KAPITEL 5

Das Läuten der Ladenglocke ließ Belle den Netzschleier, den sie gerade an einem Hut befestigen wollte, beiseitelegen und an die Ladentür laufen.

»Jimmy!«, rief sie überrascht. Gewöhnlich kam er nur bei schlechtem Wetter ins Geschäft, um sie abzuholen. Aber es war erst fünfzehn Uhr und ein herrlicher Oktobertag. »Was führt dich her?«

»Ich wollte Farbe für die Fensterrahmen kaufen«, antwortete er.

Belle runzelte die Stirn. Die Eisenwarenhandlung lag nicht in dieser Richtung, außerdem sah Jimmy ein bisschen angegriffen aus. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.

»Muss irgendwas los sein, nur weil ich meine Frau besuchen komme?«, gab er ziemlich scharf zurück.

Belle ging zu ihm. »Wenn du mich anfährst, ist irgendwas los«, erwiderte sie vorwurfsvoll.

»Tut mir leid«, sagte er. »Aber eine Frau hat mir das hier gegeben.« Er langte in seine Tasche und zog eine weiße Feder heraus.

Belle schnappte nach Luft. Erst vor ein, zwei Tagen hatte sie gelesen, dass manche Frauen durch die Straßen zogen und Männern weiße Federn zusteckten. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass sie Feiglinge waren, weil sie sich nicht zur Armee gemeldet hatten. Aber Belle hatte gedacht, es handele sich um Einzelfälle, um ein paar dumme Puten, die mit ihrer Zeit nichts Besseres zu tun hatten, als hart arbeitende Männer zu belästigen.

»Vergiss es! Das war bestimmt eine Meckerzicke«, meinte sie.

»Nein, es war eine ganze Gruppe von ungefähr zehn Frauen«, sagte Jimmy niedergeschlagen. »Sie haben alle Männer angesprochen. Ich habe gesehen, dass Willie, der Fensterputzer, eine Feder bekommen hat und auch der Mann, der am Bahnhof Zeitungen verkauft, und noch ein anderer, der einfach mit seiner Frau spazieren war. Ich war so geschockt, dass ich nicht abgewartet habe, wem sie noch welche geben, sondern direkt hergekommen bin.«

»Das hat nichts zu bedeuten«, beruhigte Belle ihn. »Niemand muss sich zum Militär melden, wenn er nicht will.« Noch während sie es sagte, lief es ihr kalt über den Rücken, weil sie erst vor ein paar Wochen am Bahnhof ein riesiges Plakat gesehen hatte, auf dem Lord Kitchener in Uniform abgebildet war. Er streckte einen Zeigefinger aus, und der Text auf dem Plakat lautete:

Dein Land braucht dich!

Damals hatte sie es ziemlich wirkungsvoll gefunden.

»Es mag nicht verpflichtend sein, aber vielleicht bin ich moralisch verpflichtet, meinen Teil beizutragen«, überlegte Jimmy laut.

Belle erschrak. Wenn Jimmy Worte wie »moralisch verpflichtet« gebrauchte, hatte er bereits einen Entschluss gefasst. »Das darfst du nicht! Wir bekommen ein Baby!«, rief sie.

Jimmy trat näher und nahm sie in die Arme. »Ich möchte nicht, dass unser Sohn oder unsere Tochter denkt, dass ich ein Feigling war«, sagte er leise, seine Lippen auf ihrem Haar. »Und schließlich würde ich dich nicht allein zurücklassen. Onkel Garth und Mog würden sich um dich kümmern.«

Belle trat zornig einen Schritt zurück. »Aber du könntest sterben! Unser Baby wünscht sich bestimmt keinen toten Helden zum Vater!«

»Dazu wird es nicht kommen«, entgegnete er und hob bittend die Hand.

»Geh!« Belle zeigte auf die Tür. »Und wenn ich nach Hause komme, bist du hoffentlich wieder zur Vernunft gekommen.«

Er verließ wortlos das Geschäft, und Belle kehrte zu ihrer Werkbank zurück. Sie war so böse, dass sie aus Versehen den Schleier zerriss, an dem sie arbeitete. Wütend packte sie den Hut und schleuderte ihn auf den Boden.

Wieder bimmelte die Glocke, und weil Belle dachte, dass es Jimmy war, der sich entschuldigen wollte, ignorierte sie es.

»Belle?«, rief eine zaghafte Frauenstimme. »Sind Sie da?«

Es war Miranda. Belle riss sich zusammen und ging in den Verkaufsraum. Miranda sah in ihrem zart malvenfarbenen Kostüm und dem dazu passenden kleinen, mit Stoffveilchen verzierten Hut sehr elegant aus; ihre Wangen schimmerten rosig, und sie strahlte.

»Was für eine nette Überraschung!«, sagte Belle, dankbar für diese Ablenkung. »Ich habe so oft an Sie denken müssen!«

Miranda hatte ihr vor einigen Wochen, als sie auf dem Landsitz ihrer Familie in Sussex gewesen war, einen Brief geschrieben, in dem sie sich noch einmal bei Belle bedankt und ihr mitgeteilt hatte, dass sie sich vollständig erholt und niemand Verdacht geschöpft habe.

