KAPITEL 4
Kurz nach sechs Uhr morgens schlüpfte Mog durch die Hintertür in den Hof. Es war ein herrlicher Morgen, der einen weiteren heißen Tag ankündigte. Die Vögel zwitscherten, und normalerweise hätte sie daran gedacht, wie glücklich sie sich schätzen konnte, aus Seven Dials herausgekommen und einen liebevollen, tüchtigen Mann gefunden zu haben.
Aber vor lauter Sorge um Belle hatte sie in der Nacht kaum ein Auge zugetan.
Obwohl sie in der Zeit, als sie in Annies Bordell gearbeitet hatte, sechs oder sieben Mädchen in der gleichen Notlage beigestanden hatte, in der sich Miranda befand, war es ihr nie leichtgefallen. Es war eine schlimme, eine schändliche Sache, und noch schlimmer für Belle, weil sie selbst schwanger war.
Mog wünschte von ganzem Herzen, es gebe eine Alternative für unverheiratete Frauen, die in diese Lage gerieten. Aber wenn sie sich nicht auf eine Abtreibung einließen und weder bei ihrer Familie noch bei dem Vater des Kindes Unterstützung fanden, landeten sie in den meisten Fällen auf der Straße und konnten höchstens auf Aufnahme in ein Armenhaus hoffen. Wenn ihr Baby nicht wegen nachlässiger Betreuung schon bei der Geburt starb, kam es ins Waisenhaus oder zu einem Bauern, der es als einträgliches Geschäft betrachtete, ein Kind großzuziehen, und keine Zeit an Zuwendung verschwendete.
Doch heute war Mogs Hauptsorge, dass Belle in ernsthafte Schwierigkeiten kommen würde, falls letzte Nacht etwas schiefgegangen war. Vielleicht urteilten die Gerichte nachsichtig, wenn eine Frau einer Prostituierten in einer derartigen Notlage beistand, aber es sah mit Sicherheit anders aus, wenn es um eine junge Dame aus gutem Hause ging.
Es kam vor, dass Frauen an diesen barbarischen Abtreibungen starben, wenn nicht direkt, dann später an den Folgen einer Infektion. Belle hatte sich zwar nicht des Vergehens schuldig gemacht, die Abtreibung zu unterstützen und gutzuheißen, doch wenn das Mädchen starb, würde ihre Familie irgendjemandem die Schuld geben, und Belle wäre der ideale Sündenbock.
Alles war ruhig, und die Hintertür stand einen Spalt offen, um frische Luft hereinzulassen. Mog stieß sie ein Stück weiter auf und spähte hinein. Belle lag in ihrem Hemd auf dem Fußboden und schlief tief und fest. Ihr Haar war zerzaust, und sie hatte einen Arm unter den Kopf geschoben. Die blonde junge Frau in dem behelfsmäßigen Bett schlief ebenfalls. Sie trug ein altes, spitzenbesetztes Baumwollnachthemd, das Mog für Belle genäht hatte. Ihre Gesichtsfarbe war gut, weder zu blass noch fiebrig oder gerötet.
Mog fiel ein Stein vom Herzen. Nirgendwo war Blut oder irgendetwas anderes zu sehen, das darauf hingewiesen hätte, dass in diesem Raum etwas Ungewöhnliches passiert war. Draußen auf dem Hof stand ein zugedeckter Eimer, und sie konnte sich vorstellen, dass sich sämtliche Beweise darin befanden.
Trotz ihrer Erleichterung, dass alles gut gegangen war, spähte Mog erneut zu dem blonden Mädchen, das ihr irgendwie bekannt vorkam, und stellte bestürzt fest, dass es die Tochter von Mrs. Forbes-Alton war. Bis vor Kurzem hatte alles, was sie über diese Frau wusste, auf reinem Klatsch beruht: dass sie eingebildet war und gern ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute steckte. Inzwischen hatte Mog sie bei einem Treffen kennengelernt, bei dem eine Gruppe von Frauen nützliche Dinge für die Soldaten an der Front stricken wollte. Mrs. Forbes-Alton war mit ihren zwei Töchtern dort gewesen, und Mog erinnerte sich deshalb so gut an die beiden, weil sie sich sichtlich unwohl gefühlt hatten, als ihre Mutter sich aufführte, als würde sie das ganze Unternehmen leiten.
