KAPITEL 25
Belle blieb in der offenen Tür zu Dr. Towles Sprechzimmer zögernd stehen. Er saß an seinem Schreibtisch und notierte sich etwas, und einen Moment lang hätte sie am liebsten einen Rückzieher gemacht.
Aber er blickte auf und lächelte. »Nur herein, Mrs. Reilly, ich beiße nicht!«
Der Arzt genoss in Blackheath den Ruf, ein Freund der Damen zu sein. Belle, die nur wusste, wie gütig er zu ihr gewesen war, als sie ihr Baby verloren hatte, und wie viel Mitgefühl er Jimmy entgegenbrachte, hielt das für ungerechtfertigt. Doch ein erfreulicher Anblick war er bestimmt: groß, gut gebaut, mit einem stets bereiten Lächeln und einem Zwinkern in den dunklen Augen. Sein ebenfalls dunkles Haar war leicht mit Grau durchsetzt, der einzige deutliche Hinweis, dass er über vierzig war. Belle fand es traurig, dass dumme Menschen sein Verständnis für weibliche Probleme falsch auslegten.
Im vollen Bewusstsein, ihre Worte nicht mehr zurücknehmen zu können, wenn sie ihre Probleme mit Jimmy erst einmal angesprochen hatte, nahm sie Platz.
»Sie sehen blass und angegriffen aus«, stellte er mitfühlend fest. »Fehlt Ihnen etwas? Oder geht es bei Ihrem Besuch um Ihren Mann?«
»Ja, es geht um Mr. Reilly«, gestand sie und ließ den Kopf hängen. »Ich bin mit meinem Latein am Ende, Herr Doktor. Er ist so mürrisch, so …« Sie brach ab, weil sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte. »Entschuldigen Sie bitte!«, brachte sie heraus und kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
Es war Ende Juli, und in den letzten zwei Wochen war es so heiß gewesen, dass man nachts nicht schlafen konnte und tagsüber kaum die Energie für die leichtesten Arbeiten aufbrachte. Doch sie wäre mit der Hitze, mit Essen, das verdarb, noch bevor es gekocht wurde, und mit dem Staub, der alles überzog, fertiggeworden, wenn nur Jimmy aus seiner düsteren Stimmung herausgekommen wäre.
Immer wieder hatte er sie mit Fragen nach Etienne bestürmt, meistens, um dem Mann Vorwürfe zu machen, weil er ihn gerettet hatte, manchmal jedoch auch voller Argwohn, dass sich in Paris etwas zwischen Belle und ihm abgespielt hatte. In diesem Punkt war sie wenigstens frei von jeder Schuld, aber Jimmy fragte sie auch nach ihrer Zeit im Lazarett aus und wollte wissen, wie die Fahrer und Sanitäter dort gewesen waren. Er war wie ein Hund, der einen Knochen ausgegraben hatte und sich immer wieder darauf stürzte, mit einer solchen Hartnäckigkeit, dass sie manchmal hätte schreien können. Es gab Augenblicke, in denen sie stark versucht war, zur Tür hinauszugehen und nie wiederzukommen. Nur der Gedanke an Mog hielt sie zurück.
Der Arzt beugte sich vor und legte seine Unterarme auf den Tisch. »Ich habe beobachtet, dass das eine der vielen verstörenden Nebenwirkungen bei Verwundeten ist, wenn sie wieder zu Hause sind. Auch wenn sie jeden Moment da drüben gehasst haben, hatte jeder Tag seinen Zweck und sein Ziel, und das fehlt ihnen jetzt. Sie und viele andere Frauen haben gelernt, auch ohne ihre Männer zurechtzukommen. Sosehr man sie vermisst und sich nach ihnen gesehnt hat – es muss sehr schwer sein, sich an ihre Heimkehr zu gewöhnen, wenn sie nicht länger die starken, tüchtigen Männer sind, denen man Lebewohl gesagt hat.«
Belle nickte und tupfte sich die Augen.