»Es ist schön, wieder in London zu sein«, sagte Miranda. »Als ich fort war, habe ich mich so sehr danach gesehnt, mit Ihnen zu reden! Mama war noch unerträglicher als sonst. Sie ist so verzweifelt darauf aus, mich unter die Haube zu bringen, dass sie zum Dinner ständig Leute einlädt, deren Söhne eine gute Partie wären. Sie hätte ihre Absichten nicht deutlicher kundtun können, wenn sie auf die Einladungen geschrieben hätte, dass Sinn und Zweck der Sache ist, einen Ehemann für mich zu finden.«

Belle lächelte. »Und war ein netter dabei?«

Miranda verdrehte die Augen. »Schrecklich, einer wie der andere! Außerdem haben sie nur über den Krieg geredet und darüber, in welches Regiment sie eintreten wollen. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Aber wie ist es Ihnen inzwischen ergangen?«

»Bis vor ein paar Minuten sehr gut, doch dann kam Jimmy, mein Mann. Er findet, er sollte sich freiwillig melden, aber ich kann den Gedanken, dass er in den Krieg zieht, nicht ertragen.«

»Du meine Güte! Nein, natürlich nicht! Hatten Sie mir nicht erzählt, dass er sich erst dann zur Armee melden wollte, wenn es verpflichtend wird?«

»Das hat er gesagt. Aber heute hat ihm eine Frau eine weiße Feder gegeben, und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen und fürchtet, man könnte ihn für einen Feigling halten.«

»Mama hat sich auch einer Gruppe angeschlossen, die weiße Federn verteilt.« Miranda rümpfte angewidert die Nase. »Meiner Meinung nach ist es schon schlimm genug für Männer, von ihren Geschlechtsgenossen dazu gedrängt zu werden, doch wenn sie jetzt auch noch von Frauen gedemütigt werden, fühlen sich die meisten wahrscheinlich wirklich verpflichtet, sich zu melden. Frauen wie meine Mutter denken nicht darüber nach, wie die Ehefrauen und Kinder von Soldaten zurechtkommen sollen. Soweit ich weiß, ist der Sold ein Bettel.«

Da Miranda gerade so viel Mitleid mit Frauen und Kindern zeigte, schien dies die ideale Gelegenheit zu sein, ihr zu erzählen, dass sie ein Kind erwartete, fand Belle.

»Um den Sold mache ich mir keine Gedanken, aber sehen Sie, ich bekomme ein Baby.«

»Das ist ja wundervoll!«, rief Miranda. Die Wärme ihres Lächelns bewies, dass sie es ehrlich meinte. »Wann ist es denn so weit?«

»Ende Februar.«

Miranda machte ein betroffenes Gesicht.

»Ja, ich habe es an dem Tag schon gewusst«, sagte Belle. »Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, es Ihnen in dieser Nacht zu erzählen. Es erschien mir einfach nicht richtig.«

»Wie furchtbar, dass ich Sie ausgerechnet zu einem solchen Zeitpunkt mit meinen Problemen belasten musste!«, murmelte Miranda und umarmte Belle. »Doch ich freue mich unheimlich für Sie, und haben Sie bitte keine Angst, es könnte mich aufregen, wenn Sie darüber sprechen. Ich kann verstehen, warum Sie nicht wollen, dass Ihr Mann ausgerechnet jetzt zum Militär einrückt. Aber wenn er alles noch einmal gründlich durchdacht hat, überlegt er es sich bestimmt anders.«

»Na ja, viele andere Männer, die mehrere Kinder haben, sind an der Front«, seufzte Belle. »Erst gestern haben wir gehört, dass sich in Lee Green ein Vater von fünf Kindern gemeldet hat. Jimmys Onkel Garth hat erzählt, dass seine Gäste in der Kneipe darüber gewitzelt und gesagt haben, dass er bloß von seinen Kindern wegwill.«

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten über den Krieg im Allgemeinen, und Miranda berichtete, dass sie sich ernsthaft Gedanken darüber gemacht hatte, eine Arbeit zu finden und ihr Zuhause zu verlassen.

»In den letzten Tagen habe ich mich um mehrere Posten beworben«, erzählte sie. »Ich mache mir nichts vor, ich weiß, dass ich keine Erfahrung habe. Das einzige Bemerkenswerte, was ich vorweisen kann, ist, dass ich Auto fahren kann.«

»Oh, tatsächlich?« Belle war beeindruckt; sie persönlich kannte nicht einen einzigen Mann, der das konnte, von einer Frau ganz zu schweigen. Als sie nach Blackheath gezogen waren, waren Automobile noch immer ein seltener Anblick, aber in den letzten zwei Jahren sah man sie immer häufiger auf den Straßen. Allerdings waren es immer noch ausschließlich die Reichen, die Automobile besaßen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich daran so bald etwas ändern würde.

»Ich habe es mir von Papas Chauffeur beibringen lassen, als ich in Sussex war«, bemerkte Miranda leichthin. »Ich dachte, wenn so viele Männer in den Krieg ziehen, könnte sich eine Nische für Frauen ergeben. Doch der Motor ist furchtbar schwer anzuwerfen. Man braucht ungeheure Kraft, um die Kurbel zu drehen. Ich habe auch nachgelesen, wie so ein Motor funktioniert, damit ich nicht dumm dastehe, wenn der Wagen eine Panne hat.«

»Ich freue mich wirklich, dass Sie so überlegt und optimistisch klingen«, sagte Belle.

»Nun, Sie wissen, wem ich dafür zu danken habe«, erwiderte Miranda und zog die Augenbrauen hoch. »Und da ich jetzt Ihre große Neuigkeit kenne, kann ich Ihnen vielleicht irgendwie vergelten, was Sie für mich getan haben. Ich könnte mich um den Laden kümmern, wenn Sie sich mal ausruhen wollen oder irgendwohin müssen.«

Belle war gerührt. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich denke, ich werde den Laden eine ganze Weile, bevor das Baby da ist, aufgeben.«

»Oh nein!«, rief Miranda. »Das dürfen Sie nicht! Sie sind so talentiert, und alle sind ganz hingerissen von Ihren Hüten. Könnten Sie nicht ein Kindermädchen einstellen?«

»Das käme für mich nie infrage«, sagte Belle entsetzt.