Mrs. Fitzpatrick, die Frau eines berühmten Konzertpianisten, in deren Adern blaues Blut floss, hatte schüchtern den Vorschlag gemacht, dass vielleicht Mrs. Jenkins, die Besitzerin der Kurzwarenhandlung, die Frauen dabei beraten könnte, was sie am besten stricken sollten, und als Expertin auf diesem Gebiet Anfängerinnen helfen könnte.
Mrs. Jenkins erklärte sich gern dazu bereit und fügte hinzu, dass sie auf Strickgarn, das bei ihr gekauft wurde, einen Preisnachlass gewähren würde.
»Oh nein!«, hatte Mrs. Forbes-Alton mit ihrer affektierten Stimme protestiert. »Wir wollen doch nicht, dass jemand Profit aus unserem Unternehmen schlägt! Wir sollten die Wolle im Großhandel kaufen.«
Mog und etliche andere Frauen hatten innerlich geschäumt. Mrs. Jenkins hatte ihren Mann im Burenkrieg verloren, und ihre beiden Söhne waren vor wenigen Wochen in die Armee eingetreten. Sie war eine sehr großzügige Frau, die für jedes Neugeborene im Ort etwas strickte, und hatte zahllosen jungen Frauen beim Nähen ihrer Hochzeitskleider geholfen. Jeder wusste, dass sie jetzt, nachdem ihre Söhne im Krieg waren, große Mühe hatte, über die Runden zu kommen. Und wie eine Frau bemerkte, würde sie wahrscheinlich mehr Sachen stricken als irgendjemand sonst.
An jenem Nachmittag waren die beiden Forbes-Alton-Mädchen makellos gekleidet gewesen und hatten wie die Verkörperung schüchterner Fügsamkeit gewirkt. Deshalb fiel es Mog noch schwerer, sich vorzustellen, dass die ältere und unscheinbarere der beiden eine heimliche Affäre gehabt hatte.
Nach dem Treffen hatte allgemeine Empörung über Mrs. Forbes-Alton geherrscht, und es hieß, dass sie sich immer so benahm, die Bemühungen anderer herabsetzte, selbst jedoch kaum einen Finger rührte. Man erzählte sich, dass sie boshaft und überheblich war und ihre Dienerschaft sehr schlecht behandelte. Daher schien es geradezu eine Ironie des Schicksals zu sein, dass Belle Miranda gerettet und sie vor diesem Drachen von Frau bewahrt hatte, die Schande und Demütigung redlich verdient hätte.
Da Mog wusste, wie Mirandas Mutter war, hatte sie umso mehr Mitleid mit der Tochter. Wahrscheinlich war sie von Dienstboten aufgezogen worden und hatte von ihrer Mutter kaum Liebe oder Zuwendung erhalten. Kein Wunder, dass sie dem erstbesten Mann in die Arme gefallen war, der behauptet hatte, sie zu lieben! Aber für das bisschen flüchtige Glück hatte sie einen hohen Preis bezahlt.
Nach ein paar Tagen Ruhe und Schonung würde sie sich hoffentlich wieder erholen, doch Mog wusste, dass die seelische Wunde, die der Verlust eines Kindes, ob gewollt oder ungewollt, nach sich zog, wesentlich länger brauchte, bis sie verheilte.
Belle rührte sich und schlug die Augen auf, als die Hintertür knarrte. Sie erblickte Mog und lächelte, legte einen Finger auf die Lippen und nickte in Mirandas Richtung, ehe sie aufstand und in den Hof kam.
Leise schloss sie die Tür hinter sich, nahm Mogs Arm und führte sie zu ein paar Holzkisten, wo sie sich in die Sonne setzten. »Ich glaube, sie kommt wieder ganz in Ordnung«, sagte Belle mit gesenkter Stimme. »Sie war sehr tapfer, hat nicht geschrien oder sich sonst irgendwie aufgeführt und ist gleich, nachdem es vorbei war, eingeschlafen. Aber ich könnte so etwas nicht noch einmal mitmachen.«
Mog legte einen Arm um sie und hielt sie fest. Sie fand es entsetzlich, dass Belle gezwungen gewesen war, etwas so Belastendes mitzuerleben.