»Ich habe schon manche liebende Ehefrau hier in meiner Praxis gehabt, die mir anvertraute, wie viel Zuwendung ihr Mann fordert, wie kritisch er ihr gegenüber ist, und einige sagen, dass sie von ihnen kein Zeichen der Zuneigung mehr zu erwarten haben. Geht es Ihnen auch so?«
Belle holte tief Luft. Wenn sich andere Frauen Dr. Towle anvertrauen konnten, konnte sie es auch. »Ja. Er ist ein anderer Mensch geworden. Früher hatte jeder Jimmy gern, er war an seinen Mitmenschen interessiert und großzügig mit seiner Zeit und seiner Zuneigung. Einfach ein großartiger Mann. Doch damit ist es jetzt vorbei. Er ist verbittert und schwierig.«
»Es wird besser werden, Mrs. Reilly.«
»Wirklich?«, fragte sie bedrückt. »Seit er wieder hier ist, hat er kaum das Haus verlassen. Er weigert sich, das Gehen mit seiner Beinprothese zu üben, und spricht nicht mit mir. Manchmal sieht er mich an, als hasste er mich. Er zermürbt mich so sehr, dass ich am liebsten weglaufen würde.«
»Und wie ist er zu Mr. und Mrs. Franklin?«
»Nicht ganz so hässlich wie zu mir, aber manchmal sind auch sie der Verzweiflung nahe. Ich werde natürlich nicht weglaufen, das könnte ich Mr. und Mrs. Franklin nicht antun. Doch es belastet uns alle, und ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll.«
»Inwiefern benimmt er sich Ihnen gegenüber hässlich? Schlägt er Sie?«
»Oh nein, das würde er nie tun«, sagte Belle rasch, obwohl Jimmy mehrmals drohend mit der Hand ausgeholt hatte und sie ihm einfach schnell ausgewichen war. »Aber er gräbt Dinge aus meiner Vergangenheit hervor, und er vertraut mir nicht mehr. Er kann sich an nichts mehr erfreuen.«
Dr. Towle zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Das Thema ist erledigt«, erklärte sie, weil sie erriet, was er meinte, sie jedoch nicht mit einer direkten Frage in Verlegenheit bringen wollte. »Er weist jede Form von Zuwendung von mir zurück.«
»Hat er vielleicht Angst, Sie könnten ein Kind bekommen? Ich habe ihm nach Ihrer Fehlgeburt gesagt, dass eine Schwangerschaft nicht ratsam wäre.«
»Wirklich?«, rief Belle. »Das hat er mir gegenüber nie erwähnt.« Sie war völlig erschüttert von dieser Neuigkeit und fing wieder an zu weinen. »Heißt das, dass ich nie ein Kind bekommen kann?«
»Es tut mir aufrichtig leid, Mrs. Reilly, ich bin davon ausgegangen, Ihr Ehemann würde Ihnen das mitteilen. Ich habe nicht gesagt, dass Sie keine Kinder mehr bekommen können, sondern nur, dass das Risiko einer neuerlichen Fehlgeburt sehr groß ist.«
Belle schniefte. »Na ja, wie die Dinge momentan stehen, wird vermutlich sowieso nichts draus.«
Eine ihrer größten Hoffnungen für die Zukunft war ein Baby gewesen. Sie war überzeugt gewesen, dass ein Kind Jimmy neue Lebensfreude schenken würde. Außerdem hatte sie geglaubt, es würde alle Erinnerungen an Etienne auslöschen, und Mog und Garth wären ebenfalls überglücklich. Jetzt musste sie auch diese Hoffnung begraben.