Miranda lachte. »Nein, wohl kaum. Aber ich bin mit einem Kindermädchen weit besser gefahren als mit meiner Mutter.«

»Eins wollte ich Sie noch fragen«, fiel es Belle ein. »Geht es Ihnen wirklich gut? Ich meine nicht körperlich, sondern ob Sie es seelisch überstanden haben?«

Mirandas Gesicht verdüsterte sich. »Ein paar Tage lang habe ich ziemlich viel geweint und mich selbst bemitleidet«, gestand sie. »Aber unten in Sussex wurde es besser. Ich bin viel spazieren gegangen, habe das Autofahren gelernt und einige Pächter von Papa besucht. Das habe ich vorher noch nie gemacht. Ich glaube, was mir passiert ist, hat mir die Augen für die wirkliche Welt geöffnet. Die Leute waren wahrscheinlich erstaunt, dass ich mich für ihre Gärten und Kinder interessiere und dafür, ob ihr Dach dicht ist oder nicht. Einige dieser Menschen waren so entsetzlich arm, dass mir klar geworden ist, dass es mir eigentlich gar nicht so schlecht geht.«

Sie plauderten, bis es für Belle Zeit war, den Laden zu schließen. Als sie hinter ihnen die Tür absperrte, legte Miranda eine Hand auf Belles Arm. »Ich hoffe, Jimmy meldet sich nicht, doch wenn er es tut, denken Sie immer daran, dass Sie in mir eine Freundin haben.«

Als Jimmy und Belle an diesem Abend zu Bett gingen, wusste sie, dass er seine Entscheidung getroffen hatte. In der Schenke war nicht viel Betrieb gewesen, und er war ständig die Treppe hinauf- und hinuntergelaufen, um sich kurz zu ihr zu setzen, ohne etwas zu sagen, und dann wieder gegangen. Sie erriet an seiner angespannten Miene, dass er mit ihr reden wollte, aber Angst hatte, es könnte zu einem Streit kommen. Belle sehnte sich nach einer Aussprache, doch sie kannte Jimmy gut genug, um zu wissen, dass er das Für und Wider einer Situation gern für sich abwog und sie es vielleicht bedauern würde, wenn sie ihm jetzt zu sehr zusetzte.

Aber als er sich nun an sie schmiegte, wie er es immer tat, konnte sie fast hören, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen.

Er hatte keine Angst um sich selbst, das wusste sie, sondern nur davor, sie zu verlassen. Und höchstwahrscheinlich würde er sich das Ganze ausreden lassen, wenn sie weinte und bettelte. Doch wäre das richtig, wenn er das Gefühl hatte, dass es seine Pflicht war, für sein Land zu kämpfen?

Wahrscheinlich war ihm klar, dass er im Railway Inn nicht unbedingt gebraucht wurde und Garth die Gaststätte auch allein führen konnte, gerade jetzt, nachdem so viele ihrer Kunden schon nach Frankreich verschifft worden waren. Vermutlich quälten ihn jedes Mal Schuldgefühle, wenn er hörte, dass sich schon wieder jemand freiwillig gemeldet hatte, während er jung und gesund war und keinen Vorwand hatte, um zu Hause zu bleiben. Dass ein Baby unterwegs war, würde kaum als stichhaltiger Grund akzeptiert werden, da sich die meisten Männer von allem, was mit Kindern zusammenhing, distanzierten und es den Müttern und Schwestern ihrer Frauen überließen, Beistand zu leisten.

Belle wusste auch, dass Jimmy ein guter Soldat sein würde; er war tapfer, stark und intelligent. Andere Männer mochten ihn, und sie zweifelte nicht daran, dass er bald befördert werden würde, weil er eindeutig Führungsqualitäten besaß.

Obwohl sie furchtbare Angst hatte, er könnte verwundet werden oder sogar sterben, war eines der Dinge, die sie am meisten an ihm liebte, sein anständiger Charakter. Sie wollte nicht, dass er seelische Qualen litt, weil er zwischen dem, was er für seine Pflicht hielt, und der Angst vor ihrer Reaktion hin- und hergerissen war. Sicher befürchtete er, sie könnte ihm vorwerfen, dass er sie im Stich ließ, und das würde einen Keil zwischen sie treiben.

Belle liebte ihn zu sehr, um seinen Zustand innerer Zerrissenheit länger mit anzusehen. Sie wollte genauso tapfer sein wie er und ihm erlauben, sich so zu entscheiden, wie er es für richtig hielt.

Sie nahm seine Hand, die auf ihrer Hüfte lag, und drückte sie. »Ich will nicht, dass du gehst«, sagte sie leise in die Dunkelheit. »Ich bin nicht wie du, König und Vaterland bedeuten mir nichts; ich bin egoistisch genug, mir zu wünschen, dass alles so ruhig und friedlich bleibt, wie es ist. Aber du hast Prinzipien, das weiß ich, und wenn du das Gefühl hast, in den Krieg ziehen und kämpfen zu müssen, dann werde ich deine Entscheidung unterstützen.«

»Wirklich?«, flüsterte er zurück. »Weißt du, obwohl ich nicht von dir getrennt sein will, ist das kein stichhaltiger Grund, mich zu drücken, wenn mein Land im Krieg ist. Fast alle Männer, die sich schon gemeldet haben, müssen eine Liebste oder Ehefrau haben, die sie nicht verlassen wollen, aber sie haben trotzdem den Mut gefunden, an die Front zu gehen. Die weiße Feder von heute wird nur die erste von vielen sein, wenn ich hierbleibe. Manche Leute werden sagen, dass ich nicht nur ein Feigling bin, sondern vom Krieg profitiere. Damit könnte ich nicht leben.«

Es ist mir ganz egal, ob du feige genannt wirst, solange du nur bei mir bist!, wollte Belle aufbegehren, doch sie biss sich fest auf die Lippe und klammerte sich an ihn. »Ich weiß. Das könnte ich auch nicht«, murmelte sie, aber es war eine Lüge.

»Ich wünschte, ich könnte glauben, dass bis Weihnachten alles vorbei ist«, sagte er und nahm sie in seine Arme. »Und ich wünschte, ich könnte dir versprechen, heil und unversehrt zurückzukommen. Aber nachdem Gott dich nach allem, was du nach deiner Entführung durchgemacht hast, zu mir zurückgeführt hat, kann er doch nicht so grausam sein und mich in Frankreich sterben lassen, wenn wir gerade unser erstes Kind erwarten, oder?«

Belle war sich nicht so sicher, ob Gott auf diese Weise vorging. Sie hielt es eher für wahrscheinlich, dass er einige Menschen immer wieder auf die Probe stellte. Jimmy und sie hatten zwei Jahre ungetrübten Glücks erlebt, und vielleicht war das alles, was sie erwarten konnten.

