KAPITEL 29

Überall in London läuteten Glocken, um das Ende des Krieges zu verkünden. Die Menschen waren auf den Straßen, schrien und lachten und umarmten einander vor Freude.

Obwohl Mog und Belle glücklich und erleichtert waren, dass endlich alles vorbei war, und früher am Tag nach draußen gegangen waren, um in den Jubel der Menge einzustimmen, war ihnen wie so vielen anderen, die Ehemann, Sohn oder Bruder verloren hatten, nicht unbedingt nach großartigem Feiern zumute.

Sie hatten den Tag mit Ordnen und Packen verbracht, und nachdem das erledigt war, vor dem Kamin gesessen und über die guten Zeiten vor dem Krieg geredet. Morgen, am zwölften November, würden sie das Railway Inn endgültig verlassen.

Ein Herr namens Charles Wyatt wollte das Lokal kaufen, und da ihm daran gelegen war, möglichst bald wieder zu eröffnen, hatte Mog es ihm vorübergehend vermietet, bis Garths Testament offiziell bestätigt war. Wenn alles geregelt war, würde der Notar in ihrem Namen den Kaufvertrag mit Wyatt abschließen und die Kaufsumme an Mog überweisen.

Dank Noah und seiner Kenntnisse in geschäftlichen Angelegenheiten klappte alles bestens, weil Mog bis zum Verkauf von Wyatt Miete bekommen würde. Charles Wyatt war begeistert, dass er sofort einziehen konnte, und Mog und Belle konnten mit dem Wissen ausziehen, dass das Haus in guten Händen war. Wyatt hatte bereits sämtliche Lagerbestände und einen Großteil von Mogs Möbeln gekauft.

Sie hatten entschieden, dass Neuseeland der Ort war, an den es sie zog. Nach Veras Abreise hatten sie endlos darüber diskutiert, und seltsamerweise war es Mog, die unbedingt auswandern wollte. »Schließlich hat es in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Abenteuer gegeben, und von einem Ausflugsdampfer auf der Themse abgesehen, bin ich noch nie auf einem Schiff gewesen«, hatte sie lachend erklärt.

Belle hatte etliche Gegenargumente vorgebracht – Mog könnte seekrank werden und während der ganzen Überfahrt leiden, sie könnte es langweilig finden, in einem kleinen, abgeschiedenen Ort ohne Theater, Warenhäuser, Straßenbahnen und Märkte zu leben. Sosehr es sie selbst nach Neuseeland zog – Belle wollte absolut sicher sein, dass Mog wusste, worauf sie sich einließ.

Aber die Ältere lachte nur. »Ich war in meinem ganzen Leben nur zweimal im Theater, eigentlich habe ich mich fast immer im Haus aufgehalten, um zu kochen und zu putzen. Ich möchte neue Orte sehen und Speisen kosten, die ich noch nie probiert habe. Mir gefällt die Vorstellung, einen ganz neuen Anfang zu machen, wirklich gut.«

Noah war sehr betroffen, als sie ihm ihre Absicht mitteilten. Er fand, dass es nach einem drastischen Schritt klang, und fragte, ob sie damit nicht lieber noch ein, zwei Jahre warten wollten. Aber als er sah, wie ernst es ihnen war, gab er zu, dass sein Verhalten egoistisch war, weil er sie schrecklich vermissen würde. »Neuseeland ist ein wesentlich angenehmeres Land zum Leben«, stimmte er ihnen zu. »Es gibt dort keine langen, kalten Winter; da gelingt es euch bestimmt, die Vergangenheit hinter euch zu lassen.« Doch er nahm Mog das Versprechen ab, ein wenig Geld vom Erlös des Lokals beiseitezulegen, für den Fall, dass sie nach England zurückwollten.

Alle Lieblingssachen von Mog, Dinge, die Garth und sie gemeinsam gekauft oder geschenkt bekommen hatten, unter anderem ein samtbezogener Lehnstuhl, ihre Nähmaschine, ein verschnörkelter Frisiertisch aus Mahagoni, eine Kommode und ihr Ehebett, sollten in einem Lager untergebracht werden, bis sie nach Neuseeland verschifft werden konnten. Belle hatte nur die kleinsten ihrer Habseligkeiten und ihr Werkzeug zum Anfertigen von Hüten eingepackt.

Für die Übergangszeit bezogen sie eine schöne Wohnung in St. John’s Wood. Sie gehörte einem Freund Noahs, der nach Amerika gegangen war und sich freute, verlässliche Mieter zu haben. Wenn alles nach Plan lief, würden sie im Februar nach Neuseeland aufbrechen.

»Ich hatte vergessen, wie kalt es hier im Haus werden kann«, brummte Mog, schlang einen Schal um die Schultern und rückte näher an den Kamin. »Aber ab morgen haben wir es schön warm. Kaum zu glauben, dass wir in einer Wohnung leben werden, wo es in jedem Zimmer eine Heizung gibt. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Belle lächelte. In dem Wohnhaus, in das sie zogen, gab es im Keller einen Boiler, von dem durch Röhren warmes Wasser nach oben in die Heizkörper gelangte. Für Mog war das ein kleines Wunder; sie war immer noch nicht überzeugt, dass niemand von ihnen erwartete, den Boiler selbst in Gang zu halten.

»Und noch dazu eine helle Küche und ein riesiges Bad mit fließend warmem Wasser«, erinnerte Belle sie. »Wir werden uns kaum wiedererkennen. Und wir können Lisette und die Kinder öfter sehen.«

»Willst du nicht doch mal rausgehen und nachschauen, was da draußen los ist?« Mog zeigte mit dem Daumen zum Fenster. Der Lärmpegel war den Tag über ständig gestiegen, weil sich alle möglichen Leute zum Feiern auf der Straße eingefunden hatten, und trotz des Zettels am Eingang, auf dem stand, warum geschlossen war, war immer wieder laut an die Tür gehämmert worden. Es schien seltsam, ein derartiges Getöse zu hören; Blackheath war immer so ruhig und friedlich gewesen.

Belle schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Es ist kalt, und ich bin lieber hier bei dir und erinnere mich an die guten Zeiten.«

Mog lächelte. »Und davon hat es eine Menge gegeben. Meine Hochzeit … die Eröffnung deines Ladens. Erinnerst du dich noch, wie das ganze Wohnzimmer voller Hüte, Federn und Stoffblumen war? Dann deine Hochzeit. Und Garth war so betrunken, dass ich ihn die ganze Nacht unten im Schankraum auf dem Fußboden liegen lassen musste.«

Belle lachte. Sie hatten versucht, ihn nach oben zu befördern, waren aber gescheitert, weil er schwer und unbeweglich wie ein nasser Sack war.

Sie erinnerte sich auch an ihre erste Liebesnacht mit Jimmy. Er war so nervös gewesen, dass sie ihn hatte ausziehen müssen, und rasch unter die Bettdecken geschlüpft, um seine Nacktheit zu verbergen. Aber als sie sich ausgezogen hatte, hatte er sie mit Blicken verschlungen.

»Du bist so schön«, hatte er mit solcher Andacht gesagt, dass ihr Tränen in die Augen getreten waren. »Womit habe ich so ein Glück verdient?«

Sie schenkte zwei Gläser mit dem Champagner voll, den sie von unten gerettet hatte, und hielt eines davon an seine Lippen. »Weil irgendjemand da oben wusste, was für ein guter Mann du bist und was für ein schlimmes Mädchen ich sein kann, und daraufhin beschloss, dass du mich retten musst.«

Während er den Champagner trank, wanderte seine Hand zu ihren Brüsten. Sie hatte Angst gehabt, er könnte grob sein und sie an Momente in ihrer Vergangenheit erinnern, die sie vergessen wollte. Aber seine Berührung war zärtlich und erotisch, und sie war sofort erregt. Als sie zu ihm unter die Decke glitt und ihre Haut auf seine traf, stöhnte er vor Wonne und schloss sie in die Arme.

»Auf diesen Augenblick warte ich schon seit Monaten«, sagte er, bevor er sie küsste.