»Es könnte sein, dass er nicht nur Angst um Sie hat. Vielleicht befürchtet er darüber hinaus, ein Kind nicht ernähren zu können. Manche Männer sind in dieser Hinsicht sehr empfindlich.«
»Wenn er versuchen würde, sich an die Prothese zu gewöhnen, könnte er hinter der Theke arbeiten«, sagte Belle. »Aber er scheint es zu genießen, in seinem Elend zu versinken. Manchmal würde ich ihn am liebsten anschreien und ihn daran erinnern, dass andere verwundete Soldaten gezwungen sind, auf der Straße zu betteln, um Essen auf den Tisch zu bringen. Doch ihm scheint gar nicht bewusst zu sein, wie glücklich er sich schätzen kann, ein Dach über dem Kopf und Menschen zu haben, die ihn lieben.«
Dr. Towle nickte teilnahmsvoll. »Erst seit Kurzem erkennen Ärzte und Psychiater allmählich, welche Auswirkungen der Krieg auf die geistige Gesundheit der Soldaten hat. In früheren Kriegen hat es weder den ständigen Beschuss durch schwere Geschütze noch derart lang anhaltende Kampfhandlungen gegeben, und damals starben die meisten Männer an Verletzungen, wie Mr. Reilly sie davongetragen hat. Wir Mediziner sind uns mittlerweile bewusst, dass wir in diesem Krieg nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Wunden behandeln müssen. Bedauerlicherweise gibt es zurzeit keine Medizin dagegen. Wir können nur Ruhe, Frieden und Erholung empfehlen und hoffen, dass Gespräche mit unseren Patienten dazu beitragen, die grauenhaften Bilder irgendwann aus ihren Köpfen zu vertreiben.«
»Aber was ist, wenn sie nicht darüber sprechen und auch sonst nichts versuchen wollen? Belle liefen Tränen übers Gesicht. »Jimmy denkt nicht einmal daran, mir oder seinem Onkel zu erlauben, ihn in dem Rollstuhl auszuführen, den wir inzwischen gekauft haben. Ein Spaziergang auf der Heide oder im Greenwich Park könnte ihn ablenken, doch er weigert sich. Es kann nicht gut für ihn sein, Tag für Tag in der dunklen Küche zu hocken und nie einen Vogel oder Baum oder Blumen zu sehen.«
Der Arzt nickte. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Er braucht Sonne, Natur und Gespräche mit anderen, damit er aus diesem Tief herausfindet. Ich werde mal mit ihm reden und versuchen, ihm das begreiflich zu machen.«
»Wahrscheinlich lehnt er es ab, Sie zu sehen«, sagte Belle düster. »Als ich ihm vorschlug, mit Ihnen zu sprechen, meinte er, das Einzige, was er von einem Doktor will, sei ein Ende seiner Qualen.«
Dr. Towle seufzte. »Das habe ich schon von vielen Verwundeten gehört, doch ich glaube nicht, dass es ihnen damit wirklich ernst ist. Ich schaue morgen auf meiner Runde vorbei. Erzählen Sie ihm nichts davon, sonst findet er vielleicht eine Ausrede, um mich nicht sehen zu müssen. Weiß er, dass Sie heute bei mir sind?«
»Nein. Sonst hätte es bloß wieder Streit gegeben.«
»Dann werde ich Ihren Besuch auch nicht erwähnen. Ich kann Ihnen nur einen Rat geben, Mrs. Reilly: Lassen Sie sich nicht unterkriegen! Wenn Ihr Mann schmollt, gehen Sie einfach! Versuchen Sie nicht ständig, ihm gut zuzureden! Das nützt nichts und macht Sie nur noch wütender auf ihn. Und gönnen Sie sich ein bisschen Ruhe! Sie sehen völlig erschöpft aus.«
Nachdem Belle sich verabschiedet hatte, saß Dr. Towle noch eine Weile an seinem Schreibtisch und betrachtete seine wenigen Notizen. Belle hatte ihn von jeher fasziniert, schon damals, als sie und ihre Tante nach Blackheath gezogen waren und ein paar Häuser von seiner Praxis entfernt gewohnt hatten. Ihr Aussehen allein erregte Aufmerksamkeit, aber es war mehr als nur das. Sie hatte nichts von der gekünstelten Mädchenhaftigkeit, die er gewöhnt war, sie sah den Leuten offen in die Augen und hatte ein unbefangenes Auftreten, das ihm sehr gut gefiel.