Er strich mit seiner rechten Hand über die leichte Wölbung ihres Bauchs, als wollte er seinem Kind sagen, dass er es liebte und vorhatte, der beste aller Väter zu sein.

»Wann willst du zur Rekrutierungsstelle gehen?«, wisperte sie.

»Morgen«, antwortete er. »Hat keinen Sinn, die Qualen zu verlängern.«

An dem Tag, als Jimmy zur Rekrutierungsstelle ging, wurde das Wetter auf einmal herbstlich. Die Temperatur fiel, und es war feucht und so windig, dass wahre Schauer goldgelber und rotbrauner Blätter, die bis vor Kurzem noch grün gewesen waren, von den Bäumen fielen. Für Belle war es wie ein Omen, dass die glückliche Zeit mit Jimmy zu Ende ging, aber sie verbiss sich die Tränen, packte dicke Socken, warme Unterwäsche, Seife und ein paar nützliche Utensilien für ihn ein und versuchte, nicht daran zu denken, dass die kostbaren zwei Tage, die ihnen blieben, durchaus die letzten sein könnten, die sie miteinander verbrachten.

An dem Morgen, als Jimmy in den Zug zur London Bridge stieg, um sich dort dem Royal Sussex Regiment anzuschließen, war der Himmel genauso bleischwer wie Belles Herz, und ein kalter Wind wehte zur Hintertür herein. Garth machte beim Frühstück fröhliche Bemerkungen über den Abschiedsabend, den sie am Vorabend im Pub veranstaltet hatten, doch es war nicht zu übersehen, dass ihm vor dem Moment graute, in dem sein Neffe abfuhr. Mog packte mit bekümmerter Miene belegte Brote und Kuchen für Jimmy ein, und Belle brachte kein Wort über die Lippen.

Um acht standen alle vier auf dem Bahnhof von Blackheath. Belle klammerte sich an Jimmy, während Mog und Garth sich umschauten. Als sich die ersten ihrer Kunden zur Armee gemeldet hatten, hatten sie beide noch draußen vor dem Wirtshaus gestanden, um ihnen zuzuwinken, aber seither hatten sie die Listen der Gefallenen gesehen und die bittere Realität des Krieges erlebt. Jetzt stand blanke Angst auf ihren Gesichtern.

»Du wirst Tag und Nacht jede Sekunde in meinem Herzen sein«, flüsterte Belle. An der Station London Bridge würde Jimmy einen Truppentransportzug nach Dover nehmen, von dort nach Frankreich übersetzen und weiter nach Etaples fahren, um dort seine Grundausbildung zu absolvieren.

Der Bahnsteig war voller Leute. Es waren ganze Scharen von Freunden und Verwandten, die den Männern das Geleit gaben. Einige waren kaum mehr als Knaben; sie wurden von Müttern und Schwestern begleitet und umsorgt, die sich die Tränen kaum verbeißen konnten. Einige Männer, die vielleicht einen Heimaturlaub hinter sich hatten, trugen schon Uniform, eine Handvoll schneidiger Offiziere, aber die überwiegende Mehrheit war in Jimmys Alter. Vermutlich hatten sie genau wie er den begeisterten Ansturm zu den Rekrutierungsbüros für unüberlegt gehalten, fanden jetzt aber angesichts der Kitchener-Plakate und weißen Federn, dass auch sie ihren Beitrag leisten sollten.

Belle fiel auf, dass eine der Frauen hochschwanger war. Ihr Gesicht war verschwollen und rotfleckig, als hätte sie die ganze Nacht geweint.

»Und du wirst jede Sekunde in meinem Herzen sein«, flüsterte Jimmy zurück. »Gewöhn dich lieber nicht daran, das ganze Bett für dich allein zu haben! Wahrscheinlich entpuppe ich mich als so schlechter Schütze, dass sie mich postwendend zurückschicken.«

Belle zwang sich zu einem Lächeln. Jimmy machte ständig solche Scherze, seit er sich gemeldet hatte. Aber er konnte ihr nichts vormachen: Er hatte Angst.

Als sie den Zug kommen hörte und wusste, dass ihr nur noch eine Minute mit ihm blieb, traten ihr die Tränen in die Augen, die sie unterdrückte, seit sie vor zwei Stunden aufgewacht war und noch einmal mit ihm geschlafen hatte. Jede Liebkosung war so zärtlich gewesen, jeder Kuss so liebevoll, dass der Gedanke, der Tod könne sie trennen, undenkbar erschienen war. Doch als jetzt der Zug immer näher kam, schien das nicht mehr so gewiss zu sein.

»Lass mich mit zur London Bridge fahren!«, bettelte sie.

»Nein, mein Liebling«, sagte er, legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Es ist schlimm genug, hier von dir Abschied zu nehmen. Dort wäre es noch schlimmer, und du müsstest allein zurückfahren.«

»Du schreibst mir doch, ja?«, fragte sie.

»Natürlich, jeden Tag, wenn ich kann, aber die Post wird wahrscheinlich eine Weile brauchen. Mach dir also keine Sorgen, wenn du nicht so bald von mir hörst!«

Jetzt ratterte die Lok mit Schwaden von Dampfwolken an ihnen vorbei. Jimmy küsste Belle noch einmal, bevor er sich umdrehte, um Mog und Garth zu umarmen.

»Pass gut auf dich auf!«, sagte Mog mit bebender Stimme.

»Immer schön den Kopf einziehen, Junge!«, brummte Garth barsch. »Überlass es anderen, den Helden zu spielen!«

Plötzlich standen alle Zugtüren offen, und der Schaffner forderte die Männer mit einem schrillen Pfiff zum Einsteigen auf.

Belle hielt Jimmy fest und umarmte ihn stürmisch. »Ich liebe dich«, flüsterte sie, während sie sich auf die Zehenspitzen reckte, um ihn zu küssen. »Pass auf dich auf!«

Er musste sich aus ihrem Griff lösen und einsteigen, aber nachdem sich die Tür geschlossen hatte, lehnte er sich aus dem Fenster und warf Belle Kusshände zu. Zum letzten Mal schrillte die Pfeife, der Zug setzte sich in Bewegung, und Belle, der Tränen übers Gesicht liefen, ging erst nebenher und wurde dann immer schneller, bis sie schließlich rannte.