Das erste Mal war schnell und wild, obwohl in jeder seiner Berührungen Zärtlichkeit lag, in jedem seiner leidenschaftlichen Küsse Liebe. Und obgleich es für sie zu bald vorbei war, spürte Belle, dass sie erst das Hors d’œuvre gehabt hatte und das Festmahl noch ausstand.

Wie recht sie hatte! Beim nächsten Mal kam es ihm nur darauf an, ihr Glück zu schenken, das Tempo war langsam und sinnlich, und er hielt ihr den Mund zu, weil sie so viel Lärm machte.

Später mussten sie endlos darüber kichern und zogen sich die Daunendecke über den Kopf, damit Garth und Mog sie nicht hören konnten. Belle bezweifelte, dass sie je im Leben wieder so unbeschwert glücklich sein würde. Noch immer empfand sie Trauer darüber, wie sehr der Krieg sie beide für immer verändert hatte.

Mog weinte nach wie vor noch oft, weil sie Garth verloren hatte. Aber die freudige Erregung über den Beginn eines neuen Lebens in Neuseeland und all die Packerei und anderen Aufgaben, die erledigt werden mussten, halfen ihr, auf andere Gedanken zu kommen. Als sie die Tür des Railway Inn zum letzten Mal abschloss, verkündete sie tapfer, dass sie nicht mehr weinen, sondern nur noch im Gedenken an die schönen Zeiten, die Garth ihr beschert hatte, lächeln würde.

Sie hörten immer noch von Nachbarn, die an der Grippe gestorben waren, und es war erschreckend, in der Zeitung zu lesen, dass sich die Krankheit weltweit ausgebreitet hatte. Doch heute war das Kriegsende das einzige Thema; Rationierungen, Bombenschäden und andere Unbilden wurden beiseitegeschoben, weil bald all die Männer, die überlebt hatten, heimkehren würden.

Am zwölften Januar 1919 kam Noah erst spät nach Hause. Lisette saß im Wohnzimmer vor dem Feuer und flickte.

»Du bist sehr spät dran«, stellte sie fest. »Aber ich habe dein Essen warm gestellt. Glück gehabt?«

»Nein«, antwortete er niedergeschlagen. »Wieder mal eine sinnlose Hetzjagd. Ich sage es nur ungern, Lisette, aber deine Landsleute scheinen nicht imstande zu sein, anständige Register zu führen, nicht einmal über einen ihrer Helden.«

Eine Woche vor Weihnachten hatten sie die verbindliche Information erhalten, dass Etienne seinen Orden bekommen hatte, als er noch am Leben gewesen war. Beigefügt war der genaue Wortlaut, wofür ihm die Auszeichnung verliehen worden war, und es war von ebendiesem Tag die Rede gewesen, an dem er Jimmy gerettet hatte. Noah hatte vorgehabt, es Belle rechtzeitig zu erzählen, damit sie mit Mog sprechen und ihr erklären konnte, was Etienne ihr bedeutete, und sie alle zusammen Weihnachten feiern konnten.

Doch genau zwei Tage später erreichte ihn ein offizielles Schreiben von Etiennes Vorgesetzten, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass Sergeant Carrera als vermisst, vermutlich gefallen galt, und zwar seit Ende Oktober. Warum Noah nicht früher informiert worden war, wurde nicht erklärt.

Sich erst zu freuen und dann zu erleben, wie alle Hoffnungen zunichtegemacht wurden, war schrecklich. Wenn Lisette nicht nachdrücklich darauf hingewiesen hätte, dass Etienne nur als »vermutlich gefallen« galt, hätte Noah seine Bemühungen sofort eingestellt.

Lisette hatte die Schlachtfelder nicht gesehen. Wie fast alle Menschen, die diese Gemetzel nicht erlebt hatten, stellte sie sich vor, dass alle Gefallenen in ordentlichen Reihen aufgebahrt und später mit allen Ehren bestattet worden waren, nachdem man ihre Identität festgestellt und vermerkt hatte.

Noah wusste, dass die Wahrheit anders aussah: Unzählige Männer waren dermaßen von Granaten zerfetzt worden, dass ihre Körperteile in alle vier Windrichtungen geflogen waren. Andere hatten so tief im Schlamm gesteckt, dass sie darin versunken waren. Und wie ein ranghöherer Offizier Noah draußen an der Front erklärt hatte: »Sie sind tot. Wir können nichts mehr für sie tun, und wir müssen uns darauf konzentrieren, den Verwundeten zu helfen, die eine Chance haben zu überleben.«

Aber Lisette beharrte darauf, dass Etienne schwer verwundet in einem Lazarett liegen oder gefangen genommen sein könnte. Sie beschwor Noah, Belle einstweilen noch nichts zu sagen, im neuen Jahr jedoch unbedingt mehr Informationen einzuholen.

Noah und Lisette war sehr daran gelegen, die Wahrheit zu erfahren, bevor Belle und Mog ihre Überfahrt buchten. Aber die Tage verstrichen, und Noahs Bemühungen führten zu nichts. Er tätigte Anrufe und verfasste Dutzende schriftlicher Anfragen, doch seine Briefe blieben unbeantwortet, und am Telefon wurde er ständig zu jemand anders durchgestellt.

Dann buchte Belle die Passage nach Neuseeland, und nun, da der Tag ihrer Abreise näher rückte, redeten sie und Mog von nichts anderem als davon, dass sie einen Überseekoffer kaufen mussten und welche Kleider sie mitnehmen, welche sie hier zurücklassen sollten. Mog hatte genug Nähzubehör, Baumwollstoffe und Knöpfe gekauft, um die Hälfte der weiblichen Bevölkerung von Russell neu einzukleiden.

Heute hatte Noah ein Gespräch mit einem Mitarbeiter vom Roten Kreuz geführt, der sich mit Kriegsgefangenen befasste. Alles, was er sagte, war, dass Etienne wahrscheinlich eher tot als am Leben war, er aber dennoch der Sache nachgehen würde.

»In Frankreich herrscht ein einziges Chaos, Noah«, wandte Lisette beschwichtigend ein. »Es gibt so viele Männer, über deren Verbleib man nichts weiß. Einige Soldaten sind nach Hause gegangen, andere noch in der Armee geblieben. Doch deine Briefe werden bestimmt weitergeleitet und irgendwann bei jemandem landen, der weiß, was passiert ist.«

»Aber Belle verlässt England in einem Monat. Die Überfahrt ist gebucht. Was ist, wenn ich herausfinde, dass er noch lebt, und sie ist nicht mehr da?«

Noah glaubte nicht mehr, dass Etienne noch am Leben war. Ein gewöhnlicher Soldat konnte vielleicht untertauchen, wenn ihm daran gelegen war, doch Etienne war ein Kriegsheld, und irgendjemand würde es wissen, wenn er die letzte Offensive überlebt hätte.

Lisette ging zu Noah und legte ihre Arme um ihn. »Ist egal, wenn sie nicht mehr da ist. Wenn er lebt und nur halb der Mann ist, für den ich ihn halte, wird er losziehen und sich seine Belle holen«, sagte sie. »Und jetzt komm, damit du dein Abendessen bekommst!«

»Nicht weinen, mein Häschen«, meinte Mog zu Belle, als die HMS Stalwart den Anker lichtete und sich langsam von der Anlegestelle in Southampton entfernte. »Wenn es uns nicht gefällt, können wir jederzeit zurückkommen. Aber du und ich, wir sind aus hartem Holz geschnitzt. Wir bauen uns da unten schon ein schönes Leben auf, wirst sehen.«

Belle rieb sich die Augen und lächelte Mog an. »Ich bin nicht traurig, weil wir England verlassen. Ich werde Noah und Lisette und die Kinder vermissen, sonst jedoch niemanden. Nein, das hier erinnert mich nur an damals, als Miranda und ich nach Frankreich gefahren sind.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte an Miranda gedacht und sich erinnert, wie aufgeregt sie beide gewesen waren, als das Schiff in Dover ablegte. Aber was sie tatsächlich zum Weinen gebracht hatte, war die Erinnerung an die Reise von New York nach New Orleans mit Etienne. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie mit ihm ihr erstes Glas Champagner getrunken und geglaubt, in ihn verliebt zu sein, und versucht, ihn zu verführen. Es war wie eine Ironie des Schicksals, dass sie sich nun wieder auf einem Schiff befand, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Auch wenn Etienne tot war, beherrschte er immer noch ihre Gedanken.

