KAPITEL 21

Vera saß auf ihrem Bett und sah Belle beim Packen zu. »Du wirst mir schrecklich fehlen«, platzte sie heraus. Ihre Lippen bebten.

»Nicht so sehr, wie du mir fehlen wirst«, sagte Belle bedrückt. »Da Miranda nicht mehr lebt, habe ich zu Hause keine einzige Freundin, und wenn mir ihre Mutter über den Weg läuft, werde ich sie wahrscheinlich ohrfeigen.«

»Was ist mit deiner Mutter? Wirst du sie besuchen?«

Belle verzog das Gesicht. »Das bezweifle ich. Es war ihr nicht einmal die Mühe wert, auf den Brief zu antworten, in dem ich ihr geschrieben habe, wie es um Jimmy steht. Dem Himmel sei Dank für Mog! Zumindest sie wird sich freuen, mich zu sehen.«

»Du bringst Jimmy also direkt nach Hause?«, rief Sally ihr vom anderen Ende der Baracke zu.

Sally war seit Jimmys Verwundung viel netter geworden. Sie brühte Belle oft eine Tasse Tee auf, wenn sie von den Besuchen bei ihrem Mann zurückkam, und erkundigte sich immer nach seinem Befinden.

»Nein, er kommt in ein Genesungsheim in Sevenoaks. Ich bringe ihn noch hin und fahre dann nach Hause.«

Mittlerweile war es Oktober, und Jimmys Wunden heilten gut. An den Tagen, an denen es nicht regnete, fuhr Belle ihn häufig am Spätnachmittag in einem Rollstuhl spazieren. Aber sie konnte nicht behaupten, dass sich seine Stimmung verbessert hatte. Zu den anderen Patienten und den Krankenschwestern auf seiner Station war er nett und freundlich, doch sobald er mit Belle allein war, wurde er reizbar und düster.

Die Schlacht bei Ypern tobte immer noch. Erst vor Kurzem war es zu einem dreiwöchigen Bombardement gekommen, bei dem die Erste und Zweite Australische Division zum 23. und 41. Regiment der Briten gestoßen waren und einen Angriff auf die Straße von Menin durchführten. Die Deutschen zogen sich vor dem verheerenden Artilleriebeschuss zurück, und die Alliierten konnten endlich das Gheluvelt Plateau einnehmen. Aber wie berichtet wurde, konnte auf dem halb überfluteten Schlachtfeld von Ypern kein entscheidender Sieg verzeichnet werden. Wenn die Alliierten ein paar Hundert Meter Boden gewannen, eroberten die Deutschen ihn bald zurück. Viele Leute fanden, dass es ein völlig sinnloser Kampf war, den General Haig endlich einstellen sollte.

Aber anscheinend war Haig der Verlust von Menschenleben egal, und auch der gesunde Menschenverstand schien bei ihm zu versagen. Da die britische Armee am Ende ihrer Kräfte war, baute er darauf, dass die kanadischen, australischen und neuseeländischen Truppen eroberten, was von dem Dorf Passchendaele geblieben war. Im Lazarett fürchteten sich alle vor einem neuen Zustrom an Verwundeten, und für Vera, deren zwei Brüder dem Neuseelandkorps angehörten, waren es Tage der Angst.

Belle hätte sich darüber freuen sollen, nach Hause zu dürfen, doch ihr graute davor. Sie hatte hier zwar wirklich geschuftet, aber sie hatte völlige Freiheit von all den lästigen kleinen Einschränkungen und Benimmregeln genossen, die daheim einen Großteil ihres Lebens bestimmten. Die männlichen Fahrer behandelten sie wie ihresgleichen, ihre Röcke waren der Zweckmäßigkeit halber kürzer geworden, sie konnte ganz sie selbst sein, ohne von anderen verurteilt zu werden. Außerdem half sie gern in den Krankenstationen aus, wo sie das Gefühl hatte, gebraucht und geschätzt zu werden.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie und Mog nach Blackheath gezogen waren und ihre Tage damit verbracht hatten, die Bürger der Mittelschicht genau zu beobachten und sich ihr Benehmen und ihre Sprechweise anzueignen, um sich problemlos einzufügen. Jetzt schien das alles ebenso sinnlos wie dieser Krieg. Alles, was sie erreicht hatten, war, auf der gesellschaftlichen Leiter eine Stufe höher zu steigen, nur um von versnobten, engstirnigen Leuten, die nicht über die Grenzen ihres privilegierten Lebens hinaussahen, wieder heruntergestoßen zu werden.

Trotzdem war Belle stolz, dass sie ihren Traum, einen eigenen Hutsalon zu eröffnen, verwirklicht hatte. Wenn sie auf jene Zeit zurückblickte, auf ihre glückliche Ehe mit Jimmy, erschien ihr dieser Abschnitt ihres Lebens als goldenes Zeitalter, in dem sie geglaubt hatte, alle schlimmen Dinge der Vergangenheit lägen für immer hinter ihr.

Aber es hatte nicht sollen sein. Der Krieg war ausgebrochen, Jimmy war nach Frankreich gegangen, und sie hatte ihr Baby verloren.

Im Royal Herbert zu arbeiten und anschließend hierherzukommen hatte ihr erneut ein Gefühl von Erfüllung gegeben. Sie war zu der Meinung gelangt, dass nach dem Krieg all die Erfahrungen, die sie und Jimmy gemacht hatten, ihnen ermöglichen würden, gemeinsam ein neues Leben aufzubauen, das sogar noch besser sein würde als das erste Jahr ihrer Ehe.

Diese Hoffnung schien jetzt verloren. Ihr früher einmal so starker und unerschütterlicher Jimmy war ein gebrochener Mann und würde gänzlich auf sie angewiesen sein. Dank Blessard war ihre beschämende Vergangenheit in aller Munde. Statt der Achtung und Bewunderung, die man ihr früher entgegengebracht hatte, würde man über sie tuscheln und sie mit Missachtung strafen. Noch dazu waren ihre Mittel knapp, sodass sie es sich nicht leisten konnten, irgendwohin zu ziehen und ganz neu anzufangen.