Sie sah, wie sich Jimmy die Augen rieb und mit den Lippen die Worte »Ich liebe dich« formte, dann war auf einmal der Bahnsteig zu Ende, und sie musste stehen bleiben. Erst jetzt merkte sie, dass sie nicht allein war. Mindestens zwanzig andere Frauen waren wie sie dem Zug nachgelaufen. Und sie alle standen nun weinend am Ende des Bahnsteigs, bis der letzte Waggon nicht mehr zu sehen war.

Ihr wurde bewusst, dass sie zum ersten Mal erlebte, wie Gefühle in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden. Sie drehte sich zu einem Mädchen um, das noch jünger als sie selbst war und hysterisch schluchzte, und nahm es in die Arme.

»Sie kommen bestimmt zurecht«, sagte sie tröstend.

»Warum musste er das tun?«, schluchzte das Mädchen. »Ich habe ihn angefleht, nicht wegzugehen.«

»Sie glauben, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, und wir müssen stark sein und sie für ihre Überzeugungen und ihren Mut bewundern«, erwiderte Belle.

Als sie und all die Frauen umkehrten und langsam zurückgingen, streckte immer wieder die eine oder andere eine Hand aus, um sie tröstend auf eine Schulter oder einen Arm zu legen, kleine Gesten eines gemeinsamen Kummers und Verstehens. Es erinnerte Belle daran, wie es mit den anderen Mädchen in Marthas Freudenhaus in New Orleans gewesen war – eine stillschweigende, aber tiefe Verbundenheit, die auf ihre Art hilfreicher war als leere Worte.

Zwei Wochen nach Jimmys Abreise saß Belle spät am Nachmittag im Laden und las erneut den ersten richtigen Brief, den sie von Jimmy bekommen hatte. Es goss in Strömen, und draußen wurde es von Minute zu Minute dunkler, ein weiterer unerwünschter Hinweis darauf, dass der Winter nicht mehr fern war. Sie stand auf und schaltete das Licht an.

In der Vorwoche hatte sie eine Postkarte bekommen, auf der eine leicht verschwommene Ansicht des Hafens von Boulogne zu sehen war. Wahrscheinlich hatte Jimmy die Karte gleich, nachdem er an Land gegangen war, gekauft, denn er hatte sie ihr an seinem ersten Tag in Etaples geschrieben. Es waren nur ein paar Zeilen, um ihr mitzuteilen, dass er gut gelandet war und sich mit neun anderen Männern eine Unterkunft teilte. Er machte sie darauf aufmerksam, dass ihm nicht viel Zeit zum Schreiben bleiben würde, weil die Tage mit Schießübungen, Drill und körperlicher Ertüchtigung in den Dünen am Strand angefüllt sein würden.

Die erste Woche ohne ihn hatte sich zäh dahingeschleppt; Belle vermisste seinen warmen Körper neben ihr im Bett, seine Hand auf ihrem Bauch, der plötzlich dicker geworden war, seit Jimmy in Frankreich war. Sie vermisste die abendlichen Mahlzeiten mit ihm, seine Scherze über die Gäste und den Dorfklatsch. Garth und Mog bemühten sich, ihr über den Trennungsschmerz hinwegzuhelfen. Mog stahl sich abends in ihr Schlafzimmer, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben und sie gut zuzudecken, Garth putzte ihre Schuhe und erkundigte sich nach ihrem Arbeitstag. Aber so lieb und nett sie auch waren, die Lücke, die Jimmy hinterlassen hatte, konnten sie nicht füllen.

Sie alle spürten, was fehlte: sein Pfeifen, wenn er aus dem Keller kam, seine leichten Schritte auf der Treppe, sein ansteckendes Lachen und sein Charme. An einem Nachmittag war Mog in Tränen ausgebrochen, als sie Plätzchen aus dem Ofen nahm und zum Abkühlen auf ein Tablett stellte und Jimmy nicht da war, um hinter ihrem Rücken frech ein paar zu stibitzen. Garth hatte sich so daran gewöhnt, dass Jimmy den Löwenanteil an schwerer Arbeit übernahm, indem er Fässer und Bierkisten schleppte, dass ihm jetzt, da er alles selbst machen musste, der Rücken schmerzte und er Mühe hatte, alles zu schaffen, bevor das Wirtshaus aufsperrte.

Endlich einen Brief von ihm zu bekommen war für alle eine Erleichterung gewesen. Es tat gut, ein wenig über die Inhalte seiner Ausbildung zu erfahren, welche Freunde er gefunden hatte und dass er halbwegs zurechtkam.

Jimmy hatte den Brief am zweiten Abend im Trainingslager begonnen und Belle von den Männern, mit denen er in einer Baracke wohnte, der Ausbildung und sogar vom Essen berichtet. Er hatte sich mit einem Mann namens John Dixon angefreundet, der aus Woolwich stammte. Er beschrieb ihn als lustig und ein bisschen halbseiden und sagte, dass er ihn an einige der Männer in Seven Dials erinnerte.

Dann schien er mit dem Schreiben aufgehört und den Brief am nächsten Abend nach einem langen Tag mit Schießübungen fortgesetzt zu haben.

Ich habe total versagt, schrieb er. Immer wieder mussten wir auf das Ziel feuern und dann nachschauen, ob wir getroffen hatten. Meine Kugeln sind nicht mal in die Nähe der Zielscheibe gekommen, nicht ein einziges Mal. Der Sergeant hat mich einen »hirnlosen Karottenkopf« genannt und noch ein paar andere Ausdrücke für mich gefunden, die ich nicht wiederholen möchte.

Am nächsten Tag war Körperertüchtigung an der Reihe. Jimmy schaffte dreißig Liegestütze, bevor er zusammenbrach, aber von den anderen hatten die meisten nicht mehr als zehn geschafft.