»Komm, packen wir unsere Sachen aus und richten uns in unserer Kajüte häuslich ein!«, schlug Mog vor. »Hier draußen ist es kalt wie in einem Eisbärenarsch.«

Belle musste lachen. Diesen Ausdruck hatte sie von Mog nicht mehr gehört, seit sie Seven Dials verlassen hatten und Mog beschlossen hatte, eine feine Dame zu werden.

»Nur noch zwei Tage, dann sind wir da«, seufzte Belle. »Ich kann es kaum erwarten, eine Straße hinunterzubummeln, Schaufenster zu betrachten und Bäume und Wiesen zu sehen. Und wird es nicht eine Wohltat sein, nicht mehr unter Leuten zu sein, die ständig jammern?«

Es war mittlerweile April, und sie hatten auf der Überfahrt jede Art von Wetter erlebt. Das erste Unwetter im Golf von Biscaya, bei dem haushohe Wellen über dem Schiff zusammenschlugen, war für Mog eine Feuertaufe gewesen, aber obwohl sich ihr Teint grünlich verfärbt hatte, war sie nicht seekrank geworden.

Dann hatten so heftige Stürme getobt, dass man an Deck keinen Schritt vor den anderen hatte setzen können, ohne sich an der Reling festzuklammern. Es folgten Schauer mit Hagelkörnern, so groß wie Glasmurmeln, die wie Geschosse auf das Deck prasselten, Regen und dichter Nebel und eine Sonne, die manchmal so heiß vom Himmel schien, dass man in wenigen Minuten einen Sonnenbrand bekam.

Als sie sich dem Äquator näherten, machte die drückende Hitze es unmöglich, nachts zu schlafen, und hinzu kamen tropische Stürme. Aber jetzt war es kühler, in der Kajüte zwar immer noch stickig, doch recht angenehm für einen Spaziergang an Deck.

Am schlimmsten jedoch war die Langeweile gewesen. Die Tage der Untätigkeit schienen sich endlos hinzuziehen. Belle und Mog hatten beide ihr Stickzeug und genügend Wolle und Stricknadeln mitgenommen, und sie lasen viel, spielten Karten und warteten auf die Mahlzeiten, aber ständig auf relativ engem Raum eingepfercht zu sein und die mangelnde Bewegung verhinderten, dass sie das, was erholsame Ferien hätten sein sollen, wirklich genießen konnten.

Natürlich gab es viele andere Passagiere, mit denen sie sich unterhalten konnten: eine Gruppe von Offizieren, alle verwundet, jedoch nicht so schwer, dass sie auf ein Lazarettschiff gehörten, ungefähr vierzig Auswanderer wie sie selbst und einige Neuseeländer, die vor dem Krieg nach England gereist waren und wegen der Gefahren durch Bomben und Torpedos, die Schiffsreisenden drohten, dort hatten bleiben müssen. Aber obwohl die meisten dieser Leute nett genug waren, um ein, zwei Stündchen mit ihnen zu plaudern, war keiner von ihnen sonderlich interessant, und einige waren sogar zum Gähnen langweilig. Weil Belle und Mog in ihrer Kabine auf sehr engem Raum lebten, gerieten sie sich häufig in die Haare, bis sie beide darauf achteten, einander ein wenig Privatsphäre und Zeit für sich selbst zu lassen.

Doch nun, da die Reise fast vorbei war, gehörten diese Probleme der Vergangenheit an. Mog benahm sich wie ein junges Mädchen, flirtete mit der Crew und strahlte jeden an.

Sie gingen in Auckland bei Sonnenschein und Wärme an Land. Ihnen kam es wie ein Frühlingstag daheim in England vor, und es war eine seltsame Vorstellung, dass hier Herbst war. Eine halbe Meile vom Hafen entfernt fanden sie eine kleine Pension, ein hübsches Schindelhaus mit Blick auf die See.

Ihnen blieben fünf Tage, bevor sie an Bord der Clansman gehen mussten, um zur Bay of Islands weiterzufahren, und sie waren wie berauscht vor Freude, endlich wieder an Land zu sein und festen Boden unter den Füßen zu spüren. Alle Leute, die sie trafen, wollten mit ihnen über England sprechen. Auch diejenigen, die in Neuseeland geboren waren, schienen samt und sonders englische oder schottische Eltern oder Großeltern zu haben. Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit, empfahlen ihnen Sehenswürdigkeiten, klärten sie über die hiesigen Bräuche auf und rieten ihnen, welche Dinge sie lieber in Auckland kaufen sollten, weil sie in Russell nur schwer zu bekommen waren. Man erzählte ihnen Geschichten über die Maori, die Ureinwohner Neuseelands, und ihre Kultur, was Belle und Mog faszinierend fanden, weil sie darüber nicht das Geringste wussten. Außerdem erfuhren sie von den Härten, denen die ersten Siedler ausgesetzt gewesen waren, die im letzten Jahrhundert eingewandert waren. Auch brachte man ihnen wegen des Todes ihrer Ehemänner viel Mitleid entgegen.

Es gab in Auckland keine sehr alten Gebäude; die Stadt war nicht so überfüllt wie London, und sie hatten noch keine Gegend gesehen, die in ihren Augen ein Elendsviertel war, auch wenn die Einheimischen es dafür zu halten schienen. Doch in vielerlei Hinsicht unterschied sich Neuseeland gar nicht so sehr von England. Das Klima war so ähnlich wie daheim, die Leute hatten dieselben Gewohnheiten und Ansichten. Aber auch hier, auf der anderen Seite der Erdkugel, hatte die Spanische Grippe ihre Opfer gefordert. Wie ihre Zimmerwirtin ihnen erzählte, waren weit über sechstausend Menschen an der Epidemie gestorben. Die Frau beschrieb, wie der Straßenbahn-Verkehr aus Angst, die Infektion zu verbreiten, eingestellt worden war und dass Züge, Karren und Lastwagen zwangsweise zum Transport von Leichen eingesetzt worden waren.

Auch die Auswirkungen des Krieges ähnelten denen in England sehr. Tausende Neuseeländer waren aus den gleichen Gründen wie die britischen Männer in die Armee eingetreten, und die Zahl der Verluste unter ihnen war im Verhältnis genauso hoch. Und wie daheim sahen sie auch auf den Straßen von Auckland blinde oder verkrüppelte Männer. Man erzählte ihnen, dass die meisten von ihnen bei Gallipoli verwundet worden waren – über viereinhalbtausend. Weitere zweitausendsiebenhundert waren gefallen. Aber das war nicht alles; genauso viele waren in Frankreich verwundet worden und noch nicht wieder heimgekehrt. Doch obwohl fast jeder hier ein Familienmitglied verloren hatte, schienen es die Neuseeländer mit bemerkenswerter Fassung zu tragen und sehr stolz auf den Mut ihrer Soldaten zu sein. Mog und Belle waren gerührt, wie viel Mitgefühl für die Menschen in Großbritannien gezeigt wurde, wo nicht nur unvorstellbare Zahlen von Toten und Verwundeten beklagt wurden, sondern auch Bombenschäden, Nahrungsengpässe und Rationierung das Leben beeinträchtigten.