In der Zeit, in der sie ihren Hutsalon auf der Tranquil Vale geführt hatte, war sie bei Männern wie Frauen ein beliebtes Gesprächsthema gewesen. Sie wurde für ihr Talent, ihre Ausstrahlung und ihr Aussehen bewundert, doch da war noch etwas an ihr, etwas, das sich schwer benennen ließ. Einige fanden, sie sei weltgewandt, und benutzten Wörter wie »selbstbewusst«, »souverän« oder sogar »rassig«, um sie zu beschreiben. Aber sogar seine eigene Frau, die für ihr präzises Urteilsvermögen bekannt war, konnte nur andeuten, dass Belle ihrer Meinung nach »eine Vergangenheit« hatte.
Für ihre ehrenamtliche Arbeit im Royal Herbert Hospital wurde Belle allgemein bewundert. Es sprach sich herum, dass sie gewissenhaft und tüchtig war, doch als sie nach Frankreich ging, waren viele Leute der Meinung, das Fahren eines Rettungswagens sei eine unpassende Tätigkeit für eine verheiratete junge Frau. Dann goss diese gehässige Mrs. Forbes-Alton mit ihrer Behauptung, Belle hätte ihre Tochter Miranda auf Abwege geführt, Öl ins Feuer, und der Klatsch nahm zu. Später, kurz nach Mirandas tragischem Tod, erschien jener befremdliche Zeitungsartikel über Belle, der von allen mit großem Genuss gelesen wurde.
Dr. Towle konnte sich an den Prozess gegen diesen Kent und seinen Tod am Galgen erinnern. Damals hatte er großes Mitleid mit all seinen unschuldigen Opfern gehabt, und es hatte ihn entsetzt, zu erfahren, dass Belle Reilly zu ihnen zählte. Doch wie er seiner Frau vorhielt, die leider genauso bereit war wie Mrs. Forbes-Alton, Belle zu verdammen, gehörte große Courage dazu, eine solche Tragödie zu überleben und dafür zu sorgen, dass der Verantwortliche vor Gericht gestellt wurde.
Wie konnte er ihrem Mann Mut zusprechen? Sollte er ihm vielleicht diskret zu verstehen geben, dass er seine schöne Frau verlieren könnte, wenn er nicht endlich sein Schicksal in die Hand nahm?
Belle verpasste Dr. Towles Besuch, weil sie am Nachmittag ausgegangen war, um Fleisch zu kaufen, und eine Stunde anstand, nur um festzustellen, dass der Fleischer keine Ware mehr hatte, als sie endlich an der Reihe war. Es gelang ihr allerdings, ein paar Eier und etwas Käse aufzutreiben, aus denen sie zum Abendessen leckere Omelettes zubereiten wollte.
Sie war verschwitzt und müde, und als sie in die Küche kam und Jimmy immer noch dort vorfand, wo er bei ihrem Fortgehen gesessen hatte, lag ihr eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Doch zu ihrer Überraschung blickte er auf und lächelte sie an.
»Du siehst total erledigt aus«, sagte er. »Musstest du lange anstehen?«
Zum ersten Mal sprach er über so etwas wie Warteschlangen vor den Geschäften, und Mitgefühl hatte er bisher auch nicht gezeigt.
»Über eine Stunde beim Fleischer, um dann doch nichts zu bekommen«, seufzte sie. »Ich hoffe, Garth treibt in den nächsten Tagen irgendwo ein Kaninchen oder sonst was auf.« Sie ging zur Spüle, ließ Wasser in ein Glas laufen und leerte es in einem Zug. »Wo ist Mog?«
»Bei irgendeinem Handarbeitsverein, und Garth macht ein Nickerchen. Dr. Towle war übrigens vorhin hier.«
»Ach ja?«, sagte Belle. »Und wer hat ihn ins Haus gelassen?«
»Ich. Ich kann die Tür öffnen«, erwiderte Jimmy, aber ohne den Sarkasmus, den er sonst an den Tag legte. »Er hat mir einen Vortrag über Apathie gehalten.«
Belle sank auf einen Stuhl und setzte eine angemessen überraschte Miene auf.