Ich habe schon immer geahnt, dass es für irgendetwas gut sein muss, Fässer zu schleppen, fügte er hinzu.

Obwohl er es nicht direkt aussprach, klang es, als fände er das alles sehr anstrengend und beklemmend. Er schrieb, dass sich einige der Männer nach einem langen Lauf durch die Dünen vor Erschöpfung kaum auf den Beinen hatten halten können.

Allein die Tatsache, dass er nicht mehr als ein paar Zeilen hintereinander aufs Papier brachte, bewies, dass seine Kameraden und er von Tagesanbruch bis spät am Abend ständig auf Trab gehalten wurden. Doch ein paar Tage später berichtete Jimmy mit einigem Stolz, dass er bei den Schießübungen siebzig Treffer von hundert Schüssen erzielt und fünfzig Liegestütze geschafft habe.

Als Belle den Brief jetzt wieder las, fand sie, dass es nach dem schlimmsten aller Albträume klang – Inspektionen der Ausrüstung, Geländeläufe mit schwerem Gepäck, auf dem Bauch durch nasse Dünen robben, Bajonetttraining und schnelles Laden des Gewehrs. Er erwähnte auch, dass es ständig regnete und kalt war.

Er sprach von einem Ort, der »Arena« genannt wurde und wo sie »geschliffen« wurden, und meinte, dass Etaples ein trostloses Kaff sei, in dem es nicht einmal ein anständiges Geschäft gab. Die Bilder, die er heraufbeschwor, waren alle deprimierend, und trotzdem klang er erstaunlich fröhlich, selbst wenn er die Stiefel beschrieb, die zu seiner Ausrüstung gehörten und sich am Fuß wie ein Klumpen Blei anfühlten.

Aber das Beste an seinem Brief waren seine Gedanken an sie.

Ich stelle mir vor, wie du vor dem Frisiertisch dein Haar bürstest, wie es über deine Schultern fällt, dunkel und schimmernd wie Teer. Oder ich sehe vor mir, wie du morgens in dein Geschäft gehst, proper und adrett. Ich denke daran, wie du Äpfel isst, an das Aufblitzen deiner kleinen weißen Zähne und deine spitze rosa Zunge, wenn du dir die Lippen leckst.

Belle vermutete, dass er noch an wesentlich intimere Dinge dachte, doch nicht darüber schreiben wollte. Schließlich wusste er, dass alle Briefe durch die Zensur gingen und Belle Teile des Briefes Garth und Mog vorlesen würde. Aber er schloss mit den Worten:

Du bist Tag und Nacht in meinen Gedanken. Ich frage mich, was du gerade machst, ob du dich ohne mich einsam fühlst. Ich denke an das Baby, das in dir wächst, und bete darum, zurück zu sein, bevor es geboren wird. Hoffentlich bist du mir nicht böse, weil ich gegangen bin, obwohl du mich jetzt so sehr brauchst!

Belle hatte ihm seit seiner Abfahrt täglich geschrieben und die Briefe abends, wenn sie heimging, in den Briefkasten gesteckt. Aber es fiel ihr nicht leicht, über Dinge zu berichten, die ihn interessieren könnten, weil bei ihr ein Tag wie der andere verlief. Ihre Briefe amüsant zu gestalten erwies sich als noch schwieriger. Die meisten ihrer Kundinnen waren ganz normale Frauen, die kaum jemals etwas von sich gaben, was Jimmy auch nur im Entferntesten komisch finden könnte. Manchmal, wenn sie las, welches Abendessen Mog ihnen zubereitet hatte, oder eine Nachricht überflog, die Garth ihm von einem ihrer Kunden ausrichten ließ, fand sie, dass es kaum lohnte, den Brief zu lesen. Doch sie versuchte immer, eine alte gemeinsame Erinnerung zu finden, die ihn zum Lächeln bringen würde, und ihm zu sagen, wie sehr er ihr fehlte und was er ihr bedeutete. Und am Ende eines jeden Briefes fertigte sie eine kleine Zeichnung an, die eines Kaninchens, einer Katze oder irgendeines anderen niedlichen Tieres, und malte einen Hut dazu.

Belle griff nach dem Brief, den sie ihm früher am Tag geschrieben hatte und in dem sie von der riesigen Spinne erzählte, die an diesem Morgen auf ihrer Werkbank gehockt hatte. Belle war zu Tode erschrocken, hatte ein Glas darübergestülpt und war ins Nachbargeschäft gegangen, um Mr. Stokes, den Schuster, zu bitten, das Tier zu entfernen.

Daher zeichnete sie jetzt eine komische fette Spinne, die einen Zylinder trug, und lachte in sich hinein, als sie daran dachte, wie sehr sich Jimmy immer über ihre Angst vor Spinnen amüsiert hatte.

Die Türglocke bimmelte, und sie sprang auf und legte ihr Schreibzeug auf den Ladentisch.

Es war ein Mann in einem langen, sehr nassen Regenmantel, und einem Impuls folgend, wollte sie ihn schon bitten, ihn auszuziehen und bei der Tür aufzuhängen. Andernfalls würde er ihren ganzen Boden nass tropfen.

»Guten Tag, Sir«, sagte sie höflich. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte einen Hut kaufen«, antwortete er kurz angebunden.

»Ich führe keine Herrenhüte, Sir«, erwiderte sie. Sie nahm an, dass er einen Hut für sich suchte, da er keinen trug und sein nahezu kahler Kopf tropfnass war. »Aber ein paar Türen weiter finden Sie einen Herrenausstatter, bei dem Sie sicher bekommen, was Sie wünschen.«

»Habe ich gesagt, dass ich einen Herrenhut will?«, fuhr er sie an.

Auf einmal hatte Belle Angst. Während der Fremde von Weitem halbwegs achtbar geklungen und ausgesehen hatte, verströmte er jetzt aus der Nähe einen muffigen Geruch, der sie an Sly erinnerte, einen der Männer, die sie damals, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war, entführt hatten. Er hatte einen ungepflegten Schnurrbart, und auf seinem Kinn wuchsen Bartstoppeln. Beim genaueren Hinsehen stellte sie fest, dass sein Hemdkragen sehr schmutzig war.