»Was ist los?«, fragte Vera. »Du siehst aus, als würdest du gleich in Tränen ausbrechen.«

»Ich muss bloß daran denken, wie sehr ich das alles vermissen werde.« Belle brachte ein schwaches Lächeln zustande und setzte sich neben ihre Freundin aufs Bett. Sie wollte Vera keinen Kummer machen, indem sie ihr erzählte, was tatsächlich in ihr vorging. »Die Gespräche, das Lachen, das schlechte Essen. Ich weiß, dass ich mich auf mein bequemes Bett und Mogs Essen und alles andere freuen sollte, doch eigentlich habe ich ein bisschen Angst.«

Vera legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. Sie war sehr einfühlsam und ahnte vermutlich den wahren Grund für Belles Widerstreben, nach Hause zu fahren. »Alles kommt in Ordnung, da bin ich mir ganz sicher. Jimmy wird wieder ganz der Alte sein, und die Menschen in deinem Heimatort werden irgendwann vergessen, was sie in der Zeitung über dich gelesen haben. Vielleicht bekommst du ein Baby – denk doch nur, wie schön das wäre! Und ab Neujahr kämpfen die Amerikaner mit uns, und dann ist der Krieg bald vorbei.«

Insgeheim dachte Belle, dass die einzige Gewissheit bei dieser Aufzählung die Tatsache war, dass ab Januar die Amerikaner mitkämpfen würden. Doch Vera sorgte sich schon genug um ihre Brüder, ohne sich auch noch Gedanken um ihre englische Freundin machen zu müssen.

»In dem Moment, in dem ich die weißen Klippen von Dover sehe, geht’s mir wieder gut«, sagte Belle. »Und vergiss bloß nicht, mich in England zu besuchen, bevor du wieder nach Neuseeland fährst!«

»Sieh mal, Jimmy, wie schön es hier ist!«, rief Belle, als der Wagen, der sie am Bahnhof von Sevenoaks abgeholt hatte, in eine lange Auffahrt einbog, an deren Ende sich ein prächtiges georgianisches Landhaus befand.

Das Laub der Bäume an der Allee zeigte bereits herbstliche Farben. Hinter einem Gatterzaun zur Rechten grasten Schafe auf einer Wiese, und auf der linken Seite erstreckten sich ausgedehnte Parkanlagen, die von Beeten mit immer noch farbenfroh leuchtenden Chrysanthemen und Astern gesäumt wurden. Nach all der Trostlosigkeit in Frankreich tat es gut, die unveränderte englische Landschaft zu sehen.

»Es ist eines der besten Genesungsheime hier in der Gegend«, informierte sie Mr. Gayle, ihr Fahrer. Er war um die fünfzig, eine schmucke Erscheinung mit schütterem Haar und schmalem Schnurbart. Er hatte Belle erzählt, dass er Anwalt war, sich aber freiwillig gemeldet hatte, um verwundete Soldaten ins Heim zu bringen und abzuholen, weil sein ältester Sohn an der Somme gefallen war. »Hinter dieser Seite des Hauses befindet sich eine Orangerie; darin ist es sogar mitten im Winter warm, und die Männer halten sich sehr gern dort auf. Zweimal die Woche kommen Physiotherapeuten, die bringen Sie im Nu wieder in Schuss, mein Sohn. Die Damen in der Umgebung backen Kuchen und Plätzchen für die Männer und veranstalten Konzerte und dergleichen. Es war sehr großzügig von den Eigentümern, ins Witwenhaus zu ziehen, um Platz für die Soldaten zu schaffen. Ich finde es großartig, wenn jemand sein Heim für einen solchen Zweck zur Verfügung stellt.«

»Das klingt nach sehr netten Leuten, Jimmy. Stell dir vor, das eigene Heim Invaliden zu überlassen«, sagte Belle vom Rücksitz. Sie wünschte, ihr Mann würde ein bisschen Anerkennung und Freude zeigen. Frühmorgens hatten sie das Lazarett mit fünf anderen Männern verlassen, die nach Hause durften. Alle fünf waren aufgeregt gewesen und hatten sich auf daheim gefreut, sogar die, die noch schwerer verwundet waren als Jimmy. Aber er hatte ihre Scherze ignoriert und nicht ein Mal den Mund aufgemacht. Auf der Fähre von Calais hatte er darauf bestanden, dass Belle seinen Rollstuhl von den anderen wegschob, und die ganze Fahrt über mürrisches Schweigen bewahrt.

»Wenn sie ein Witwenhaus haben, ist es wohl kaum ein großes Opfer«, sagte er.

Belle war bestürzt. Jimmy hatte noch nie Ressentiments gegen die wohlhabende Oberschicht gehabt, doch jetzt schien er welche zu entwickeln. Anscheinend war ihm nicht bewusst, wie glücklich er sich schätzen konnte, an einen Ort wie diesen zu kommen, der normalerweise Offizieren vorbehalten war.

Zwei Stunden später fand Belle Mr. Gayle vor dem Haus in seinem Wagen wartend vor, um sie zum Bahnhof zu fahren. Inzwischen war es dunkel geworden und recht kühl.

»Hat sich Ihr Ehemann schon ein bisschen an seine neue Umgebung gewöhnt?«, fragte er, als er den Motor anließ.

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Er hat sich kaum dazu geäußert. Ich muss mich für ihn entschuldigen, Mr. Gayle, normalerweise ist er nicht so unhöflich, doch er ist völlig verzweifelt.«

»Männer reagieren unterschiedlich, wie Ihnen von Ihrer Tätigkeit in Frankreich sicher bekannt ist«, meinte er. »Ich habe Männer mit so schweren Verletzungen kennengelernt, dass von Lebensqualität keine Rede mehr sein kann, und die trotzdem optimistisch und guter Dinge sind, während andere mit relativ unbedeutenden Wunden über alles und jeden in Wut geraten. Aber wenn sie erst einmal das ständige Donnern der Geschütze und die Gräuel des Kriegs hinter sich gelassen haben, fangen sich im Allgemeinen sogar die schwierigsten Patienten wieder. Ihr Mann kann von Glück sagen, dass er eine so schöne und liebevolle Frau hat. Er hat einiges, wofür er dankbar sein kann. Diejenigen, die Gasangriffe erlebt haben, blind oder gelähmt sind, bedaure ich am meisten. Für sie gibt es kaum eine Zukunft.«

Belle, die Haddon Hall wunderschön fand, war Captain Taylor sehr dankbar, dass er seine Beziehungen hatte spielen lassen, um Jimmy dort unterzubringen. Man hatte Jimmy bei ihrer Ankunft in einen Rollstuhl geholfen und ihn zu einem Schlafsaal im Erdgeschoss gefahren, den er mit fünf anderen Männern bewohnen würde. Es war ein schöner heller und freundlicher Raum, und eine Wand war vollständig von Bücherregalen bedeckt, weil hier früher die Bibliothek gewesen war. Man zeigte ihnen das Badezimmer, das ganz neu ins Erdgeschoss eingebaut worden war und über ein spezielles Gestänge verfügte, um denen zu helfen, die in die Wanne steigen wollten. Es gab ein Billardzimmer, einen Salon mit bequemen Sesseln und Sofas und einem Klavier, den Speisesaal und schließlich noch die Orangerie, die Mr. Gayle erwähnt hatte. Hier fanden sich Brettspiele, Puzzles und Wasserfarben für jene, die malen konnten, und ein Mann, der beide Beine verloren hatte, bastelte gerade an einem Schiffsmodell.