»Gar nicht auszudenken, wie es für Miranda gewesen wäre, wenn sie nach Hause gegangen wäre!«, bemerkte sie nachdenklich. »Ich kenne ihre Mutter, und sie ist ein richtiger Drachen.« Sie erzählte Belle, was sie über Mrs. Forbes-Alton wusste. »Und was machst du jetzt mit Miranda?«
»Sie so lange wie möglich schlafen lassen«, antwortete Belle und warf einen Blick zur Tür. »Den Laden kann ich natürlich nicht aufsperren, nicht, wenn ich angeblich bei Lisette bin. Nachher bringe ich Miranda nach Hause. Zum Glück hat die Freundin, bei der sie angeblich übernachtet, kein Telefon. Deshalb kann ihre Mutter nicht dahinterkommen, dass sie gar nicht dort war. Miranda kann behaupten, eine besonders starke Monatsblutung zu haben, und sich wieder ins Bett legen.«
»Du musst das da noch loswerden.« Mog zeigte auf den Eimer.
»Ich gieße nachher etwas Terpentin darauf und zünde es an«, sagte Belle. »Jetzt geht es noch nicht; es wäre verdächtig, so früh am Morgen ein Feuer zu entfachen.«
»Hut ab, du hast wirklich an alles gedacht«, stellte Mog bewundernd fest. Es erstaunte sie immer wieder, dass Belle trotz all der Demütigungen und Gräuel, die sie erlitten hatte, sich ihre Menschlichkeit und Warmherzigkeit und ihren Sinn für Humor bewahrt hatte.
Sie hatte Belle von dem Moment an, als sie sie als Neugeborenes in den Armen gehalten hatte, wie ihr eigen Fleisch und Blut geliebt, und sie hätte sie unerschütterlich weitergeliebt, auch wenn sie ihren Verstand und ihre Schönheit verloren hätte. Aber zu erleben, wie sie nach England zurückkam und aus eigener Kraft den Hutsalon, von dem sie immer geträumt hatte, eröffnete und zu einem durchschlagenden Erfolg machte, erfüllte Mog mit unbändigem Stolz.
Belle lächelte schwach. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir etwas einfallen lassen muss. Ich weiß nicht, ob ich Jimmy einweihen soll. Wie hat er denn gestern Abend reagiert?«
»Gut, doch er ist ja immer sehr umgänglich. Nicht wie manche Männer, die gleich explodieren, wenn ihre Frauen mal ausgehen. Da hast du einen guten Kerl erwischt.«
»Ich weiß«, murmelte Belle bedrückt. »Deshalb finde ich es ja so schrecklich, ihn zu belügen.«
»Dann sag einfach nicht viel, sondern erzähl ihm von eurem Baby. Bestimmt ist er so begeistert, dass er gar nicht daran denkt, sich nach Lisette zu erkundigen.«
Belle machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ob Miranda sich wohl noch einmal hier blicken lässt?«
»Möchtest du das denn?«, fragte Mog.
Belle nickte. »Ja. Zuerst fand ich sie ziemlich hochnäsig, doch dann stellte ich fest, dass wir viel gemeinsam haben, und ich fühlte mich ihr sehr nahe. Ich musste immer wieder daran denken, dass ich nur dank der Gnade Gottes nie in ihre Situation gekommen bin. Aber ich habe ihr nicht erzählt, dass ich ein Kind erwarte, es wäre mir nicht richtig vorgekommen.«
Mog seufzte. »Nein, doch mach dir deswegen keine Gedanken! Du warst für sie da, als sie dringend Hilfe brauchte. Na ja, wenn du keine Verwendung mehr für mich hast, mache ich mich lieber auf den Heimweg. Soll ich irgendwas zum Waschen mitnehmen? Jimmy muss nicht unbedingt sehen, dass du so etwas mitbringst.«
»Ein Laken und ein Handtuch«, sagte Belle und stand auf, um die Sachen zu holen. »Ich komme gegen eins nach Hause.«
Als Mog kurz darauf das Tor öffnete, drehte sie sich noch einmal zu Belle um. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie. »In den Augen des Gesetzes hast du vielleicht ein Unrecht begangen, doch meiner Meinung nach bist du tapfer und gütig gewesen. Ich hoffe, Miranda ist klar, wie viel Glück sie gehabt hat.«
Kurz nach eins sperrte Belle den Laden zu, nahm Mirandas Arm und ging mit ihr in Richtung Paragon. Viele Leute strömten zum Jahrmarkt, und Kinder rannten aufgeregt hin und her, weil sie den Lärm und die Musik schon von Weitem hören konnten. Miranda sah blass und abgespannt aus, war aber ganz guter Dinge und hatte keine Schmerzen. Belle war am Vormittag aus dem Laden geschlüpft, um Damenbinden zu kaufen, und beide Frauen waren erleichtert, weil Miranda nicht sehr viel Blut verlor.