»Dann wollen Sie vielleicht einen Hut für Ihre Frau kaufen?«, fragte sie.

Belle hatte sich in ihrem Geschäft noch nie gefürchtet, doch als ihr jetzt auffiel, wie dunkel es draußen auf der Straße geworden war, die noch dazu wegen des Regens menschenleer war, wurde ihr bewusst, wie leicht sie das Opfer eines Diebs werden konnte, der durchs Fenster schaute und feststellte, dass sie allein war.

»Ich will Geld«, knurrte er, steckte seine Hand in die Manteltasche und zog einen kurzen, kräftigen Holzknüppel heraus.

Belle starrte ihn fassungslos vor Entsetzen an. Er hatte sie beunruhigt, doch damit hatte sie nicht gerechnet. »Ich habe heute kaum etwas eingenommen«, brachte sie heraus. Es stimmte; sie hatte einen einzigen Hut verkauft, und er hatte nur zwei Schilling gekostet. Zusammen mit dem Wechselgeld in der Schublade waren insgesamt vielleicht sieben, acht Schilling vorhanden.

Er zog die Lippen zurück. »Lügen Sie mich nicht an! Ich weiß, dass Sie gute Geschäfte machen.«

»Aber nicht heute. Es regnet seit Stunden ununterbrochen, und es ist kalt«, sagte sie.

Er machte einen Satz nach vorn und hob drohend den Knüppel. Belle wich zurück und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. »Tun Sie mir nichts zuleide, ich gebe Ihnen alles, was ich habe!«, rief sie.

Als der erwartete Schlag ausblieb, spähte sie durch ihre Finger. Der Mann stand schon bei der Schublade, raffte die Münzen zusammen, die darin lagen, und stopfte sie in seine Jacke. Damit stand fest, dass er sie schon eine ganze Weile beobachtet hatte, denn die Schublade war winzig und nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

»Na schön, wo ist der Rest?«, fragte er und trat näher. »Wenn ich es nicht gleich kriege, schlage ich erst den Laden zusammen und dann dich!«

Belles Herz hämmerte vor Angst. Dem Mann stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, und sie spürte, dass er es ernst meinte. »Mehr ist nicht da«, wiederholte sie. »Ich habe heute nur einen billigen Hut verkauft, und mehr Geld habe ich nicht hier.«

»Lügen Sie mich nicht an!«, brüllte er. »Her damit!«

Wenn noch irgendwo Geld gewesen wäre, hätte Belle es sofort geholt. Sie hatte schon oft genug mit verzweifelten Männern zu tun gehabt, um zu wissen, dass es Wahnsinn wäre, jetzt die Heldin zu spielen.

»Ich versichere Ihnen, dass ich nicht mehr hier habe«, sagte sie panisch. »Wenn ich welches hätte, würde ich es Ihnen geben.«

Er drosch mit dem Knüppel auf ihren Drehspiegel und zertrümmerte das Glas. Unzählige Splitter fielen klirrend zu Boden. »Her damit, sonst bist du als Nächste dran!«, brüllte er sie an.

Belle wusste nicht ein noch aus. Die Hintertür war versperrt und verriegelt, und selbst wenn sie es bis dorthin schaffte, würde er sie einholen, ehe es ihr gelang, die Tür zu öffnen und zu entkommen.

»Ich kann Ihnen nicht geben, was ich nicht habe!«, rief sie. »Sie haben schon alles, was da ist.«

Er stieß ein wütendes Knurren aus, sprang auf sie zu und hieb ihr den Knüppel auf die Schulter. Belle schrie vor Schmerz, taumelte zurück und hielt sich die Schulter.

»Es ist da drin, oder?« Er zeigte mit dem Knüppel auf das angrenzende Zimmer.

Belle stand mit dem Rücken an der Wand zum Hinterzimmer. »Wenn Sie dort Geld finden, können Sie es gern behalten«, schluchzte sie.

Als er eine Bewegung machte, als wollte er sich selbst überzeugen, sah sie ihre Chance gekommen und flog zur Tür. Aber sie hatte eben erst die Klinke in der Hand, als er schon hinter ihr war, sie an der Schulter packte und zurückriss.

»Du gehst nirgendwohin, Miststück!« Er holte erneut aus und hieb ihr den Knüppel mit solcher Wucht in die Seite, dass sie einknickte und hinfiel. Doch damit gab er sich nicht zufrieden. Er holte mit einem Bein aus und trat nach ihr.

In dem Bruchteil einer Sekunde, in der er ausholte, versuchte sie mit beiden Armen, ihren Bauch zu schützen, doch es war zu spät. Der Tritt erwischte sie genau im Unterleib und schleuderte sie quer über den Boden gegen den Ladentisch.

Der Schmerz war so betäubend, dass Belle gar nicht erst versuchte aufzustehen. Stattdessen rollte sie sich blindlings zusammen. Sie hörte, wie er die Eingangstür absperrte und das Rollo herunterzog, und in der festen Überzeugung, dass er sie jetzt umbringen würde, galt ihr einziger Gedanke Jimmy. Was würde ihr Tod für ihn bedeuten?

Aber der Dieb ging nicht wieder auf sie los, stieg nur über sie hinweg und betrat das Hinterzimmer. Sie hörte, wie er herumwühlte und wie ein Berserker die Schachteln mit Nähzubehör von den Regalen riss. Sie war ziemlich sicher, dass er den Ladenschlüssel eingesteckt hatte. Zu versuchen, ans Telefon zu gelangen, kam nicht infrage, weil der brutale Kerl sie beim kleinsten Geräusch sofort daran hindern würde. Sie konnte nicht gegen ihn kämpfen, sie wagte nicht einmal, vor Schmerzen zu weinen, weil sie Angst hatte, ihn damit noch wütender zu machen. Ihr schien nichts anderes übrig zu bleiben, als regungslos und scheinbar bewusstlos auf dem Boden liegen zu bleiben, denn wenn er sich erst einmal überzeugt hatte, dass nirgendwo Geld zu finden war, würde er vermutlich verschwinden.