Dort hatten sie auch ihren Tee mit süßen Brötchen, belegten Broten und Kuchen genommen. Alles hatte köstlich geschmeckt, doch Jimmy hatte kaum ein Wort gesagt.

»Wenn Sie ihn besuchen wollen, rufen Sie mich einfach an, dann hole ich Sie entweder selbst ab oder schicke jemand anders«, meinte Mr. Gayle und reichte ihr seine Karte. »Wir sind uns darüber im Klaren, wie schwierig es für die Ehefrauen und Mütter der Verwundeten sein kann, vor allem für diejenigen, die kleine Kinder haben und weit entfernt wohnen.«

»Ich habe schon überlegt, ob ich hier vielleicht irgendwo eine Unterkunft finden kann. Das würde mir die Besuche erleichtern«, sagte Belle. »Glauben Sie, das wäre möglich?«

»Ich kann mal meine Fühler ausstrecken«, erwiderte er. »Wären Sie vielleicht bereit, auch hier Fahrten zu übernehmen, wenn Sie schon in Frankreich Rettungswagen chauffiert haben?«

»Auf jeden Fall. Ich habe außerdem am Royal Herbert als Hilfspflegerin gearbeitet, bevor ich nach Frankreich ging«, erklärte sie. »Das würde ich auch gern wieder machen.«

»Sie sind eine sehr tapfere junge Dame«, sagte er und warf ihr von der Seite einen Blick zu. »Hoffentlich fängt sich ihr Mann wieder! Er sollte alles annehmen, was ihm an Hilfe geboten wird.«

»Er kommt bestimmt wieder zur Besinnung«, meinte Belle. »Ich werde ihn ein paar Tage in Ruhe lassen, damit er sich eingewöhnen kann. Er scheint immer besonders schlechter Laune zu sein, wenn ich bei ihm bin.«

»Wahrscheinlich hat er Angst, Sie zu verlieren«, gab Mr. Gayle zurück. »Männer können so dumm sein! Oft gehen sie genau auf die Menschen los, die sie am meisten in Ehren halten sollten.«

Belle blieb einen Moment stehen, als sie in Blackheath aus dem Bahnhofsgebäude trat. Es schien, als wären seit jenem Morgen im April, als Miranda und sie sich auf den Weg nach Frankreich gemacht hatten, Jahre vergangen. Dabei war es erst sechs Monate her. Sie erinnerte sich, wie sehr sie sich bemüht hatten, gelassen und abgeklärt zu wirken, weil Mirandas Eltern und auch Mog und Garth sie begleiteten, obwohl ihnen in Wirklichkeit vor Aufregung ganz schwindlig gewesen war. Die ganze Fahrt nach Dover hatten sie gelacht, ohne zu ahnen, dass sie sich für eine Arbeit gemeldet hatten, die ihnen alles abverlangen würde und kein bisschen glamourös war.

Innerhalb von drei Monaten hatten sie an ihren Armen Muskeln bekommen, auf die ein Preisboxer stolz gewesen wäre, sie hatten Läuse gehabt und waren so oft im Matsch ausgerutscht, dass sie es kaum noch registrierten. Sie hatten kaum jemals Zeit, sich anständig zu frisieren; im besten Fall konnten sie sich die Haare waschen und zu einem festen Knoten schlingen. An manchen Tagen wurden sie vom Regen bis auf die Haut durchnässt, an anderen waren sie schweißgebadet. Sie lebten in einer Baracke, die sich Mirandas Meinung nach nicht einmal für Vieh eignete, und aßen, was sie daheim keines Blickes gewürdigt hätten. Sie wussten, dass sie nur ein winziges Glied in der langen Kette von Kriegsfreiwilligen darstellten, aber es erfüllte sie mit Stolz, die Verwundeten so schnell und doch behutsam wie möglich ins Lazarett zu bringen und ihnen Mut zuzusprechen, so gut sie es vermochten.

Miranda hatte die große Liebe gefunden, von der sie geträumt hatte. Vielleicht waren ihr nur einige wenige Wochen mit Will vergönnt gewesen, aber wenigstens war sie nicht gestorben, ohne das Glück wahrer Leidenschaft erlebt zu haben.

Als Belle über die Straße zu den einladenden Lichtern des Railway Inn schaute, wusste sie, dass sie sich hüten musste, Mog merken zu lassen, dass auch sie selbst dieses Glück gefunden hatte. Obwohl Mog sie wohl kaum verurteilen würde, würde es ihr selbst noch schwerer fallen, Etienne aus ihrem Gedächtnis zu löschen, wenn Mog über diese Romanze Bescheid wusste.

Sie blickte die Straße hinauf und hinunter; alles sah im Licht der Gaslaternen aus wie immer. Mog und Garth würden ihr ein warmes Willkommen bereiten, sie würden sie in die Arme nehmen und ihr versichern, dass sie und Jimmy bei ihnen immer ein Zuhause hätten. Doch die anderen Menschen hier würden Belle mit Verachtung begegnen. Und damit musste sie einstweilen leben.

Sie hob ihren Koffer auf, straffte entschlossen die Schultern und überquerte die Straße.

»Belle! Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr!«, rief Mog, als sie ihr die Tür öffnete. »Du musst völlig erledigt sein. Wann seid ihr in Frankreich aufgebrochen? Wie geht es Jimmy?«

Den Ansturm an Fragen hatte Belle erwartet; sie ließ sich in die Diele ziehen und umarmen.

»Jimmy geht’s ganz gut, Haddon Hall ist sehr schön, und ja, ich bin erledigt, aber es ist gut, wieder daheim zu sein«, sagte sie, vergrub ihr Gesicht an Mogs Schulter und atmete den vertrauten Duft von Lavendel und frisch Gebackenem ein.