»Ich fühle mich, als wäre ich dort angekommen, wo ich hingehöre«, bekannte Mog eines Abends, als sie sich zum Schlafengehen bereit machten. »Findest du es nicht einfach toll, dass hier keiner so aussieht, als hätte er einen Spazierstock am Arsch kleben?«

Belle brach in schallendes Gelächter aus. Mog bezog sich auf das Fehlen von Klassenunterschieden. Belle war sich nicht sicher, ob das die in Neuseeland übliche Einstellung war; immerhin verkehrten sie hier mit ganz gewöhnlichen Leuten. Aber sie vertraute darauf, dass es in Russell genauso war, weil sie sich daran erinnerte, wie verblüfft und erheitert Vera immer über das versnobte Gehabe der anderen Fahrerinnen in Frankreich gewesen war.

»Das Wort ›Arsch‹ solltest du dir vielleicht lieber verkneifen, bis man uns hier besser kennt«, ermahnte sie Mog.

Als die Clansman in die Bay of Islands einfuhr, verschlug es Belle und Mog den Atem. Sie hatten zwar Beschreibungen von Vera gehört und in Auckland Bilder von der Bucht gesehen, doch die Wirklichkeit war einfach überwältigend. Das Meer war tatsächlich türkisblau und so klar, dass man deutlich die Fische im Wasser erkennen konnte, wenn man sich über die Reling beugte. Die Bäume auf den kleinen Inseln waren leuchtend grün und reichten bis ans Ufer heran.

Unterwegs hatten sie Delfine gesehen; sie waren um das Schiff herumgetollt, indem sie ihre silbern glänzenden Köpfe aus dem Wasser streckten und die Mäuler aufsperrten, als lächelten sie zur Begrüßung, und das hatte Belle und Mog zu Tränen gerührt. In der Ferne hatten sie einen riesigen Wal entdeckt, und es war schrecklich aufregend gewesen, Dinge zu sehen, die sie sich nie hätten träumen lassen. Aber diese traumhafte Bucht, die sich vor ihnen ausbreitete und sämtliche Wunder der anderen Anlaufstellen der Clansman in den Schatten stellte, war ein Anblick, der wahrhaft demütig machte.

»Wenn wir hier nicht glücklich werden, werden wir es nirgendwo«, sagte Mog und wischte sich eine Träne der Rührung aus dem Auge.

Als sich das Schiff der Anlegestelle näherte, sahen sie, dass dort viele Leute standen und warteten. Man hatte ihnen bereits erzählt, dass es im Norden der Insel keine richtigen Straßen gab und ein Schiff die einzige Möglichkeit war, dorthin zu gelangen. Die Clansman war das wöchentliche Versorgungsschiff der Stadt. Es beförderte nicht nur Passagiere, sondern auch die Post sowie Lebensmittel und andere Waren. Die ersten europäischen Siedler waren hier gelandet, und wegen des prachtvollen und sicheren natürlichen Hafens hatte an diesem Ort einmal die Hauptstadt Neuseelands entstehen sollen, doch letzten Endes wurde wegen Russells isolierter Lage doch Auckland gewählt.

»Da ist Vera!«, rief Belle und zeigte auf einen Punkt in der Menge. »Woher hat sie bloß gewusst, dass wir heute kommen?«

»Tja, sieht so aus, als wäre die ganze Stadt am Hafen, wenn das Schiff einläuft«, antwortete Mog. »Schau dir diese hübschen kleinen Häuser an! Wie auf einem Bild!«

Die Ansammlung schöner weißer oder cremefarbener Schindelhäuser, die wie Puppenhäuser aussahen, war wirklich ein bezaubernder Anblick. Hinter der Stadt stiegen wie zum Schutz bewaldete Hügel auf, und vor den Häusern verlief ein schmaler Streifen Sandstrand. Dutzende kleiner Boote hüpften auf den Wellen auf und ab, und über ihnen kreisten Möwen in der Hoffnung auf leichte Beute.

Vera hüpfte vor Aufregung schon auf und ab, noch bevor das Schiff angelegt hatte und eine Gangway zum Landesteg gelegt worden war. Sie trug ein grün gemustertes Kleid, und ihre roten Locken fielen ihr offen auf die Schultern und schimmerten in der Sonne. Neben ihr stand eine ältere, etwas untersetzte Frau, vermutlich ihre Mutter.

Endlich konnten die Leute das Schiff verlassen, und Belle und Mog reihten sich in die Schlange ein. Man hatte ihnen bereits gesagt, dass ihr Überseekoffer und das übrige Gepäck auf den Landesteg gestellt werden würden, sowie der letzte Passagier von Bord gegangen war.

»Belle, Mog!«, schrie Vera, die sich durch die Menge drängte. »Willkommen in Russell!«

Es war gegen vier Uhr nachmittags, als sie in Russell eintrafen, und der Rest des Tages verlief, als wären sie auf einer Party gelandet, wo sie zwar niemanden kannten, aber ganz offensichtlich die Ehrengäste waren. Vera und ihre Mutter, Mrs. Reid, die sie sofort bat, sie Peggy zu nennen, brachten sie nach Hause in die Familienbäckerei, wo Mr. Reid – oder Don, wie er gerufen werden wollte – gerade einen gewaltigen Klumpen Brotteig knetete. Er unterbrach seine Arbeit lange genug, um Belle und Mog jeweils auf die Wange zu küssen, entschuldigte sich für seine mehlbestäubten Hände und bat sie, sein Heim als das ihre zu betrachten.

Peggy war eine jener Frauen, die zehn Sachen auf einmal erledigen und gleichzeitig reden können. Während sie den Küchentisch deckte, rief sie einem Mann durch die Hintertür zu, er solle mit einem Karren Belles und Mogs Gepäck am Landesteg abholen. Sie holte einen köstlich aussehenden Kuchen mit Gittermuster aus der Speisekammer, verteilte fünf großzügig bemessene Portionen und gab auf jeden Teller noch einen dicken Klacks Vanillecreme. Während sie eine Kanne Tee aufgoss, erkundigte sie sich, wie die Fahrt von Auckland gewesen sei, und fast wie durch Zauberei erschienen Tassen und Untertassen auf dem Tisch.

»Setzt euch bitte hin!«, sagte sie. »Ich mache keine großen Umstände, denn nach allem, was Vera mir von euch erzählt hat, gehört ihr für mich schon zur Familie. Das ist nur ein kleiner Happen zwischendurch, bald kommen nämlich ein paar Leute zum Abendessen, die es kaum erwarten können, euch kennenzulernen.«

Vera verdrehte die Augen, was Belle als stumme Botschaft auffasste, dass ihre Mutter zwar auf den ersten Blick etwas anstrengend wirkte, sich jedoch bald beruhigen würde.

Don, der sich das Mehl von den Händen gewaschen und seine Schürze abgenommen hatte, kam herein und schenkte ihnen ein Lächeln, das genauso warm wie seine Backstube war. »Vera hat uns erzählt, wie gut ihr euch in London um sie gekümmert habt. Sie ist außer sich vor Begeisterung, dass ihr euch wirklich hier bei uns niederlassen wollt, doch ich fürchte, nach London werdet ihr das Leben hier ziemlich langweilig und behäbig finden.«

»Behäbig gefällt uns«, erklärte Mog und kostete von dem Gitterkuchen. »Meine Güte, ist der aber lecker!«, rief sie.

»Wir waren froh, aus London wegzukommen«, sagte Belle. »Dort ist uns nichts geblieben. Hier ist es wunderschön, und wir haben vor, unser Glück zu versuchen.«

»Morgen führe ich euch herum«, versprach Peggy. »Das wird nicht anstrengend, es dauert nämlich nur eine halbe Stunde. Und das ist schon die längere Tour«, fügte sie hinzu und lachte so herzhaft, dass ihr üppiger Busen auf und ab wogte.

Belle stimmte in das Lachen ein. Sie hatte das Gefühl, dass in diesem Haus oft und gern gelacht wurde.

Sie hatten kaum ihren Tee getrunken und den herrlichen Kuchen gegessen, als schon die ersten Besucher eintrudelten, und zwar das Ehepaar, das das Postamt führte, Frieda und Mike Lamb. Sie erzählten, dass sie beide in England geboren, aber schon als kleine Kinder mit ihren Eltern nach Neuseeland gezogen waren. Sie waren Mitte vierzig und hatten sich in Christchurch in der Schule kennengelernt.