»Jahrmärkte scheinen richtig Spaß zu machen«, bemerkte das Mädchen und starrte über die Heide zum Rummelplatz. »Doch Mama hält nichts davon. Amy und ich durften nie auf einen Jahrmarkt gehen. Einmal, vor ein paar Jahren, wollten wir uns nach dem Dinner aus dem Haus stehlen und hingehen, aber sie erwischte uns in dem Moment, als wir gerade bei der Haustür waren. Danach war die Hölle los. Wir hatten eine Woche Stubenarrest, und Mama sagte, dass nur Fabrikarbeiterinnen und Dirnen sich dort amüsieren.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Belle entrüstet. »Mein Mann war letztes Jahr mit mir dort, und wir haben viele Leute von Stand gesehen. Es ist ein harmloses Vergnügen für jedermann.«
»Mama ist sehr strikt in ihren Ansichten.« Miranda seufzte. »Um ehrlich zu sein, ich würde praktisch jeden heiraten, um von ihr wegzukommen.«
»Sie müssen doch nicht den Erstbesten heiraten, um von zu Hause wegzukommen!«, rief Belle entsetzt. »Sie könnten ohne Weiteres eine Anstellung in einem Büro bekommen und sich irgendwo ein Zimmer mieten. Ich kenne Mädchen mit Ihrem Hintergrund, die normalerweise nicht arbeiten würden, doch da wir jetzt im Krieg sind, gibt es viel mehr Möglichkeiten für Frauen. Und Sie können darauf wetten, dass Mädchen mit Bildung und guter Erziehung bessere Chancen haben!«
Miranda drückte ihren Arm. »Sie sind so inspirierend«, sagte sie. »Sowie ich das hier überstanden habe, sehe ich mich nach einer Stellung um. Mama kann mich schlimmstenfalls verstoßen, und so, wie mir im Moment zumute ist, wäre das geradezu himmlisch.«
Belle dachte bei sich, dass Miranda es nicht mehr so toll finden würde, wenn sie feststellte, wie lange die Arbeitszeiten und wie niedrig die Löhne für Frauen waren. Doch sie war froh, ihr Stoff zum Nachdenken gegeben zu haben.
»Bevor Sie sich von Ihrem Unabhängigkeitsstreben mitreißen lassen, überlegen Sie sich lieber eine Geschichte für Ihre Mutter«, erwiderte sie vergnügt. »Sie können die Schramme auf Ihrer Stirn als Ausrede benutzen, warum Sie ein bisschen wackelig auf den Beinen sind, und behaupten, dass Sie heute Morgen in Belgravia hingefallen sind und außerdem sehr starke Blutungen haben. Und für den Fall, dass uns jemand zusammen sieht, könnten Sie vielleicht erzählen, wir wären uns im Zug begegnet und ich hätte Sie nach Hause begleitet, weil Ihnen schwindlig war.«
Miranda nickte zustimmend. »Sie denken wirklich an alles. Aber was ist, wenn irgendjemand gestern den Unfall gesehen hat?«
Auch daran hatte Belle gedacht. »Also, mir war keiner von den Leuten, die in der Nähe waren, bekannt, und wenn jemand Sie gekannt hätte, wäre er oder sie Ihnen bestimmt zu Hilfe geeilt. Sollte Ihrer Mutter trotzdem etwas davon zu Ohren kommen, leugnen Sie einfach. Falls sie zu mir kommt, werde ich Ihre Geschichte bestätigen und sagen, dass die Person, die den Unfall hatte, eine Fremde war.«
»Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, bemerkte Miranda leise. Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, war sie sehr verlegen gewesen. Noch nie war jemand so nett zu ihr gewesen wie Belle. »Darf ich mit Ihnen in Verbindung bleiben?«
»Ich wäre traurig, wenn Sie es nicht täten«, erwiderte Belle. »Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen.«
Auf einmal fiel ihr ein, dass Mrs. Forbes-Alton die Freundschaft ihrer Tochter mit einer Ladenbesitzerin kaum dulden würde, zumal Belles Ehemann Schankwirt war. Und in ein paar Tagen würde Miranda vielleicht befürchten, dass Belle über die Angelegenheit redete.