»Komm, trinken wir eine Tasse Tee!«, meinte Mog. »Dein Bett ist schon gemacht, und ich habe eine Wärmflasche reingelegt, damit du es schön warm und gemütlich hast. Garth lauert bestimmt schon darauf, das Lokal zu schließen, um dich zu begrüßen. In letzter Zeit ist hier nicht viel los.«

Als Mog eine Kanne Tee aufgoss und Schinken, Käse und Brot auf einen Teller legte, fiel Belle auf, dass ihr Gesicht eingefallen und ihr Haar stärker ergraut war und dass sie insgesamt stark gealtert zu sein schien. Sie trug ein marineblaues Kleid, das zwar nicht abgetragen, aber sehr unscheinbar war, wie die Kleider, die sie früher in Seven Dials getragen hatte. Es war einfach erschütternd: Blessards Artikel und Mrs. Forbes-Altons Bosheit hatten aus Mog wieder die kleine graue Maus gemacht, die Belle von früher kannte.

»Spar dir lieber alles über Jimmy auf, bis Garth da ist!«, sagte sie und stellte den Teller vor Belle auf den Tisch. »Erzähl mir einfach, wie es dir geht! Du hast in deinem letzten Brief geschrieben, dass er sehr niedergeschlagen ist. Es ist sicher für dich nicht immer leicht gewesen, nicht wahr? Aber darüber willst du in Garths Gegenwart wahrscheinlich nicht reden.«

Belle lächelte schwach. Wie einfühlsam Mog doch war! »Nein, leicht ist es nicht. Meistens ist er so unleidlich, dass ich mich wie erschlagen fühle. Doch wenn ich erst mal ein paar Nächte gut durchgeschlafen habe, wird es mir gleich besser gehen. Auf jeden Fall bin ich beruhigt, dass er jetzt in Haddon Hall ist, und alles andere muss ich eben nehmen, wie es kommt.«

»Hier im Ort wird es für dich auch nicht leicht werden«, seufzte Mog. »Die Leute schauen immer noch woandershin, wenn ich ein Geschäft betrete, und ich habe Angst, dass sie gemein zu dir sind.«

»Die ignoriere ich einfach«, sagte Belle mit mehr Tapferkeit, als sie empfand. »Aber dass du so traurig und bedrückt aussiehst, geht mir nahe.«

Mog zuckte mit den Schultern. »Garth will das Gasthaus verkaufen, wenn der Krieg vorbei ist, und nach Folkestone oder Hastings ziehen. Doch er versteht nicht wirklich, wie es für mich ist. Du kannst dir sicher denken, dass sich in seiner Gegenwart niemand traut, das Thema anzusprechen. Deshalb ist er manchmal böse auf mich, weil er glaubt, ich bilde mir die bissigen Bemerkungen und das Getuschel nur ein. Du wirst auch bald merken, dass ihm nicht wirklich klar ist, wie es um Jimmy steht. Für Garth ist er ein Verwundeter und ein Held, und ein fehlendes Bein und ein fehlender Arm sind eine Art Ehrenzeichen. Der Dummkopf denkt, dass Jimmy den ganzen Tag quietschvergnügt im Pub sitzen wird.«

Belle wand sich innerlich, denn genau diese Reaktion seines Onkels hatte Jimmy vorausgesagt. »Ich werde Garth demnächst umfassend aufklären«, sagte sie. »Wenn ich daran denke, in welcher Verfassung Jimmy momentan ist, können wir froh sein, wenn er sich überreden lässt, überhaupt nach unten zu kommen. Um ehrlich zu sein, Mog, er ist sehr bitter und verschlossen.«

»Und nicht nett zu dir?«

»Ja. Nett ist er eigentlich nicht. Na ja, er entschuldigt sich, wenn er mich anfährt, und ich weiß, dass er es im Grunde nicht so meint. Doch er verliert einfach sehr schnell die Beherrschung.«

»Du meine Güte!« Mog sank auf einen Stuhl. »So kann ich ihn mir gar nicht vorstellen. Er war doch immer so rücksichtsvoll. Aber das klingt, als hättest du es ziemlich schwer mit ihm gehabt.«

»Vielleicht war ich nicht mitfühlend genug, immerhin bin ich inzwischen daran gewöhnt, schlimme Verwundungen zu sehen. Wahrscheinlich wäre er in einem anderen Lazarett besser aufgehoben gewesen. Er hat meinetwegen eine Sonderbehandlung bekommen, und außerdem glaube ich, dass es ihm gar nicht recht war, dass ich tagsüber gearbeitet habe«, erwiderte Belle. »Ach, ich weiß nicht, Mog, vielleicht ist es bei allen Männern so, dass sie zuerst auf ihre Frauen losgehen. Erzähl Garth bitte nichts davon! Vielleicht findet Jimmy in Haddon Hall zu seinem alten Selbst zurück.«

Während Belle ihr Abendessen verspeiste, fragte sie Mog, wie es ihr und Garth ging, wie das Gasthaus lief und ob sie etwas von Noah gehört hatten.

»Er hat uns geschrieben, wie leid es ihm für Jimmy tut«, berichtete Mog. »Du kannst Jimmy den Brief mitbringen, wenn du ihn besuchst. Natürlich ist er die meiste Zeit als Kriegsberichterstatter unterwegs. Lisette hat mit Rose, dem Baby, und Jean-Philippe alle Hände voll zu tun. Noah hat versprochen, Jimmy so bald wie möglich zu besuchen. Und du musst Lisette einen Besuch abstatten. Sie möchte alles über deine Arbeit in Frankreich wissen, hat Noah geschrieben.«

Belle lächelte. Sie würde Lisette gern sehen, eine der wenigen Personen, vor denen sie ihre Vergangenheit nicht verheimlichen musste, weil Lisette ein ähnliches Schicksal erlitten hatte. Was Noah betraf, so würde Belle ihn immer besonders gernhaben. Er hatte in Paris genauso viel zu ihrer Rettung beigetragen wie Etienne, und er war der Einzige, der wusste, dass sie Etienne damals geliebt hatte, auch wenn er nie darüber sprach.

»Wie läuft das Geschäft?«, fragte Belle, die das Gefühl hatte, dass Mog diesem Thema auswich.