»Schön, neue Leute in Russell zu haben!«, sagte Frieda und knallte eine Platte mit gekochten Würstchen auf den Tisch. »Unsere Verwandten in Christchurch haben uns für verrückt gehalten, als wir hergezogen sind. Sie fanden, für Ferien wäre es gut und schön, doch wir würden uns in kürzester Zeit langweilen. Aber jetzt sind wir schon zehn Jahre hier und haben gar keine Zeit für Langeweile.«

Danach trafen immer mehr Frauen ein, und jede brachte etwas zu essen mit. »Das ist so üblich, wenn ein Fest oder eine Versammlung stattfindet«, meinte Vera. »Die Männer kommen erst nach dem ›Sechs-Uhr-Schluck‹, fügte sie hinzu. Als Mog und Belle sie verdutzt anschauten, erklärte sie, dass die Pubs überall in Neuseeland um sechs Uhr abends schlossen, ein Gesetz, dass bewirken sollte, dass die Männer am Abend bei ihren Ehefrauen und Familien blieben. »Aber alles, was dabei herauskommt, ist, das die Männer in der letzten Stunde so viel wie möglich hinunterkippen und dann nach Hause wanken und einschlafen.«

Doch obwohl etliche Männer angeheitert waren, kamen sie alle anmarschiert, und Belle fragte sich, wie sie sich je merken sollte, wer mit wem verheiratet war und wer wie hieß. Alle wollten wissen, womit Mog und sie hier ihren Lebensunterhalt zu bestreiten beabsichtigten, und jeder Einzelne hatte seine eigene Vorstellung, welche Art Geschäft in der Stadt am dringendsten benötigt wurde. Belles Kleid wurde von allen Frauen bewundert, obwohl sie selbst es eher schlicht und unauffällig fand: graue Baumwolle mit dünnen weißen Streifen, ein praktisches Alltagskleid, das Mog genäht hatte und sich gut zum Reisen eignete. Doch verglichen mit der Kleidung der anderen sah es ausgesprochen modisch aus, weil es perfekt saß. Die Kleider der Frauen von Russell waren eher formlos, und Belle hatte den Eindruck, dass sie entweder fertig gekauft oder von jemandem zusammengeschneidert waren, der nur die Grundbegriffe des Nähens beherrschte. Wahrscheinlich hatten die meisten Frauen nur wenig Modebewusstsein, und Belle kam der Gedanke, dass sich hier eine Nische für Mog und sie auftun könnte.

Die Feier verlagerte sich in den Garten hinter dem Haus, doch erst als es dunkel wurde und Peggy und Don Öllampen anzündeten, wurde Belle und Mog bewusst, dass es in Russell keinen elektrischen Strom gab. Sie äußerten sich nicht dazu, einerseits, weil sie wussten, dass das an einem derart entlegenen Ort nicht anders zu erwarten war, andererseits, weil es ihnen im Grunde nichts ausmachte. Sie waren beide mit Öllampen aufgewachsen und hatten auch in England nicht daran gedacht, sich ein elektrisches Bügeleisen oder Kaminfeuer anzuschaffen wie viele andere Leute. Bestürzender war die Entdeckung, dass es nur Außentoiletten gab, ein Echo der Vergangenheit, an dem sie nicht viel Freude hatten.

Später zündete Peggy im Garten Kerzen an und stellte sie in Marmeladengläser, ein Grammofon wurde aufgezogen und eine schwungvolle irische Weise aufgelegt. Ein alter Mann unterhielt die anderen Gäste mit irischen Tänzen.

»Na, wie gefällt es dir bis jetzt in Russell?«, fragte Vera, als es ihr endlich gelang, Belle einen Moment allein zu erwischen. »Ein bisschen viel auf einmal, was? Ich habe vorgeschlagen, mit der Party zu warten, bis ihr beide ein, zwei Tage hier seid. Aber wie du vielleicht schon bemerkt hast, geht bei Ma alles ruck, zuck.«

»Wir sind gerührt über dieses herzliche Willkommen. Und mir gefällt, dass es so zwanglos zugeht. Alle sind so nett.«

»Kann sein, dass du bald deine Meinung änderst und die Leute hier nur noch neugierig findest«, erwiderte Vera. »Sag niemandem außer mir irgendetwas, außer du willst, dass es in der ganzen Stadt die Runde macht! Meine Mutter ist in dieser Hinsicht eine der Schlimmsten, pass also lieber auf.«

»Du hast ihr nichts von meiner Vergangenheit erzählt?«

»Natürlich nicht«, fiel Vera ihr ins Wort. »Alles, was du mir in Frankreich anvertraut hast, bleibt unter uns. Ich habe ihr gesagt, dass Mog Haushälterin in der Pension deiner Mutter war und dich großgezogen hat. Und dass du in Paris eine Ausbildung zur Modistin gemacht hast. Vertrau mir, Belle! Ich werde keines deiner Geheimnisse ausplaudern.«

Belle versicherte ihr, dass sie ihr völlig vertraue, und erkundigte sich, ob es Neuigkeiten über ihre Brüder gebe.

»Als sie uns das letzte Mal schrieben, warteten sie gerade auf einen Truppentransport. Weil wir seither nichts mehr gehört haben, heißt das wohl, dass sie schon unterwegs sind. Wir sind unheimlich froh und dankbar, dass die beiden es überstanden haben. Spud wurde bei Ypern verwundet, doch es ist nichts Ernstes, nur Schrapnellwunden in Arm und Bein. Tony behauptet, dass er nichts Schlimmeres erwischt hat als Flohbisse. Du wirst sie bald kennenlernen, aber einstweilen könnt ihr in ihrem Zimmer wohnen, das Ma wochenlang für euch auf Hochglanz poliert hat.«

Mitternacht war vorbei, als Belle und Mog endlich ins Bett kamen. Ihr Zimmer war groß und hatte zwei Einzelbetten, jedes davon mit einer bunt gemusterten Patchwork-Decke. Wie im Rest des Hauses war das Mobiliar alt und abgenutzt, wirkte jedoch sehr gemütlich. Die Wände waren kürzlich hellgrün gestrichen worden, eine bestickte Decke lag auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster, und darauf stand eine Vase mit weißen, margeritenähnlichen Blumen.

Ihr Gepäck stand bereits im Zimmer, und während Mog ihre Nachthemden auspackte, warf sie Belle einen Blick zu und lächelte.

»Wir haben das Richtige getan, es fühlt sich schon wunderbar nach daheim an. Aber suchen wir uns schnell eine eigene Bleibe, ja?«

Belle wusste genau, was sie meinte. Mog wollte ihre eigenen Sachen um sich sehen, ihre eigenen Mahlzeiten kochen und ihre eigene Tür haben, die sie schließen konnte, wenn sie mal allein sein wollte. Peggy und Don waren sehr, sehr nett, doch es war abzusehen, dass sie auf Dauer anstrengend sein würden.

»Du bist so ein Nestbauer«, sagte Belle liebevoll. »Keine Sorge, gleich morgen machen wir unmissverständlich klar, dass ein eigenes Zuhause unser erstes Anliegen ist.«

Am nächsten Tag führte Peggy sie stolz herum. Erst zur Christ Church, der ältesten Kirche in Neuseeland, und zum Polizeirevier, das früher einmal das Zollhaus gewesen war, aber für beide Zwecke viel zu hübsch aussah. Nicht weit vom Strand befand sich eine Konservenfabrik, und sie schauten eine Weile zu, wie die Fischerboote ihren Fang hereinbrachten. Das Gasthaus mit dem Namen The Duke of Marlborough, das direkt am Wasser lag, war für eine so kleine Stadt von beeindruckender Größe, und gleich daneben befand sich die Fremdenpension von Mr. und Mrs. Clow. Das Stück unbebauten Bodens zwischen der York Street, wo die Reids ihre Bäckerei hatten, und der Church Street wurde immer noch »der Sumpf« genannt, obwohl dort ein paar Häuser standen und Kühe grasten.