»Natürlich entstamme ich nicht Ihren Kreisen«, fügte Belle betont beiläufig hinzu. »Doch Sie können jederzeit auf einen Schwatz zu mir ins Geschäft kommen. Und denken Sie bitte keine Sekunde, ich könnte Ihr Geheimnis verraten. Ich verspreche Ihnen, es anderen gegenüber nie mit einem Wort zu erwähnen. Meine Tante Mog weiß Bescheid, aber sie ist genau wie ich verschwiegen und loyal.«
»Ich weiß«, sagte Miranda. »Ich habe es gleich gespürt, als Sie mir Ihre Hilfe anboten. Jetzt verstehe ich, warum die Freundinnen meiner Mutter über Sie reden. Obwohl Sie so jung sind, sind Sie eine starke und faszinierende Frau.«
Belle lachte. »Was reden sie denn über mich?«
»Nun ja, Ihre Schönheit kommt häufig zur Sprache und natürlich auch Ihre wundervollen, eleganten Hüte. Wie ich gestern schon sagte, heißt es, dass Sie Französin sind, und das bedeutet für die meisten, dass Sie ein bisschen gewagt sind.«
Belle amüsierte sich. »Finden Sie das auch?«
Miranda warf Belle einen Seitenblick zu und errötete. »Na ja, etwas an Ihnen … Sie sind sehr selbstbewusst und gewandt und verstehen viel von Menschen. Ich hoffe, Sie erzählen mir eines Tages alles über sich. Wie Sie nach Paris gekommen sind, wo Sie Ihren Mann kennengelernt haben und ob Sie vor ihm schon einen anderen geliebt haben.«
»Das mache ich bestimmt«, antwortete Belle, obwohl sie den Verdacht hatte, dass Miranda in Ohnmacht fallen würde, wenn sie die ganze Geschichte zu hören bekam. »Vielleicht trägt dieser Krieg dazu bei, gesellschaftliche Schranken umzustoßen. Wahrscheinlich müssen Frauen aller Schichten mit anpacken, um ihren Teil beizutragen. Ich hoffe es; ich habe nicht viel für all die Einschränkungen übrig, denen wir Frauen zurzeit unterworfen sind.«
»Es tut so gut, das von Ihnen zu hören! Mama predigt ständig: ›Zieh Handschuhe an, du musst einen Hut tragen, drück die Schultern zurück, eine Dame tut dies oder jenes nicht …‹ Das war eines der Dinge, die ich so am Zusammensein mit Frank geliebt habe, auch wenn er ein Schuft war. Ich habe mich frei gefühlt, weil er auf sämtliche Regeln gepfiffen hat.«
»Nun, einige dieser Regeln sind aufgestellt worden, um uns zu schützen«, erinnerte Belle sie. »Aber ein Mann muss kein Schuft oder Gauner sein, um aufregend und leidenschaftlich zu sein. Und da Sie jetzt das Schlimmste über die Männer wissen, können Sie in Zukunft das Beste an ihnen entdecken.«
Belle verabschiedete sich vor der Tür von Miranda und machte sich auf den Heimweg. Obwohl sie sich Sorgen um Mirandas Genesung machte und hoffte, dass ihre Mutter keinen Verdacht schöpfte, bedrückte sie vor allem der Gedanke, nach Hause zu gehen und Jimmy gegenüberzutreten.
Sie hatte ihn noch nie belogen. Sie erzählte ihm nicht immer alles, doch das Gleiche mochte für ihn gelten. Aber sie konnte ihm unmöglich sagen, wobei sie Miranda in der vergangenen Nacht geholfen hatte. Er wäre entsetzt.
Jimmy stand mit Garth hinter der Theke, als sie durch die Seitentür hereinkam. Wegen des Jahrmarkts war die Bar überfüllt und sehr laut. Belle ging in die Küche, wo Mog damit beschäftigt war, Brote zu belegen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mog mit gesenkter Stimme, obwohl die Tür zum Schankraum geschlossen war.