»Nicht allzu gut, mein Häschen. Na ja, viele von unseren jüngeren Stammkunden sind nicht übrig geblieben. Die älteren kommen immer noch, aber sie hocken stundenlang bei einem einzigen Bier. Alle sind knapp bei Kasse, und außerdem sind die Leute kriegsmüde. Alles in allem sind unsere Einnahmen deutlich zurückgegangen.«

Etwas später kam Garth in die Küche. Er strahlte, als er Belle sah, und zerquetschte sie fast in seinen Armen. »Gut, dich wieder hier zu haben! Ohne dich haben wir uns ganz verloren gefühlt.«

Wenigstens er sah mit seinem roten Haar und Bart und den Schultern, die so breit wie Scheunentore waren, beruhigend unverändert aus.

»Erzähl mir von unserem verwundeten Helden!«, sagte er. »Bekommt er eine Beinprothese?«

Belle erzählte den beiden alles, woran Jimmy sich hatte erinnern können, beschrieb die Behandlung, die er bekam, und sprach über die Möglichkeit eines künstlichen Beins. Und sie machte Garth unmissverständlich klar, welches Glück Jimmy gehabt hatte, nach Haddon Hall zu kommen. »Er wird mindestens zwei Monate dort bleiben. Ich habe daran gedacht, mir da ein Zimmer zu mieten, doch erst mal soll Jimmy sich eingewöhnen.«

»Er sollte hier bei uns sein«, brauste Garth auf. »Ihr beide könntet euch um ihn kümmern.«

Belle wurde ärgerlich. Garth meinte es gut, und es war sehr nett, dass er für Jimmy sorgen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie schwierig es sein würde, einen Amputierten zu betreuen, noch dazu in einem Haus voller Treppen und schmaler Türen.

»Er muss lernen, einige Dinge allein zu bewältigen, bevor er nach Hause kommt«, sagte Belle. »Und er muss mit dem, was ihm passiert ist, fertigwerden.«

Garth schnaubte abfällig, und Belle sah rot.

»Mog und ich sind nicht kräftig genug, um ihn auf die Toilette zu heben, und noch dazu ist er seelisch nicht in der besten Verfassung. Du glaubst vielleicht, dass es ihn glücklich macht, den ganzen Tag bei dir in der Kneipe zu sitzen und sich anzuhören, wie tapfer er ist, doch so läuft es nicht, und außerdem wäre das ganz schlecht für ihn. In Haddon Hall ist er mit Männern zusammen, die ähnliche Behinderungen haben, und bei Leuten, die ihm beibringen können, damit umzugehen. Im Moment ist er sehr verbittert; das muss er erst einmal loswerden.«

»Wir könnten den Vorratsraum zu einem Zimmer für ihn umwandeln«, schlug Garth vor und zeigte auf die Kammer, die von der Küche abging, als hätte er Belles Worte nicht gehört. »Ich kann an der Hintertreppe eine Rampe für seinen Rollstuhl aufstellen, damit er das Außenklo benutzen kann. Dann braucht ihr ihn nicht hochzuheben.«

»Er kann mit nur einem Arm nicht Rollstuhl fahren«, erwiderte Belle mit zusammengebissenen Zähnen. »Im Moment kann er sich noch nicht mal allein seine Hose ausziehen. Um Himmels willen, Garth, heb dir deine Pläne auf, bis du ihn gesehen und mit ihm gesprochen hast! Ich weiß, du meinst es gut, doch einstweilen ist er in Haddon Hall wirklich besser aufgehoben.«

Garth starrte sie einen Moment betroffen an. »So schlimm ist es also?«

Belle konnte nur nicken. Ihr war klar, dass er noch gar nicht erfasst hatte, wie stark behindert Jimmy war.

»Daran habe ich nicht gedacht«, gestand er. »Ich wollte ihn einfach hier bei mir haben.«

»Ich weiß«, sagte sie. Angesichts der Zuneigung zu seinem Neffen, die aus seinen Worten klang, löste sich ihr Ärger in Luft auf. »Aber wir müssen uns alle noch ein wenig gedulden, bis wir wieder eine richtige Familie sind.«

Er kam zu ihr und zog sie an seine breite Brust. »Wenigstens haben wir dich wieder«, sagte er rau. »Du siehst mitgenommen aus und bist viel zu dünn, doch das kriegen Mog und ich schon wieder hin.«

Belle lehnte sich an ihn. Es war tröstlich, dass Garth nach wie vor ein unerschütterlicher Fels in der Brandung war, wie schlimm die Dinge auch stehen mochten. Welche Schwierigkeiten ihnen auch bevorstanden, Belle spürte, dass sie sie zusammen bewältigen würden.

In der ersten Woche daheim fühlte sich Belle völlig verloren. Sie hatte keine Beschäftigung; Mog kochte und putzte, Garth führte die Kneipe, und für sie blieb nichts zu tun übrig. Sie kramte ihre alten Kleider heraus und stellte beim Anprobieren fest, dass sie ihr alle zu weit waren, weil sie tatsächlich abgenommen hatte. Aber sogar ihre alten Lieblingsstücke wirkten jetzt zu bunt und mondän und ließen sie wie die unmoralische Frau aussehen, für die sie sich hielt.

An ihrem ersten Morgen in Blackheath wurde sie beim Bäcker geschnitten. Zwei Frauen, die sie flüchtig kannte, wandten sich bei ihrem Eintreten demonstrativ ab, als litte sie an einer ansteckenden Krankheit. Sie kaufte das Brot, das Mog haben wollte, und hörte beim Gehen, wie die beiden über sie sprachen.

»Was für eine Unverschämtheit, sich wieder hier blicken zu lassen!«, sagte die eine.

»Ihre arme Tante kann einem leidtun«, fügte die andere hinzu.

Auch wenn es sie Mühe kostete, ging Belle sofort hocherhobenen Hauptes zum Railway Inn zurück, innerlich jedoch war ihr zum Heulen zumute. Den Rest des Tages blieb sie im Haus und schützte Müdigkeit vor, statt zuzugeben, was passiert war.

Als sie später in ihrem Schlafzimmer am Fenster saß, dachte sie daran, wie glücklich Jimmy und sie gewesen waren, als sie dieses Zimmer kurz vor der Hochzeit gemeinsam hergerichtet hatten. Keiner von ihnen hatte jemals zuvor tapeziert, und eine ganze Tapetenrolle war draufgegangen, weil sie sie mit den Händen durchstießen, die Bahnen schief aufklebten oder das Papier einrissen, bevor sie den Dreh heraushatten. Aber sie hatten so sehr gelacht, weil ihnen die Vorstellung, sich ihr eigenes kleines Reich zu schaffen, Freude bereitet hatte. Belle konnte die Mängel sehen – Bahnen, wo das Muster nicht übereinstimmte, kleine Stellen, wo sich die Tapete von der Wand löste, hier und dort eine Blase, die sie übersehen hatten. Doch das hatte sie genauso wenig gekümmert wie die Tatsache, dass die Möbel aus zweiter Hand waren. Belle hatte die spitzenbesetzte Tagesdecke und die Vorhänge genäht, und Jimmy hatte den verschrammten Frisiertisch und den Schrank mit Sandpapier bearbeitet und beides frisch lackiert.