»Er meint, ich müsste mehr an die frische Luft und jeden Tag üben, mit dem Holzbein zu gehen.«
»Und was hast du dazu gesagt?«
»Dass ich es versuchen werde.«
Jetzt war Belles Überraschung echt. »Das würde uns alle freuen.« Die Bemerkung, dass sie ihm schon seit Wochen vergeblich genau dasselbe predigte, verkniff sie sich.
»Ich war wohl wirklich apathisch«, gab er zu. »Dr. Towle hat mich darauf hingewiesen, dass die Muskeln in meinem verbliebenen Arm und Bein schwächer werden, wenn ich sie nicht gebrauche. Und draußen in der Sonne zu sein wird mir guttun.«
»Wie wär’s, wenn du gleich mit den Gehübungen anfängst?«, schlug Belle vor. »Der Schankraum wäre ideal dafür, solange das Lokal geschlossen ist. Da gibt es nicht viele Hindernisse, denen du ausweichen musst.«
»Nicht jetzt. Ich fange morgen an, wenn Garth dabei ist, um mir zu helfen.«
Für Belle klang das nach Verzögerungstaktik.
»Ich trainiere, Belle, Ehrenwort. Du bist nicht stark genug, um mich zu stützen. Mit Garth wird es besser gehen.«
Zu Belles Überraschung hielt Jimmy sein Versprechen. Jeden Morgen, wenn Garth mit der Arbeit im Keller fertig war, ging Jimmy mit ihm in den Schankraum und übte. Die Theke hatte genau die richtige Höhe zum Festhalten, und wenn er es allein bis zum Ende geschafft hatte, half Garth ihm, sich umzudrehen, und stützte ihn auf dem Rückweg.
Jeden Tag schafften sie ein bisschen mehr und verlängerten allmählich die Trainingszeit, bis Jimmy eine Stunde lang gehen konnte. Anfangs bekam er am Stumpf seines amputierten Beines, wo es sich an der Prothese rieb, wunde Stellen, aber Belle oder Garth massierten den Beinstumpf jeden Abend mit einer medizinischen Tinktur.
Belle war so glücklich über Jimmys Bemühungen, dass sie seine weniger freundlichen Momente klaglos hinnahm. Nachmittags half sie ihm in den Hinterhof, damit er eine Weile in der Sonne sitzen konnte. Endlich besserte sich seine Laune, und eines Sonntagnachmittags war er sogar einverstanden, sich im Rollstuhl ausfahren zu lassen, solange Garth bereit war, ihn zu schieben.
Belle und Mog waren selig, dass sie alle zusammen einen Ausflug machen würden. Sie putzten sich beide mit ihren besten Kleidern und schicksten Hüten heraus, und Garth warf sich in ein gestreiftes Jackett und setzte einen Strohhut auf. Auch Jimmy würdigte den Anlass, indem er sich von Belle in die grüne Leinenjacke helfen ließ, die er früher hinter der Theke getragen hatte.
Es war Schwerstarbeit, ihn den Hügel zur Heide hinaufzuschieben, doch oben angelangt, ging es ganz leicht. Wie immer an einem Sonntagnachmittag waren viele Menschen unterwegs, um den Sonnenschein zu genießen. Aber man sah kaum Männer zwischen achtzehn und fünfzig. Die wenigen, die ihnen begegneten, waren alle auf Heimaturlaub und in Uniform und gingen mit ihren Frauen oder Liebsten spazieren. Die Kinder, die picknickten oder Ball spielten, wurden von Müttern oder Großeltern beaufsichtigt.
Jimmy schien sich beim Anblick anderer Männer, die auf Krücken gingen oder einen Arm in der Schlinge hatten, zu entspannen. Einige von ihnen saßen wie er im Rollstuhl, doch es bedrückte ihn sichtlich, so viele Frauen in Schwarz oder mit einem Trauerband am Arm zu sehen.
Irgendwann nahm er Belles Hand, ein wortloses Eingeständnis, dass er endlich auch an die Notlage anderer und nicht nur an seine eigene Behinderung dachte.
Als sie beim Teich anlangten, ließen Garth und Mog sie allein, um für alle Eiscreme zu kaufen.