»In den alten Zeiten, als Russell wegen der rauen Sitten der Walfänger, die hier an Land gingen und sich betranken, noch als ›Höllenloch des Pazifiks‹ bekannt gewesen ist, standen am Strand nur einige wenige Rumkneipen und Bretterbuden«, erklärte Peggy, »und dahinter gab es nichts als den Mangrovenwald im Sumpf, bis hin zu den bewaldeten Hügeln, die die Stadt umgeben.«

Abgesehen vom Postamt, wo eine Vielzahl an Waren feilgeboten wurde, der Bäckerei der Reids, einer Gemischtwarenhandlung, einem Fleischer, einem kleinen Hotel und diversen Werkstätten gab es tatsächlich nicht viel zu sehen. Peggy hatte mit einer vagen Handbewegung auf ein paar Holzschuppen hinter der Stadt gezeigt und dazu bemerkt: »Dort wohnen die Eingeborenen.« Belle waren beim Spazierengehen einige dunkelhäutige Menschen aufgefallen, von denen Peggy zwar einige gegrüßt, sie ihren Gästen aber nicht vorgestellt hatte. Belle brannte darauf zu erfahren, wie die Situation zwischen Maori und Siedlern war. Doch sie hielt es für besser, nicht Peggy zu fragen, sondern lieber Vera, die vermutlich eine ausgewogenere Meinung haben würde.

Sie gingen gerade zur Bäckerei zurück, als Mog auf der Robertson Street ein kleines Haus bemerkte, das verlassen und ziemlich verkommen aussah, und sich bei Peggy danach erkundigte.

»Da hat Jack Phillips gewohnt, der Schuster«, antwortete sie. »Er ist vor zwei Jahren gestorben.«

»Ist es zu kaufen oder zu mieten?«, wollte Mog wissen.

»Das müsste Henderson, der Notar, wissen.«

Da Peggy zur Bäckerei zurückmusste, um Vera abzulösen, die seit aller Herrgottsfrühe ihrem Vater bei der Arbeit half, beschloss Belle, sofort zu Mr. Henderson zu gehen, wenn Peggy ihnen den Weg zeigte.

»Je eher daran, je eher davon«, meinte Mog vergnügt, als Veras Mutter auf das Haus des Notars zeigte.

»Sehr begeistert war sie nicht«, stellte Belle fest, nachdem Peggy gegangen war. »Warum wohl?«

»Das kannst du nachher Vera fragen«, sagte Mog. »Aber ich schätze mal, dass sie gern viele Leute um sich hat und ein bisschen enttäuscht ist, dass wir schon an unserem zweiten Tag hier von einem eigenen Heim reden.«

Innerhalb von zwanzig Minuten hatten Mog und Belle den Schlüssel zu dem leeren Haus und sperrten die Tür auf. Wie fast alle Gebäude hier war es aus Holz, wobei die Fassade sehr schlicht war und dringend einen frischen Anstrich brauchte. Das Dach hatte an einigen Stellen neue Schindeln nötig. Die Stufen zur Eingangstür waren morsch, und als die beiden die Tür öffneten, schlug ihnen ein muffiger Geruch entgegen, bei dem beide die Nase rümpften. Sie betraten eine kleine quadratische Diele, von der vier Türen abgingen. Eine schmale Treppe führte nach oben. Das Zimmer zur Linken war die Werkstatt des Schusters gewesen und enthielt immer noch Lederreste, Leisten und eine lange Werkbank. Aber wie alle anderen Räume im Erdgeschoss hatte es zwei Fenster, eins nach vorn und eins zur Seite hinaus. Dadurch würde es sehr hell sein, wenn die Fensterscheiben erst einmal geputzt wären. Das Zimmer rechts vom Flur war ein mit sehr alten, abgenutzten Möbeln vollgestopfter Salon. Hinten links befand sich ein Schlafzimmer, das ebenfalls dermaßen mit Möbeln vollstand, dass Belle und Mog kaum hineinkamen, rechts eine altmodische und sehr schmutzige Küche. Doch von der Küche führte eine Tür in den Garten hinaus, der aussah, als wäre er bis zu Mr. Phillips’ Tod sorgfältig gepflegt worden. Es gab blühende Sträucher, Rosenbüsche und einen Bereich, der offenbar einmal ein Gemüsegarten gewesen, jetzt jedoch von Unkraut und langen Gräsern überwuchert war.

Oben befand sich nur ein einziger großer Raum mit jeweils einem Dachfenster an jedem Ende. Abgesehen von einem alten Eisenbett mit einer stockfleckigen Matratze gab es dort nichts weiter zu sehen, und sie vermuteten, dass der Besitzer viele Jahre lang unten gewohnt hatte.

»Mit dem Außenklo kann ich leben«, sagte Mog, obwohl sie das Gesicht verzog. »Aber Wasser draußen aus der Pumpe holen, das geht nicht. Die Möbel müssten alle verbrannt werden, doch das Haus ist hell und freundlich. Und die Dielenbretter machen einen stabilen Eindruck.« Sie hüpfte auf und ab, um ihre Worte zu unterstreichen.

»Ich denke, wir könnten hinten oder an der Seite ein Bad anbauen, und ein Klempner müsste in der Lage sein, Wasser in die Küche zu leiten«, meinte Belle. »An der Vorderseite kann man eine Veranda anbauen und einen weißen Lattenzaun aufstellen. Es könnte sehr hübsch werden. Und die Werkstatt könnten wir auch brauchen: für dich, um Kleider zu nähen, und für mich, um Hüte anzufertigen. Und wir könnten Kurzwaren verkaufen.«

Sie sahen einander immer noch nachdenklich an, als sie Vera im Erdgeschoss rufen hörten.

»Komm rauf!«, forderte Belle sie auf.

Vera kam die Stufen hinaufgelaufen. »Früher als Kind bin ich oft hier gewesen. Mr. Phillips hat alle unsere Schuhe gemacht«, berichtete sie atemlos. »Seine Frau war sehr nett und hat uns richtig verwöhnt, weil sie selbst keine Kinder hatten. Sie ist vor dem Krieg gestorben. Jetzt ist das Haus allerdings ein ziemlicher Schweinestall.«

»Aber es birgt Möglichkeiten«, sagte Mog, deren schmales Gesicht vor Aufregung strahlte. »Mr. Henderson meint, dass der Neffe, der es geerbt hat, es nun unbedingt verkaufen will, weil er das Geld braucht. Ich muss ein Angebot machen.«

»Tja, sonst wird es niemand haben wollen. Nach dem Krieg und der Grippe sind die Leute alle angeschlagen, und keiner hat Geld übrig.«

Mog besaß zum ersten Mal im Leben Geld, und zwar mehr, als sie sich je hätte träumen lassen. Aber genau deshalb wollte sie nicht leichtsinnig damit umgehen. »Wie schwer wird es sein, jemanden für die Reparaturarbeiten zu finden?«, fragte sie. »Wir brauchen ein Badezimmer und in der Küche einen Herd. Dazu kommen noch all die Außenarbeiten, und das Dach muss auch ausgebessert werden.«

»Die Männer werden Schlange stehen, um diese Arbeiten zu übernehmen«, sagte Vera. »Doch ihr müsst euch vor allem darüber klar werden, ob ihr wirklich in Russell bleiben wollt. Ihr seid eigentlich noch nicht lange genug hier, um das zu wissen.«

»Ich wusste in dem Moment, als ich an Land ging, dass ich hierbleiben will«, gestand Mog. »Es fühlt sich gut und richtig an. Aber ich weiß nicht, wie Belle die Sache sieht. Ihr jungen Leute solltet lieber irgendwo sein, wo ein bisschen mehr los ist.«

Vera sah Belle fragend an. »Was meinst du?«

»Ich bin noch nicht lange genug hier, um das beurteilen zu können. Doch die Ruhe und der Frieden gefallen mir. Wie auch immer, es ist Mog, die über genug Geld verfügt, um ein Haus zu kaufen, nicht ich. Es ist ihre Entscheidung.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Mog. »Aber du darfst dich nicht verpflichtet fühlen, bei mir zu bleiben, falls ich das Haus nehme, Belle. Das möchte ich nicht. Es wird immer dein Heim sein, doch du musst dir überlegen, was du aus deinem Leben machen willst. Du sollst nicht bei mir bleiben, nur weil du glaubst, nicht anders zu können.«