Ihr Hochzeitsbild stand jetzt wieder an seinem alten Platz auf dem kleinen Tisch neben dem Bett, eine weitere Erinnerung daran, wie sehr sie an jenem Tag daran geglaubt hatten, auch für sie würde es heißen »… und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende«. Belle war erst dreiundzwanzig, und die Vorstellung, jahrelang in einem Ort zu leben, dessen Bewohner sie ablehnten und Jimmy bemitleideten, war einfach unerträglich.

Eine Woche nach Jimmys Aufnahme in Haddon Hall fuhr Belle ihn zum ersten Mal besuchen. Sie hatte sich mit ihrem Aussehen wirklich Mühe gegeben, weil sie glaubte, ihm damit eine Freude zu machen. Am Vortag hatte sie sich das Haar gewaschen und trug es in dem Stil, der ihm gefiel: aufgesteckt mit ein paar losen Locken, die um ihr Gesicht fielen. Sorgfältig hatte sie das rote Wollkostüm, das er ihr zu ihrem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest geschenkt hatte, geändert, damit es besser saß, und den Rock auf Knöchelhöhe gekürzt, wie sie es in einem Modejournal gesehen hatte. Auch den rot-blauen Hut hatte er immer besonders gerngehabt; er thronte in einem kecken Winkel schräg auf ihrem Kopf und musste gut befestigt werden. Über dem Kostüm trug Belle ihr marineblaues Cape mit Pelzkragen, weil es sehr kalt geworden war.

»Sie sehen hinreißend aus«, stellte Mr. Gayle fest, der vor dem Bahnhof auf sie wartete, und hielt ihr die Tür auf. »Das sollte Ihren Mann wirklich aufmuntern. Ist es schön, wieder daheim bei der Familie zu sein?«

»Ja. Obwohl es ein bisschen ungewohnt ist, so wenig zu tun zu haben. Die Zeit will und will einfach nicht vergehen. Aber das ändert sich bestimmt, wenn Jimmy nach Hause kommt.«

Der Wind fegte die Blätter von den Bäumen und hinterließ auf den Wegen einen dichten Laubteppich. Belle fror, und sie musste an Etienne denken, der zu allen Entbehrungen des Soldatenlebens jetzt auch noch mit eisiger Kälte fertigwerden musste.

»Ich habe gestern kurz mit Ihrem Mann gesprochen«, berichtete Mr. Gayle und lenkte ihre Gedanken wieder auf ihren Besuch bei Jimmy. »Er wirkte wesentlich entspannter und freute sich darauf, Sie zu sehen. Tut mir leid, dass ich Sie heute nicht zum Bahnhof zurückbringen kann, doch gegen halb fünf wird Mrs. Cooling, die Frau eines anderen Patienten, hier abgeholt, und ihr Fahrer kann Sie auch gleich mitnehmen.«

Belle bedankte sich und fragte ihn, wie er und seine Frau den Verlust ihres Sohns verkraftet hatten.

»Am Anfang gar nicht gut«, gab er nachdenklich zu. »Wir waren zornig und bitter und haderten mit unserem Schicksal. Aber so viele Menschen haben Söhne, Brüder und Ehemänner verloren. Wir sind mit unserem Kummer nicht allein. In unserem Dorf lebt eine Witwe, deren drei Söhne alle im Krieg gefallen sind. Wir haben zum Glück noch zwei Töchter und einen zweiten Sohn, der zu jung ist, um eingezogen zu werden. Etwas für die Verwundeten zu tun hilft uns. Einige der jungen Männer aus Haddon Hall sind uns richtig ans Herz gewachsen. Manchmal, wenn ich die furchtbaren Verletzungen sehe, die viele von ihnen davongetragen haben, und mir vorstelle, wie schwer sie es im Leben haben werden, bin ich fast froh, dass unser John gleich tot war.«

»Ja, es ist ein grausames Schicksal«, stimmte Belle zu. »Ich habe so viele Invaliden in Frankreich und hier im Royal Herbert gesehen und mich oft gefragt, wie ihre Familien es wohl schaffen, den Alltag mit ihnen zu bewältigen.«

»Aber der Zustand Ihres Mannes wird sich verbessern.« Mr. Gayle legte kurz eine Hand auf ihren Arm. »Vertrauen Sie darauf! Das Leben wird für Sie nicht mehr so sein, wie es vor dem Krieg war, doch Sie werden wieder glücklich, Sie beide.«

»Ja, natürlich.« Seine Güte rührte sie. »Wir haben viel, wofür wir dankbar sein können, und wenigstens habe ich ein bisschen Erfahrung mit den Problemen, mit denen Jimmy sich auseinandersetzen muss.«

»Er hat mir erzählt, dass Sie früher Modistin waren. Vielleicht könnten Sie zu Hause wieder Hüte anfertigen, damit Sie ein bisschen Ablenkung haben und noch dazu Geld verdienen.«

»Das wäre eine Möglichkeit.« Belle lächelte ihn an. Sie mochte diesen Mann, seine Warmherzigkeit, Güte und praktische Art. Insgeheim schwor sie sich, nicht länger in Selbstmitleid zu versinken.

Jimmys Laune war deutlich besser geworden. Er strahlte Belle an, als sie in die Orangerie kam, und stellte sie mit unverhohlenem Stolz seinen drei Gefährten vor.

Fred, der knapp neunzehn war, hatte beide Beine verloren, Henry ein Bein, und Ernest war blind und aufgrund einer Verletzung der Wirbelsäule teilweise gelähmt. Belle unterhielt sich mit jedem von ihnen, fragte, woher sie kamen und wie lange sie in Haddon Hall bleiben würden. Alle drei stammten aus Südlondon, doch nur Ernest war schon seit über drei Monaten hier.

»Meine Leute kommen nicht damit zurecht, wenn ich daheim bin«, sagte er bemerkenswert fröhlich. »Aber ich will auch gar nicht nach Hause. Mir gefällt’s hier.«

Etwas später schob Belle Jimmy in seinem Rollstuhl in den Salon, damit sie ein wenig für sich sein konnten. Sie kniete sich neben den Stuhl und küsste ihn, und er reagierte darauf zum ersten Mal mit Enthusiasmus.