Belle setzte sich neben Jimmy auf eine Bank und sah den Kindern zu, die ihre Boote auf dem Teich fahren ließen. »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir von Seven Dials hierhergekommen sind? Als du mir erzählt hast, dass deine Mutter mit dir hier war, als du ungefähr sieben warst?«
Er wandte sich zu ihr um und lächelte. »Ja, ich erinnere mich. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich sechs Jahre später in einem Rollstuhl hier sitzen würde.«
»Wenigstens sitzt du hier«, entgegnete sie tadelnd. »Du könntest auch in einem der Massengräber in Frankreich liegen. Und ich wäre eine von vielen Kriegswitwen, denen nichts als Erinnerungen geblieben sind. Wir können nicht ändern, was geschehen ist, aber wir können immer noch unsere Zukunft bestimmen.«
Er sah ihr eine Weile in die Augen. »Vielleicht können wir doch noch unseren Plan von einer Pension an der See verwirklichen, wenn ich mit der Prothese zurechtkomme.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte sie und strich ihm zärtlich über die Wange. »Das Schlimmste haben wir hinter uns, jetzt kann es nur noch besser werden.«
Belle erhielt von Vera einen beunruhigenden Brief über die Männer, die drüben in Frankreich an der Spanischen Grippe starben. Erst einen Tag zuvor hatte Mog aus der Zeitung vorgelesen, dass in London und anderen Städten überall auf der Welt Fälle von Grippe aufgetreten waren.
Belle hatte zuerst angenommen, die Zeitungen würden diese sogenannte »Epidemie« künstlich aufbauschen, weil ihren Kriegsberichten allmählich der Schwung ausging. Aber Vera neigte nicht zu Übertreibungen.
Sie sterben über Nacht, schrieb die Freundin. Es ist einfach schrecklich. An einem Tag habe ich sechs Patienten mit Verletzungen abgeholt, die im Nu behandelt werden konnten. Zwei Tage später hatten drei von ihnen hohes Fieber, einer starb in der ersten Nacht, die anderen zwei am nächsten Tag. Patienten, bei denen der Verdacht auf Grippe besteht, kommen auf eine Isolierstation, doch es geht zu schnell. In einem Moment sehen sie noch völlig gesund aus, im nächsten schwitzen sie fürchterlich und verlieren die Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen. Seltsam ist, dass es die Jungen und Kräftigen trifft; alte Leute und Kinder scheinen unempfindlich gegen diese Krankheit zu sein.
Veras Brief war Anfang August gekommen, und innerhalb einer Woche wusste Mog über zwei Todesfälle durch die Spanische Grippe zu berichten; beide Male handelte es sich um Frauen von Mitte zwanzig. Garth fiel auf, dass im Wirtshaus weniger los war, wahrscheinlich, weil die Leute es für ratsam hielten, stark frequentierten Orten fernzubleiben. In den Warteschlangen vor den Geschäften schien jeder jemanden zu kennen, der an dieser furchtbaren Grippe erkrankt oder bereits daran gestorben war.
Bald stand fest, dass die Presse keine Schauergeschichten verbreitete oder die Epidemie als Abwechslung von der Kriegsberichterstattung benutzte. Die Spanische Grippe war da und streckte Menschen nieder, die gesund und kräftig gewesen waren. An einem Morgen polierte Belle einmal wieder die Messingbeschläge an der Eingangstür, und in dieser kurzen Zeit zogen gleich zwei Leichenzüge am Railway Inn vorbei. Furcht machte sich breit; Belle sah sie in den Gesichtern der Frauen, wenn sie zu den Geschäften eilten; Mogs Nähzirkel wurde eingestellt, Kartenpartien wurden abgesagt, und die Leute gingen lieber zu Fuß, als den Omnibus zu nehmen.
Dann wurde Garth krank. Mog hatte noch nie erlebt, dass er auch nur eine Erkältung bekommen hätte, aber mittags klagte er über Halsweh, und um vier Uhr nachmittags hatte er so starken Schüttelfrost, dass er sich ins Bett legen musste.