»Miranda geht es gut«, versicherte Belle ihr. »Sie hat weder Fieber noch Schmerzen und war auf dem Heimweg ganz munter. Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist!«
»Meine Gebete sind erhört worden.« Mog verdrehte die Augen himmelwärts. »Aber nun zu irdischeren Dingen. Ich bringe diese Brote gleich in die Bar und werde bei der Gelegenheit Jimmy erzählen, dass du wieder da bist. Warum läufst du nicht nach oben und ziehst dich um?«
Belle hatte sich gewaschen und zog gerade ein frisches Hemd an, als Jimmy ins Schlafzimmer kam. Er lehnte sich an den Türpfosten und beobachtete sie mit einem frechen Grinsen.
»Was für ein erfreulicher Anblick – meine praktisch unbekleidete Frau! Schade, dass heute im Lokal so viel los ist, sonst würde ich dich aufs Bett werfen und lauter schlimme Sachen mit dir anstellen.«
Belle lachte und lief zu ihm, um ihn zu umarmen. In seinem weißen Hemd und der smaragdgrünen Weste, die seine grünbraunen Augen betonte, sah er sehr gut aus. »Ich habe dich letzte Nacht vermisst. Ich habe dir nämlich etwas zu sagen.«
»Hoffentlich nicht, dass du daran gedacht hast, mit einem anderen Mann wegzulaufen, bevor du es dir im letzten Moment anders überlegt hast«, entgegnete er und rieb seine Nase an ihrer.
»Nein, weil ich bald gar nicht mehr in der Lage sein werde zu laufen.« Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn.
Es war Jimmy, der sich zuerst löste. »Warum nicht?«, fragte er verwirrt. Dann fiel sein Blick auf ihren Bauch, und er legte eine Hand darauf. »Bist du …?«
»Ja«, lachte sie. »Ja, ich bekomme ein Baby!«
Einen Moment lang starrte er sie benommen an, dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ein Baby? Bist du sicher? Wann?«
»Na ja, genau konnte es der Arzt nicht sagen, aber ich denke, ich bin über den dritten Monat, es dürfte also Ende Februar so weit sein.«
Jimmy drückte sie fest an sich. »Das ist die beste Neuigkeit, die ich je bekommen habe … Na ja, als du mir zum ersten Mal gesagt hast, dass du mich liebst, war ich vielleicht genauso überwältigt«, flüsterte er in ihr Haar. »Oh, Belle, kann irgendjemand auf der Welt so glücklich sein wie ich?«
Sie lehnte sich zurück, um ihn anzusehen, und sah, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen. »Ja, ich. Ich bin der glücklichste Mensch von allen, weil ich dich und das Baby habe.«
»Wir müssen es Mog und Garth erzählen«, verkündete er. Seine tränenfeuchten Augen strahlten vor Freude. »Mog ist bestimmt überglücklich, aber bei Garth bin ich mir nicht so sicher. Ich glaube, er wird ein bisschen Zeit brauchen, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen.«
»Wir sagen es ihnen, wenn ihr die Bar für den Nachmittag schließt«, schlug Belle vor. Mog würde sich sicher nicht anmerken lassen, dass sie bereits im Bilde war.
»Und ich soll jetzt in die Bar zurückgehen und mich so benehmen, als wäre nichts Besonderes passiert?«, fragte Jimmy. »Am liebsten würde ich es allen sagen, doch das ist wohl nicht angebracht, oder?«
»Nein.« Belle musste über seine kindliche Begeisterung schmunzeln. Eine Schwangerschaft wurde im Allgemeinen von Männern außerhalb der eigenen Familie nicht erwähnt oder kommentiert, nicht einmal, wenn sie nicht mehr zu übersehen war. Die meisten würden bestenfalls sagen: »Meine Frau ist in anderen Umständen«, und auch das nur, wenn es dafür gewichtige Gründe gab. Trotzdem waren sogar grobe Männer höflicher und zuvorkommender zu schwangeren Frauen, war Belle aufgefallen. »Wenn du das machst, bringst du unsere Gäste nur in Verlegenheit.«
»Aber sie hätten wohl nichts dagegen, ein Gläschen auf das Wohl des Babys zu trinken«, erwiderte Jimmy grinsend. »Das habe ich schon oft genug erlebt: Alle klopfen dem werdenden Vater auf die Schulter, als hätte er eine geniale Leistung vollbracht. Und der prahlt zuerst mit seinem Stammhalter, um ihn dann zu ignorieren, bis er sich in irgendeiner Weise nützlich machen kann.«
»So ein Vater wirst du nie sein, das weiß ich.« Belle tätschelte liebevoll seine Wange. »Ich verlasse mich darauf, dass du alles mit mir teilst, sogar das Windelnwechseln. Also geh jetzt nach unten und grinse, aber sag nichts!«
»Ich liebe dich, Mrs. Reilly«, raunte er ihr zu, dann drehte er sich um und ging in die Bar zurück.