»Schon besser«, meinte sie und kauerte sich auf die Fersen. »Ich habe allmählich schon befürchtet, dass dieser Teil von Jimmy in Ypern geblieben ist.«

Er lächelte beschämt. »Ich war ein ziemlicher Idiot und viel zu sehr damit beschäftigt, mich selbst zu bemitleiden.«

»Dazu hattest du jedes Recht«, sagte sie. »Und jetzt erzähl mir, wie es dir hier ergangen ist!«

Während Belle ihm aufmerksam zuhörte, wurde ihr klar, dass es mehr als jede Therapie die Ruhe und der Frieden, die Wärme und Behaglichkeit waren, die Jimmys Stimmung verbessert hatten. Im Gegensatz zum Lazarett in Frankreich, wo ständig das Donnern der schweren Geschütze in der Ferne und die Jagdbomber über ihren Köpfen zu hören gewesen waren, gab es hier nur das Rauschen des Windes und das Zwitschern der Vögel, und gelegentlich hörte man, wie jemand Holz hackte.

Auch die Gesellschaft der anderen Patienten war hilfreich, weil einige von ihnen, zum Beispiel Ernest, viel schlimmer dran waren als Jimmy und nie Besuch von ihren Familien bekamen. Jimmy sprach voller Bewunderung über seinen neuen Freund. Er schien optimistischer zu sein, was den Umgang mit seiner Behinderung betraf, weil man ihm gesagt hatte, dass er demnächst eine Prothese bekommen könnte, mit deren Hilfe er auf Krücken gehen oder für kurze Strecken den Rollstuhl bewegen konnte. Doch zunächst musste der Armstumpen vollständig verheilen.

Jimmy hatte viel gelesen und gelernt, Schach zu spielen, und erzählte lachend, dass er auf seinem gesunden Bein vom Rollstuhl zum Esstisch, zur Toilette oder ins Bett hüpfen konnte.

»Das einzige Problem ist, das Gleichgewicht zu behalten«, gestand er kleinlaut. »Gestern Abend habe ich nicht aufgepasst, bin hingefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Einer der Jungs hat gemeint, ich soll mir Gewichte an den linken Arm hängen.«

Belle wurde warm ums Herz, als sie ihn über seine Behinderung scherzen hörte. Sie hatte befürchtet, das würde nie passieren.

»Würde es dir gefallen, wenn ich mich hier irgendwo einmiete?«, fragte sie ihn ein wenig später. »Dann könnte ich dich jeden Tag besuchen kommen, und Mr. Gayle meint, ich könnte Patienten und ihre Angehörigen chauffieren.«

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte er, und die plötzliche Schärfe seines Tonfalls überraschte sie. »Du warst lange genug von zu Hause weg, und außerdem würde man nicht wollen, dass du jeden Tag herkommst.«

Auf der Heimfahrt dachte Belle immer wieder über Jimmys Worte nach. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man es in Haddon Hall nicht gutheißen würde, wenn sie ihren Mann jeden Tag besuchte; das hätte Mr. Gayle ihr bestimmt gesagt. Aber die Worte »Du warst lange genug von zu Hause weg« verrieten ihr einiges. Jimmy wollte, dass Mog und Garth ein Auge auf sie hatten; er vertraute ihr nicht mehr!

Sie konnte ihm nicht böse sein, weil sie wusste, dass sie sein Vertrauen nicht verdiente, doch es stimmte sie traurig, dass er glaubte, sie würde sich wegen seiner Verletzungen einen anderen Mann suchen. War ihm nicht klar, warum sie vorgeschlagen hatte hierherzuziehen? Sie wollte doch nur in seiner Nähe sein.

Der November brachte starken Dauerregen, der nicht einmal einen kurzen Spaziergang erlaubte, um sich die Zeit zu vertreiben. Mog ging in ihren häuslichen Pflichten auf und wollte keine davon abgeben, sosehr Belle sie auch darum bat.

»Ich erledige das gern alles auf meine Art«, sagte sie bestimmt. »Du kannst ja ein Buch lesen oder ein bisschen zeichnen. Du würdest mir bloß im Weg stehen.«

Belle bot Garth an, ihm im Keller zu helfen, doch das wollte er nicht, weil es »Männerarbeit« war. Sie konnte sehen, dass ihm der Rücken vom Schleppen der schweren Bierfässer wehtat, und erinnerte ihn daran, dass sie es gewohnt war, noch schwerere Lasten zu tragen, aber er lehnte ihre Hilfe trotzdem ab.

Sie versuchte zu zeichnen, doch die einzigen Bilder, die sie vor sich sah, waren Szenen aus dem Lazarett in Frankreich und vom Bahnhof, wo die Verwundeten abgeholt wurden. Sie fertigte ein paar Zeichnungen an, legte den Block aber bald weg. Solche Bilder zu malen deprimierte sie und erinnerte sie noch dazu schmerzlich an die guten Freunde, die sie in Frankreich gefunden hatte.

Am zweiten Sonntag nach Jimmys Heimkehr fuhren Garth und Mog zusammen mit Belle zu ihm. Es war ein schöner Tag. Mog hatte Kuchen gebacken und Marmelade eingekocht, und Garth und sie waren glücklich, sich mit eigenen Augen überzeugen zu können, dass Haddon Hall genauso war, wie Belle es beschrieben hatte. Mog weinte, als sie Jimmy sah, und sogar Garths Augen wurden feucht. Da es ein trockener, sonniger Tag war, fuhren sie Jimmy im Rollstuhl spazieren und erfreuten sich am Anblick der lieblichen Landschaft in all ihrer herbstlichen Pracht.

Jimmy war bester Laune. Als sie nach Haddon Hall zurückkehrten, demonstrierte er sogar seine Hüpftechnik, um vom Rollstuhl bis zum Tisch in der Orangerie zu kommen. Aber als Garth ihn fragte, wann er nach Hause kommen würde, antwortete er rundheraus, dass er es damit nicht eilig hätte.