Es war furchtbar schwer, sich nicht zu rühren, wenn sie am liebsten vor Schmerzen geschrien hätte. Aber irgendwie schaffte sie es. Als sie hörte, dass eine Dose geöffnet wurde, blinzelte sie und sah, wie er die Kekse, die darin waren, in seine Manteltaschen stopfte.

Die Schmerzen waren so schlimm, dass sich alles um Belle herum zu drehen begann, und ihr letzter bewusster Gedanke war, dass sie sich gleich übergeben würde.

»Mrs. Reilly! Mrs. Reilly!«

Wie aus weiter Ferne hörte sie eine Männerstimme und zwang sich, die Augen zu öffnen.

»Dem Himmel sei Dank!«, rief er. »Einen Moment lang dachte ich schon …« Er brach ab. »Nein, nicht bewegen, hier liegen überall Glassplitter herum! Ich gehe Hilfe holen.«

Belle war klar genug im Kopf, um zu erkennen, dass der Mann Mr. Stokes, der Schuster von nebenan, war, doch sie wusste nicht, warum sie solche Schmerzen hatte oder inmitten von Glasscherben auf dem Fußboden lag. Es fiel ihr erst wieder ein, als sie mehrere Männerstimmen hörte und die von Dr. Towle erkannte.

Der Arzt hatte auf sie einen ziemlich blasierten Eindruck gemacht, als sie wegen ihrer Schwangerschaft bei ihm in der Sprechstunde gewesen war. Er war groß und sah mit seinem dichten schwarzen Haar und den tiefblauen Augen recht gut aus, und sie hatte den Verdacht, dass er so eingebildet wirkte, weil seine weiblichen Patienten für ihn schwärmten. Aber als sie jetzt spürte, wie behutsam und sanft er sie untersuchte, und merkte, wie aufrichtig empört er über diesen Überfall war, erkannte sie, dass er nicht nur eine attraktive Erscheinung, sondern noch dazu ein warmherziger Mensch war.

Sie schaffte es gerade noch, einem Polizisten, der ebenfalls erschienen war, den Mann zu beschreiben, der sie ausgeraubt und niedergeschlagen hatte, bevor Garth in den Laden gestürmt kam und sie mithilfe eines anderen Mannes auf eine Trage hob und nach Hause brachte.

»Sie sind Opfer eines brutalen Überfalls geworden«, sagte Dr. Towle etwas später mitfühlend, als sie daheim in ihrem Bett lag. »Doch ich habe Sie trotzdem lieber hierher als ins Krankenhaus bringen lassen, weil ich glaube, dass Sie sich schneller erholen werden, wenn Mrs. Franklin Sie pflegt.«

Belle konnte nicht einmal nicken, um ihm zu zeigen, wie froh sie war, dass sie bei Mog und Garth sein durfte.

»Ist mit dem Baby alles in Ordnung?«, brachte sie heraus, als Dr. Towle mit einem silbernen Instrument ihren Bauch abhorchte.

»Sein kleines Herz schlägt noch«, antwortete der Arzt und tätschelte beruhigend ihre Hand. »Aber da ich befürchte, dass Sie ein paar angebrochene Rippen haben, müssen Sie unbedingt im Bett bleiben. Ich habe die Rippen bandagiert, damit sie verheilen können. Doch für Ihre Schulter kann ich kaum etwas tun; sie ist nicht gebrochen, und die Schmerzen rühren von einem kräftigen Schlag. Es wird noch einige Tage wehtun, und nach einem derartigen Schock fühlt man sich eine Weile sehr elend. Aber auch das geht vorbei, und ich werde jeden Tag nach Ihnen sehen.«

Nachdem er Mog weitere Anweisungen und Belle etwas Medizin gegen die Schmerzen gegeben hatte, ging der Arzt.

»Mein armer Liebling«, murmelte Mog und beugte sich über das Bett, um Belle das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Ich hoffe bloß, sie finden den Schurken, der dir das angetan hat. Ein Polizist hat Garth erzählt, dass es letzte Woche einen ganz ähnlichen Überfall in Lewisham gegeben hat. Die Polizei glaubt, es war derselbe Mann.«

»Ich dachte, er bringt mich um«, sagte Belle schwach. »Hat er den ganzen Laden kurz und klein geschlagen?«

»Laut Garth sieht es dort verheerend aus, doch Männer übertreiben immer, wenn sie wütend sind. Ich werde morgen mal hingehen, um mir die Sache anzusehen und aufzuräumen. Aber du gehst da nicht mehr hin, mein Kind!«

»Mr. Stokes hat mich gefunden«, bemerkte Belle. »Hat er den Räuber gesehen?«

»Nur einen Mann, der in Richtung Heide geflohen ist. Anscheinend wollte Mr. Stokes gerade Feierabend machen, als der Kerl aus deinem Laden stürmte, und im selben Moment kam ein Polizist die Straße rauf. Aber Mr. Stokes hat Garth erzählt, dass er im ersten Moment dachte, du wärst tot.«

»Schreib Jimmy nichts davon!«, bat Belle sie. »Ich will nicht, dass er sich meinetwegen sorgt.«

»Darüber muss ich noch mit Garth reden«, erwiderte Mog. »Er ist außer sich vor Wut. Aber ich finde, du hast recht. Jimmy damit zu belasten bringt nichts.«

Belle fing an zu weinen, und Mog setzte sich auf die Bettkante. Sie traute sich nicht, Belle in die Arme zu nehmen, weil sie Angst hatte, ihr wehzutun, und tupfte ihr nur die Tränen vom Gesicht.

»Aber, aber, mein Schätzchen! Garth und ich sind doch da und passen auf dich auf«, murmelte sie begütigend.

»Ich habe das Gefühl, dass wieder schlimme Zeiten kommen«, schluchzte Belle. »Erst geht Jimmy zur Armee, und jetzt das! Ich hätte wissen müssen, dass unser Glück nicht ewig anhält.«