächte sie allmählich bis zur vollständigen Entkräftung.

Jimmy hatte das Gefühl, sich halbwegs gut zu halten, doch schließlich hatte er seit dem siebzehnten Lebensjahr bei Wind und Wetter schwere Fässer geschleppt und immer lange Arbeitstage gehabt. Noch dazu trug er unter seiner Uniform mehrere Schichten warmer Wollunterwäsche. Doch als er sich fröstelnd an seinen Tornister lehnte, quälte ihn trotzdem die Frage, wie viel schlimmer es noch werden würde.

Er hatte gehört, dass das schlechte Wetter die Kampfhandlungen an der Front leicht einschränkte, aber Captain Brunskill hatte gesagt, sie bräuchten sich nicht einzubilden, dass sie auf der faulen Haut liegen könnten. Die Schützengräben, die vom Britischen Expeditionskorps ausgehoben worden waren, seien rudimentär, und ihre Aufgabe sei es nun, diese Gräben auszubauen und zu verbessern.

Jimmy wünschte, er hätte sich nicht so voreilig gemeldet. Mittlerweile war ihm klar, dass die Deutschen über eine gewaltige Armee verfügten, und man erzählte sich, dass ein großer Teil des Britischen Expeditionskorps in Mons und dem, was als »Wettlauf zum Meer« bezeichnet wurde, aufgerieben worden war. Jene Männer waren erfahrene Soldaten, der französischen Armee zahlenmäßig zwar deutlich unterlegen, doch zäh wie Leder und extrem durchtrainiert. Alles, was England jetzt noch zu bieten hatte, um die Verluste auszugleichen, war Kitcheners Armee, ein Haufen junger Leute, die auf der Suche nach Ruhm ihr Zuhause verlassen hatten.

Jimmy konnte im Dunkel der Scheune nichts sehen – das Feuer, das sie vorhin draußen angezündet hatten, war vom Regen gelöscht worden –, aber er hörte Rascheln, Schnarchen und Husten, und er fragte sich, wie viele der anderen Männer heimlich weinten und sich wünschten, sie hätten sich nicht von Patriotismus oder ihren Freunden, die sich freiwillig gemeldet hatten, mitreißen lassen. Doch jetzt waren sie hier, und in wenigen Tagen würden sie an der Front sein. Es führte kein Weg zurück, es sei denn, man erlitt eine schwere Verletzung. Selbst die Toten wurden hier begraben.