»Hier bin ich besser aufgehoben«, sagte er und machte dabei ein Gesicht, als fühlte er sich in die Enge getrieben. »Ich mag die Ruhe und die Gesellschaft anderer, wenn mir danach zumute ist. Im Pub kann ich dir sowieso nicht helfen.«

Zum Glück erhob Garth keine Einwände. Vielleicht war ihm selbst klar, dass sein Neffe einstweilen besser blieb, wo er war, doch später auf der Heimfahrt bemerkte Mog:

»Er hat Angst, dass die Leute ihn anstarren und mit Fragen über den Krieg löchern. Wie können wir ihm klarmachen, dass es in London nur so von Verwundeten wimmelt? Die meisten Menschen haben Verwandte oder enge Freunde verloren, und niemand wird ihm irgendwelche Fragen stellen.«

Obwohl Belle seit ihrer Rückkehr aus Frankreich nicht viel ausgegangen war, wusste sie, dass Mog recht hatte. Fast jeder Mann unter fünfzig, den sie sah, trug entweder Uniform oder war kriegsversehrt. Gleich am ersten Tag hatte sie der traurige Anblick eines Mannes, der beide Beine verloren hatte und vor dem Bahnhof bettelte, tief erschüttert, und Mog hatte ihr erzählt, dass man so etwas in Lewisham noch viel öfter zu sehen bekam.

»Na ja, ewig kann der Junge nicht in Haddon Hall bleiben«, brummte Garth.

Als Weihnachten näher rückte, nahm Belle all ihren Mut zusammen und suchte Jimmys Arzt in dessen Praxis in Sevenoaks auf, bevor sie nach Haddon Hall ging.

Dr. Cooks Praxis befand sich im Vorderzimmer seines Hauses, einer Villa in der Nähe des Bahnhofs. Belle hatte ihn schon zweimal in Haddon Hall gesehen, aber noch nie mit ihm gesprochen. Er war um die sechzig, stämmig und weißhaarig, und fuhr immer in seinem Ponywagen nach Haddon Hall.

Sowie sie ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß, fielen Belle seine freundlichen hellblauen Augen und seine klare, rosige Haut auf, und sie hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können.

»Wird es nicht Zeit, dass mein Mann nach Hause kommt?«, fragte sie. »Ich weiß, dass er dagegen ist, aber er hat jetzt eine Armprothese und kommt ganz gut mit seinen Krücken zurecht. Ich finde, er sollte nun zu Hause bei mir sein.«

»Sie wollen ihn daheim haben?« Er klang überrascht.

»Ja, natürlich, und sein Onkel und seine Frau, bei denen wir wohnen, wollen es auch. Hat er Ihnen das nicht gesagt?«

»Nicht direkt. Ich hatte den Eindruck, dass es seiner Meinung nach problematisch ist, sich in das Leben in einem gut besuchten Gasthaus einzufügen. Da wir sein Bett in Haddon Hall brauchen, hatte ich ohnehin vor, mit Ihnen zu sprechen.«

Belle runzelte die Stirn. »Sein Onkel führt das Gasthaus, und seine Frau kümmert sich um den Haushalt. Ich habe dort eigentlich nichts zu tun und kann Jimmy betreuen. Die einzige Schwierigkeit sind die Treppen, doch in Haddon Hall kommt er auch die Treppen hinauf und hinunter, sei es auch auf seinem Allerwertesten.«

Dr. Cook lächelte. »Ja, das habe ich selbst gesehen, und tatsächlich ist er ziemlich fix. Sagen Sie, Mrs. Reilly, warum, glauben Sie, widerstrebt es ihm, nach Hause zurückzukehren?«

»Sein Onkel und seine Frau glauben, er befürchtet, die Leute könnten ihn anstarren, aber ich bin anderer Meinung. Ich nehme an, er hat Angst vor …« Sie stockte, weil sie nicht wusste, wie sie sich ausdrücken sollte.

»Vor ehelichen Pflichten?«, ergänzte der Arzt.

Belle wurde rot. »Ja. Er hat in Frankreich etwas in der Art angedeutet. Damals ging es ihm noch sehr schlecht, und ich war überrascht, dass er überhaupt daran dachte! Seither habe ich ein paar Mal versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er stellt sich einfach taub.«

»Diese Art Problem ergibt sich häufig bei Amputierten. Sie haben das Gefühl, kein vollwertiger Mann mehr zu sein, und stoßen lieber die Frau, die sie lieben, von sich, als das Risiko einzugehen, sich lächerlich zu machen oder zu versagen.«

»Er muss doch wissen, dass ich mich nie über ihn lustig machen würde! Ich habe einen Großteil des Krieges damit verbracht, mich um Verwundete zu kümmern.«

»Männer, die das durchgemacht haben, was er hinter sich hat, hören nicht immer auf die Stimme der Vernunft. Es ist alles hier drinnen«, erklärte er und tippte an seinen Kopf. »Die Gräuel, die diese Männer erlebt haben, die Angst während der Angriffe, der Kanonendonner, sogar Schuldgefühle, weil sie überlebt haben und viele ihrer Kameraden nicht. Fügen Sie dem einen stark beschädigten Körper hinzu, und Sie haben einen Mann, der sich wertlos fühlt.«

»Wie kann ich ihm denn sein Selbstwertgefühl wenigstens teilweise zurückzugeben?«

»Ich werde ihm mitteilen, dass wir sein Bett brauchen und dass er gesund genug ist, um heimzukehren. Das könnte ihn ängstigen. Geben Sie einfach nicht zu viel darauf! Keine Willkommensfeier, keine Leute, die auf einen Sprung vorbeikommen, um ihn zu sehen. Versuchen Sie, alles so normal und ruhig wie möglich ablaufen zu lassen! Vielleicht bittet er darum, in einem anderen Zimmer zu schlafen als Sie. Ich habe Männer gekannt, die darauf bestanden haben, auf dem Fußboden zu schlafen. Ersticken Sie derartige Versuche gleich im Keim, ohne viel Aufhebens darum zu machen! Wenn er seinen Willen durchsetzt, kommt es vielleicht nie wieder zu einer Annäherung. Er wird bestimmt Albträume haben und manchmal vielleicht sogar Ihnen gegenüber aggressiv sein. Doch wenn es Ihnen gelingt, liebevoll zu bleiben, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, wird er allmählich wieder zu dem Mann werden, der er früher einmal war.«

»Was, wenn nicht?«, fragte sie leise.

Dr. Cook lächelte sie an. »Ich bin fest überzeugt, dass eine schöne, tapfere und liebende Frau wie Sie alles erreichen kann, was sie sich vornimmt. Fahren Sie heute nach Hause und richten Sie sich darauf ein, Jimmy Weihnachten daheim zu haben!«