Belle runzelte die Stirn. »Aber wir hatten doch geplant, zusammen ein Geschäft aufzubauen.«

»Ich weiß, und das würde mir auch sehr gefallen, sicher. Doch hier gibt es keine jungen Männer, Belle, und ich möchte nicht, dass du als alte Jungfer endest. Ich würde mich freuen, wenn du irgendwann wieder heiratest.«

»Darauf kannst du lange warten«, lachte Belle. »Ich werde nie wieder einen Mann lieben.«

»Das glaube ich im Moment von mir auch«, sagte Mog. »Aber das liegt daran, dass wir beide erst seit einigen Monaten verwitwet sind. Ich komme allerdings in die Jahre, du jedoch bist jung und schön. Jimmy hätte nicht gewollt, dass du den Rest deines Lebens allein verbringst.«

»Dass es hier keine jungen Männer gibt, stimmt nicht ganz, Mog«, warf Vera ein. »Meine Brüder kommen bald zurück und noch ein paar andere Burschen in ihrem Alter. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass dir einer von ihnen zusagen würde, Belle. Sieh mich an, ich bin ein gutes Beispiel dafür, was mit den ›Blumen von Russell‹ passiert! In den Augen meiner lieben Mitbürger bin ich schon eine alte Jungfer.«

»Dann solltet ihr zwei vielleicht nach Auckland ziehen«, meinte Mog.

Vera lachte. »Ich bin stark in Versuchung, genau das zu tun. Meine Mutter macht mich wahnsinnig. Es war schlimm genug, bevor ich nach Frankreich gefahren bin, aber jetzt ist es geradezu unerträglich. Ich habe keine Lust mehr, in der Backstube zu stehen.«

Sie trällerte: »How ya gonna keep them down on the farm, after they’ve seen Paree?«

Belle prustete los. »Hast du dir das gerade ausgedacht?«

»Nein, ein paar Amerikaner im Lazarett haben das immer gesungen. Sie haben es in New York in einer Music Hall gehört, bevor sie nach Frankreich aufgebrochen sind. Ich habe das Lied auch auf dem Grammofon gehört; anscheinend ist es in Amerika sehr populär. Das wirst du übrigens auch bald merken: Wir sind richtiggehend abgeschnitten vom Rest der Welt. Musik, Mode, Kunst, neue Bücher – nichts davon gelangt zu uns.«

»Das kümmert mich nicht«, sagte Mog.

Vera seufzte und machte ein beschämtes Gesicht. »Ich fühle mich mies, weil ich euch nicht schon in England vorgewarnt habe, doch wisst ihr, mir ist es auch erst aufgefallen, als ich wieder in Russell war, und da wart ihr schon unterwegs.«

Mog legte einen Arm um jedes Mädchen und zog die beiden an sich. »Nun, jetzt sind wir hier, und mir gefällt es. Aber falls es für euch zwei zu langweilig ist, nachdem ihr ›Paree‹ gesehen habt, müsst ihr einen Ort suchen, der euch eher zusagt.«

»Ich laufe nicht weg, ehe ich Russell eine faire Chance gegeben habe«, erklärte Belle fest. »Mir gefällt es hier auch, und bevor wir an Alternativen denken, sollten wir objektiv überlegen, was wir in Russell auf die Beine stellen könnten.«

Sie verbrachten eine gute Stunde damit, Haus und Garten zu inspizieren, und Mog fertigte eine Liste der Dinge an, die erneuert werden mussten. »Ich brauche ein paar Tage Bedenkzeit«, sagte sie schließlich, bevor sie gingen. »Ich muss herausfinden, wie viel das Haus wert ist und wie teuer die Reparaturen werden, ehe ich mich entscheide.«

Der April ging in den Mai über, ohne dass ihnen aufgefallen wäre, wie schnell die Zeit verging. Mog hatte Spaß daran, Don in der Bäckerei zu helfen, und nachdem sie ihm ein paar ihrer Kuchenrezepte verraten hatte, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass die fertigen Produkte nicht nur verkauft, sondern immer wieder von Kunden verlangt wurden. Mit Veras Hilfe hatte sie die Kosten für die Reparaturen am alten Phillips-Haus ausgerechnet und bot Mr. Henderson einhundert Pfund für das Anwesen an. Sie erwartete, dass er einen so niedrigen Preis als Beleidigung empfinden würde, aber er stimmte fröhlich zu und übernahm sogar die anfallenden Gebühren für den Verkauf.

Belle hatte begonnen, mit Wasserfarben zu malen, und obwohl es oft ein bisschen kühl wurde, wenn sie längere Zeit am Strand saß, liebte sie es so sehr, die See und die Boote zu malen, dass sie es kaum wahrnahm. Wenn sie so dasaß und malte, kam ihr häufig zu Bewusstsein, dass es in ihrem Leben noch nie eine Phase gegeben hatte, in der sie sich so entspannt und gelöst gefühlt hatte wie jetzt. Selbst in der Zeit vor Garths und Mogs Heirat, als Mog und sie in Blackheath zur Untermiete wohnten, während Garth den Kauf des Railway Inn vorbereitete, war immer eine gewisse Anspannung spürbar gewesen. Anfangs, weil sie beide sich bemüht hatten, richtige Damen zu werden, um im Ort akzeptiert zu werden, später, nach der Eröffnung des Hutsalons, wegen der Sorge, ob der Laden ein Erfolg werden würde. Es hatte Belle sehr glücklich gemacht, mit Jimmy verheiratet zu sein, Hüte anzufertigen und ihr Geschäft wachsen zu sehen, doch es hatte nie längere Perioden der Muße gegeben wie hier in Russell.

Unabhängig von Beruf oder privaten Verhältnissen hatte der Krieg allen viel abverlangt: die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren, der Schmerz, wenn dieser Verlust eintrat, Bombenangriffe, Rationierungen und andere Härten einschließlich der grauenhaften Grippeepidemie, die sie ganz zum Schluss getroffen hatte. Aber das war nun alles vorbei; Belle hatte in einer Zeitung ein Zitat des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson gelesen: »Ein Krieg, der das Kriegführen beenden sollte«. Sie hoffte inständig, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass Mog und sie endlich einen Platz gefunden hatten, wo sie ganz sie selbst sein konnten, wo sie nicht vorgeben mussten, feine Damen zu sein, oder sich fürchten mussten, ihre Meinung laut auszusprechen. Hier konnten sie das Leid und die Verletzungen der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen.

Spud, Tony und die anderen beiden jungen Männer aus Russell kamen Ende Mai endlich nach Hause und wurden von der ganzen Stadt stürmisch gefeiert.

Veras jüngere Brüder waren ihr vom Wesen her sehr ähnlich: freimütig, herzlich, nett und mit viel Sinn für Humor. Beide waren viel größer als ihre Schwester und hatten braunes Haar, aber die gleichen tiefblauen Augen. Alle stellten fest, dass sie Russell als junge Burschen verlassen hatten und als Männer zurückgekehrt waren.

Peggy war entsetzt zu sehen, dass das, was Spud an seinem rechten Arm und Bein als »Kratzer« bezeichnete, in Wirklichkeit sehr hässliche Narben waren, doch Spud tat es mit einem Lachen ab und meinte, er könne von Glück reden, dass er keinen Wundbrand bekommen hatte, weil er in tiefen Schlamm gestürzt und stundenlang dort gelegen habe, bevor er in ein Feldlazarett gebracht worden war.