Dr. Towle kam noch am selben Abend und riet Mog, eine Gazemaske über Mund und Nase zu tragen, wenn sie ihn pflegte. Alles, was er verordnen konnte, war, Garth möglichst viel trinken zu lassen und ihn mit kaltem Wasser abzureiben, falls er Fieber bekam.
»Sie halten sich von ihm fern«, sagte er energisch zu Belle und Jimmy, die vor der Schlafzimmertür warteten. »Überlassen Sie Mrs. Franklin die Pflege ihres Mannes. Und lassen Sie die Schenke einstweilen geschlossen.«
Als Belle in der Nacht hörte, wie Mog aus ihrem und Garths Schlafzimmer kam, stieg sie schnell aus dem Bett. Sie holte Mog, die mit Bettwäsche beladen war, auf der Treppe ins Erdgeschoss ein.
»Wie geht es ihm?«, fragte Belle. »Kann ich irgendetwas tun?«
»Er ist wirklich schlimm dran.« Mogs Unterlippe zitterte. »Er kann es nicht mehr kontrollieren, wenn er …« Sie brach verlegen ab, und Belle fiel auf, dass die Bettwäsche beschmutzt war. »Er deliriert. Ich will nur schnell das hier einweichen.«
»Ich erledige das«, sagte Belle und nahm ihr das Bündel ab. »Und ich koche dir einen Tee. Hättest du gern ein belegtes Brot oder sonst etwas?«
Mog schüttelte den Kopf. »Ich könnte vor Angst keinen Bissen herunterbringen. Garth ist ein kräftiger Mann, aber das ist wirklich ernst.«
»Nachts sieht immer alles schlimmer aus«, versuchte Belle, sie zu beruhigen. »Geh wieder zu ihm, ich erledige das hier! Den Tee bringe ich dir in ein paar Minuten.«
»Könntest du noch Bettwäsche und ein Handtuch mitbringen?«, bat Mog. »Ich habe sein Bett frisch bezogen, doch es kann wieder passieren. Und ein bisschen warmes Wasser könnte ich auch gebrauchen.«
Als Mog am nächsten Morgen aus ihrem Schlafzimmer kam, war ihr Gesicht grau vor Erschöpfung. »Es geht ihm noch schlechter«, sagte sie. »Ich habe ihn von oben bis unten mit dem nassen Schwamm abgerieben und versucht, ihn dazu zu bringen, etwas zu trinken, aber das Fieber will einfach nicht sinken. Er erkennt mich nicht einmal mehr.«
Belle wusch die verschmutzten Handtücher und das Bettzeug und hängte die Sachen draußen zum Trocknen auf. Dann kochte sie eine Rinderbrühe und versuchte, Mog zu überreden, sie bei Garth wachen zu lassen, damit die Ältere ein wenig Schlaf bekam.
Doch Mog schüttelte entschieden den Kopf. »Er ist mein Mann, und ich muss mich um ihn kümmern. Ich habe sowieso schon Angst, dass du dich anstecken könntest, weil du im selben Haus bist. Komm mir also nicht zu nahe! Und wehe, du gehst in sein Zimmer!«
Belle und Jimmy fügten sich ihren Wünschen. Jimmy saß draußen im Hof, während Belle die Hausarbeit erledigte. Später konnte sie Mog dazu bewegen, etwas Rührei und Toast zu essen, doch danach eilte sie sofort wieder nach oben. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, hörte Belle, wie Garth einen unartikulierten Schrei ausstieß.
»Ich gehe noch mal den Arzt holen, Jimmy«, sagte sie. »Ich beeile mich.«
Eine stämmige Frau in mittleren Jahren öffnete die Tür von Dr. Towles Praxis. Sie trug ein marineblaues Kleid und sah nach einer Haushälterin aus. »Der Doktor macht gerade seine Runde. Sie können sich sicher denken, dass er wegen dieser Epidemie Tag und Nacht auf den Beinen ist. Sein Rat lautet, den Patienten genug zu trinken zu geben und sie kühl zu halten; mehr kann er selbst auch nicht tun.«
»Aber ich habe Angst, dass Mr. Franklin stirbt«, sagte Belle verzweifelt.