»Ich liebe dich auch, Mr. Reilly«, rief sie ihm nach.
Als Belle sich fertig anzog, dachte sie über Jimmys Bemerkung nach, dass viele Männer erst mit ihrem neugeborenen Sohn angaben und ihn dann nicht mehr beachteten, bis er alt genug war, um von Nutzen zu sein. Jimmy hatte sich oft abfällig über die Männer geäußert, die jeden Abend in die Kneipe kamen, ohne einen Gedanken an ihre Frauen und Kinder zu verschwenden.
Hier und in Seven Dials hatten sie beide gesehen, wie an Freitagabenden Frauen mit Babys in den Armen vor der Wirtshaustür standen, um ihre Männer abzufangen und ihren Lohn an sich zu nehmen, bevor sie das ganze Geld ausgeben konnten. Viele Männer fanden nichts dabei, ihre Frauen zu verprügeln und sie wie Dreck zu behandeln.
Sein Vater hatte seine Mutter verlassen, als Jimmy noch ein Baby gewesen war, und Jimmy wusste, wie schwer es für eine Frau war, ein Kind allein großzuziehen. Vielleicht war er deshalb so feinfühlig, was die Bedürfnisse von Frauen anging. Er hatte sich immer rührend um Belle gekümmert, Verständnis gehabt, wenn sie müde war, und ihr in jeder nur erdenklichen Weise geholfen. Nun, da sie ein Baby bekam, wusste sie, dass sie sich noch mehr darauf verlassen konnte, in jeder Beziehung Unterstützung und Beistand bei ihm zu finden, und keine Angst vor der Geburt haben musste. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen, sich von den Erinnerungen an Mirandas Elend zu befreien. Aber vor allem wusste sie, dass es ihrem Kind nie an Liebe und Zuwendung mangeln würde. Sie würden eine glückliche Familie sein. Jimmy würde mit dem Kind Kricket spielen und auf dem Teich Boote fahren lassen, Gutenachtgeschichten erzählen, aufgeschürfte Knie verarzten und schlimme Träume verscheuchen. Er würde genau der Vater sein, den Jimmy und sie beide selbst gern gehabt hätten. Wie glücklich sie sich doch schätzen konnte!
Als die Kneipe für den Nachmittag zusperrte, setzten sich Jimmy und Garth auf eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen zu Mog und Belle in die Küche.
Sie hatten kaum am Tisch Platz genommen, als Jimmy auch schon mit der Neuigkeit herausplatzte. »Wir bekommen ein Baby!«, sagte er ohne Einleitung. »Belle hat es mir erst vor ein paar Stunden erzählt.«
Garths Reaktion war ganz anders, als sie erwartet hatten. Er sprang auf, johlte vor Begeisterung und tanzte um den Tisch herum. Für einen so großen Mann war er recht leichtfüßig, aber er wirkte trotzdem ein bisschen lächerlich.
»Das ist die beste Nachricht aller Zeiten!«, rief er und versetzte Jimmy einen Schlag auf die Schulter, der einen kleineren Mann umgeworfen hätte. »Nicht, dass ich mich mit Babys besonders gut auskenne. Dich habe ich natürlich manchmal im Arm gehalten, doch das ist lange her. Hoffentlich wird es ein Mädchen, wir wollen schließlich nicht noch einen rothaarigen Burschen in der Familie!«
Mog gab sich genauso überrascht wie Garth. Sie stand auf, umarmte Belle und Jimmy und meinte, das sei eine wundervolle Neuigkeit. Dann schenkte sie allen Tee ein und ließ sich aufgeregt darüber aus, dass sie eine komplette Ausstattung für das Baby anfertigen würde und dass sie eine Wiege bräuchten.