Mog und Belle hatten mit dem Beziehen ihres Hauses eigentlich warten wollen, bis der neue Herd, den sie in Auckland bestellt hatten, geliefert und aufgestellt worden war, aber angesichts der Rückkehr der Jungs änderten sie ihre Meinung. In Peggys und Dons Haus war es sehr eng geworden, und es schien nicht in Ordnung zu sein, von Spud und Tony zu erwarten, im Wohnzimmer auf dem Fußboden zu schlafen, auch wenn sie behaupteten, es mache ihnen nichts aus.

Doch da das Dach des ehemaligen Schusterhauses ausgebessert worden war, war ihr neues Heim immerhin wetterfest. Das Haus von oben bis unten zu reinigen war Schwerstarbeit gewesen; sie hatten den Abfall verbrannt und die Möbel und andere Gegenstände, die sie nicht brauchten, einfach nach draußen gestellt, wo sie jeder, der interessiert war, mitnehmen konnte. Zu ihrer Freude war fast alles innerhalb eines Tages verschwunden. Aber sie behielten den massiven Küchentisch aus Kauriholz, der sehr gut aussah, nachdem er gründlich vom Schmutz vieler Jahre befreit worden war, und das eiserne Bettgestell, das Belle und Vera abschrubbten und weiß lackierten. Auch zwei Küchenstühle durften bleiben sowie eine Kommode und die Werkbank. Mog schickte Noah ein Telegramm, in dem sie ihn bat, ihre eingelagerten Möbel so bald wie möglich zu verschiffen.

Die Innenwände des Hauses bestanden aus Holzbrettern, die mit einer Schicht Vlies überzogen waren. Man hatte ihnen gesagt, dass Gips in Holzhäusern nicht sehr praktisch sei und eine Vliesschicht sich ohnehin besser als Untergrund für eine Tapete eigne. Im Erdgeschoss fanden sich Löcher in der Holzverkleidung, aber da sie in dem großen Raum unter dem Dach intakt war, ließen Mog und Belle die Wände mit der einzigen Tapete bekleben, die in der Gemischtwarenhandlung zu haben war. Sie war ein bisschen langweilig, hellblau mit einem zarten Muster in Beige, doch an der Wand sah sie erstaunlich gut aus. Mit der Auslegeware aus Linoleum, die sie in Auckland bestellt hatten, und einer neuen Matratze, die mit der Clansman kommen würde, sollte das hier oben ihr gemeinsames Zimmer werden, bis der Rest des Hauses renoviert war.

Spud und Tony hatten vor, sich auf den Fischerbooten oder in der Konservenfabrik Arbeit zu suchen, aber einstweilen hatten sie nichts dagegen, gegen Bezahlung dem Zimmermann in Mogs Haus zu helfen, eine Veranda anzubauen, Schränke und Regale für die Küche zu zimmern und die schadhaften Teile der Holzverkleidung auszubessern.

»Endlich im eigenen Heim!«, jubelte Mog, als sie sich am Abend des zweiten Juni bereit machten, die Nacht in dem eisernen Bett zu verbringen, das sie sich vorerst teilen mussten.

Im Licht der Öllampe wirkte der Raum mit den zarten cremefarbenen Gardinen, die Mog für jedes Fenster genäht hatte, ein paar Flickenteppichen auf dem Linoleumboden, die sie geschenkt bekommen hatten, und dem frisch bezogenen Bett ausgesprochen freundlich.

»Ich mag Peggy sehr, aber es wird herrlich sein, morgens nicht von ihrem Geschrei geweckt zu werden«, sagte Belle, als sie in ihr Nachthemd schlüpfte. »Und der Herd wird noch diese Woche geliefert. Dann müssen wir auch nicht mehr bei ihnen essen.«

»Schäm dich!«, tadelte Mog sie. »Peggy und Don sind sehr nette, freundliche Leute. Du kannst manchmal richtig undankbar sein.«

Belle grinste. Sie wusste, dass Mog genauso empfand wie sie oder sogar noch mehr gelitten hatte als sie selbst, weil sie es vermisste, ihre Mahlzeiten selbst zu kochen, und sie in der Küche tagein, tagaus Peggys unaufhörliches Geplapper hatte anhören müssen. »Na ja, ich werde ihr zur Entschädigung einen bezaubernden Sonntagshut schenken«, sagte sie.

»Themenwechsel«, entschied Mog und schürzte die Lippen, wie immer, wenn sie etwas missbilligte. »Sollen wir demnächst mit der Clansman nach Auckland fahren, um Möbel zu kaufen? Peggy findet es unklug, Sessel oder eine Couch per Katalog zu bestellen, weil sie sich später vielleicht als steinhart entpuppen.«

»Hm.« Belle überlegte einen Moment. »Ich denke, wir bleiben hier, bis das Haus fast fertig ist und wir genau wissen, was noch fehlt. Wir werden Stoff für Vorhänge brauchen und ein paar Materialien für meine Hüte. Immerhin werden wir eine Woche in Auckland sein und haben Zeit genug, um alles, was wir brauchen, auf einmal zu kaufen.«

Sie gingen zu Bett, und Belle drehte die Öllampe ab. »Ein Segen, Don nicht mehr schnarchen zu hören«, wisperte sie in die Dunkelheit. »Er hat so laut geschnarcht, dass die Wände wackelten.«

Mog legte eine Hand auf Belles Arm. »Du wirst allmählich zänkisch, meine Liebe. Du brauchst einen Freund.«

Belle kicherte. »Willst du einen aus dem Katalog bestellen?«

»Schreib deine Wünsche und Vorstellungen auf, dann sehe ich mal nach, ob sie etwas Passendes auf Lager haben«, erwiderte Mog mit einem Lachen in der Stimme. »Und jetzt schlaf schön und träum von ihm!«

Belle lag noch lange wach, nachdem Mog eingeschlafen war, und stellte im Geist die gewünschte Liste auf. Vielleicht sollte sie sie am nächsten Morgen wirklich schreiben, um Mog zum Lachen zu bringen.

Groß, schlank, helles Haar und blaue Augen – Augenblick, dachte sie, ich beschreibe ja Etienne! Allein die Erinnerung an jene eine Nacht, die sie in Frankreich miteinander verbracht hatten, erfüllte sie mit einer solchen Sehnsucht, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie wusste, dass sie nicht die Art Frau war, die enthaltsam leben konnte, sie wollte im Arm gehalten und geküsst werden und die Freuden körperlicher Liebe genießen. Mog hatte recht, sie wurde zänkisch, und das lag an der Enthaltsamkeit und der Einsamkeit.

Vera hatte ihr erzählt, dass im Sommer viele Männer zum Fischen herkamen, die meisten von ihnen aber verheiratet waren. Spud mochte sie, das merkte Belle an der Art, wie er sie ansah, doch selbst wenn sie sich an den Gedanken gewöhnen könnte, mit einem Mann zusammen zu sein, der einen so albernen Spitznamen wie »Knolle« hatte, war er viel zu unschuldig für sie. Sie hatte zufällig mit angehört, wie er sich mit seinem Bruder Tony über eine französische Hure unterhalten hatte, bei der er gewesen war. Es war offensichtlich eine faszinierende Erfahrung gewesen, aber die abfällige Art, in der er über das Mädchen gesprochen hatte, hatte Belle tief getroffen.

Sie hatte kein Problem damit, unter ihren Mitbürgern das korrekte Benehmen einer jungen Witwe an den Tag zu legen, aber falls sie je wieder einen Mann fand, den sie lieben konnte, würde sie es nicht über sich bringen, ihm ihre Vergangenheit zu verheimlichen. Und selbst Jimmy, der sie ohne Wenn und Aber akzeptiert hatte, hatte sie nach seiner Verwundung gelegentlich beschimpft.

Die Chancen, einen Mann zu treffen, der so weltgewandt und vorurteilslos wie Etienne und genau wie er gütig, witzig und ein toller Liebhaber war, waren genauso gering wie die Aussicht, eines Morgens aufzuwachen und vor dem Haus einen Elefanten stehen zu sehen. Sollte sie sich damit abfinden, dass sie ihren Anteil an Leidenschaft schon gehabt hatte, und sich darauf einstellen, ihr Leben als alte Jungfer zu beschließen?