»Ich werde ihm ausrichten, dass Sie hier waren«, versprach die Frau.
Dr. Towle kam nicht. Gegen Mitternacht war Belle klar, dass er nicht mehr auftauchen würde, und sie ängstigte sich immer mehr. Mog war erschöpft, sie hatte Garth Dutzende Male gewaschen und umgezogen und versucht, ihn zum Trinken zu bewegen. Nach wie vor wollte sie Belle auf keinen Fall erlauben, bei ihm zu wachen, damit sie selbst ein paar Stunden Schlaf bekam.
»Nicht, dass du mir auch noch krank wirst«, sagte sie durch die geschlossene Tür. »Ich kann hier im Sessel dösen. Geht ihr schön zu Bett, Jimmy und du!«
Belle gab nach; sie lag jedoch die ganze Nacht wach und spitzte die Ohren, ob Mog nach ihr rufen würde.
Irgendwann musste sie eingenickt sein, weil sie durch ein Geräusch auf dem Treppenabsatz jäh aus dem Schlaf gerissen wurde. Draußen war es hell, und sie vermutete, dass es gegen fünf Uhr morgens war. Schnell sprang sie aus dem Bett und lief aus dem Zimmer. Mog stand tränenüberströmt neben ihrer Schlafzimmertür.
»Ist er…?«, fragte Belle.
Mog streckte abwehrend eine Hand aus, damit Belle nicht näher kam. »Nein, aber er wird sterben. Sein Gesicht ist ganz schwarz. Er atmet kaum noch.«
Belle konnte Garth durch die offene Tür sehen. Er schien geschrumpft zu sein, und sein ehemals frisches, von Wind und Wetter gerötetes Gesicht war mit schwärzlichen Flecken übersät, sein rotes Haar schweißnass, und ein widerwärtiger Geruch ging von ihm aus.
»Erkennt er dich?«
»Nein, jetzt nicht, doch vor einer Weile hat er mich noch einmal erkannt, und ich dachte schon, er wäre über den Berg«, schluchzte Mog. »Er wollte wissen, was es zum Abendessen gibt, und hat gesagt, dass ich die besten Fleischpasteten in London zubereite. Ich habe ihm versprochen, ihm die größte Fleischpastete, die er je gegessen hat, zu machen, wenn er wieder gesund ist. Danach hat er gleich wieder das Bewusstsein verloren.«
»Ach, Mog!« Belle wünschte, sie könnte sie in die Arme nehmen und trösten, aber jedes Mal, wenn sie näher kam, hob Mog warnend die Hand. »Soll ich noch mal zum Doktor laufen?«
Mog schüttelte den Kopf. »Nur Gott kann ihm jetzt noch helfen, und ich glaube nicht, dass er das vorhat. Garth ist der einzige Mann, den ich je geliebt habe, und jetzt wird er mir genommen.«
Sie drehte sich um, lief ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür. Belle war von ihren Worten zutiefst erschüttert.
Garth starb kurz nach sieben Uhr morgens. Belle, die auf der Treppe saß und wartete, ob Mog sie brauchte, hörte einen lang gezogenen rasselnden Laut, der abrupt abbrach. Sekunden später schrie Mog auf. So klang es, wenn einem Menschen das Herz brach.
Jimmy, der noch im Schlafzimmer war, rief nach Belle.
»Ich glaube, er ist gerade gestorben«, sagte sie und setzte sich zu ihm aufs Bett.
Jimmy stiegen Tränen in die Augen, und Belle legte beide Arme um ihn und wiegte ihn an ihrer Brust. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
Als sie ihn in den Armen hielt, während er an ihrer Schulter schluchzte, fragte sie sich, was ihnen noch genommen werden könnte: Jimmy war verkrüppelt und Garth für immer von ihnen gegangen. Es war ihr gleichgültig, ob sie den Pub weiterführen konnten, ob die Deutschen den Krieg gewannen oder ob nie wieder jemand im Ort mit ihr sprechen würde. Aber die Vorstellung, dass Mog ohne Garth weiterleben musste, war trauriger und grausamer als alles andere zusammen.