»Wann willst du deinen Laden schließen?«, fragte Garth Belle. »Du solltest nicht den ganzen Tag auf den Beinen sein.«
»So weit habe ich noch gar nicht gedacht«, gestand sie.
Garth verschränkte die Arme und setzte eine entschlossene Miene auf. »Also, ich finde, du solltest in den nächsten Wochen dichtmachen«, verkündete er und sah Jimmy um Unterstützung heischend an. »Findest du nicht auch, Junge?«
Jimmy lächelte Belle an und nahm ihre Hand. »Ich bin sicher, Belle macht genau das, was für unser Baby am besten ist.«
Für jeden anderen hätte das so geklungen, als wäre es ihre freie Entscheidung, doch Belle spürte, dass Jimmy der Meinung war, sie sollte bis zur Geburt des Kindes zu Hause bleiben und nähen und stricken. Anscheinend hatten einige Wertvorstellungen seines Onkels auf ihn abgefärbt.
Garth hielt nichts von der Gleichberechtigung der Frau. Mog zog ihn oft und gern wegen seiner Ansichten auf, ob es nun darum ging, dass Frauen das Wahlrecht bekamen, in Kneipen gehen oder einen Beruf ausüben durften, der traditionell Männern vorbehalten war. Aber sosehr sie auch stichelte, in Wirklichkeit entsprach sie Garths Idealbild einer Frau, weil sie wusch, kochte und sauber machte und alle Entscheidungen ihm überließ.
Bis jetzt war der Gedanke, ein Baby zu haben, ein rosaroter Tagtraum gewesen. Belle hatte sich vorgestellt, dass ihr Leben wie gehabt weitergehen würde, nur dass es zusätzlich ein dralles Baby gab, das in seiner Wiege lag und krähte und von allen angehimmelt wurde. Sie hatte bisher nicht erkannt, dass ein Kind sie in ihrer Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte, stark einschränken würde.
»Du siehst sehr müde aus, Belle«, bemerkte Mog, die vielleicht spürte, was ihr durch den Kopf ging. »Möchtest du dich nicht ein bisschen hinlegen?«
»Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee«, erwiderte Belle. »Aber du musst dich auch ausruhen. Ich wette, du bist seit Tagesanbruch auf den Beinen.«
Belle war noch wach, als Jimmy ins Schlafzimmer kam, doch sie ließ die Augen geschlossen und gab vor zu schlafen. Wahrscheinlich drängte es ihn, über das Baby zu sprechen, doch das wollte sie nicht, nicht jetzt. Er zog seine Schuhe aus und legte sich neben sie, und nach einer Weile verrieten ihr seine tiefen Atemzüge, dass er eingeschlafen war.
Es war sehr warm, und Belle lag auf dem Rücken und betrachtete die Staubpartikel, die in den Lichtstreifen tanzten, die durch die weißen Spitzengardinen fielen. Belle hatte alles für ihr Schlafzimmer selbst ausgesucht, von den Tapeten mit dem Rosenmuster bis zu dem Messingbett mit dem breiten weißen Kopfstück und der Rosenholzkommode mit den winzigen Schubladen, in denen sie all ihren Schmuck aufbewahrte. Garth hatte Jimmy einmal im Spaß gefragt, wie er es in einem so weiblichen Raum mit all den Rüschen und Spitzen aushielt.
»Mir gefällt das Zimmer, weil es Belle gefällt«, hatte Jimmy geantwortet.
Das sagte eigentlich alles über ihn. Er war bei Weitem kein Schwächling; er konnte sehr ruppig mit Kunden werden, die sich danebenbenahmen, und hatte nichts für arbeitsscheues Gesindel oder Leute übrig, die ständig über ihr Geschick jammerten. Aber er war ein unkomplizierter Mensch, der die Dinge nahm, wie sie kamen. Was andere über ihn dachten, interessierte ihn nicht. Belle kannte niemanden, der ihn nicht gern hatte, denn er war freundlich, großzügig, hatte Interesse an anderen und viel Sinn für Humor. Doch vor allem war er aufrichtig. Wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde, sprach er sie aus; wenn er ein Versprechen gab, hielt er es.
Neben dem Bett hing in einem Silberrahmen eine Fotografie von ihnen beiden an ihrem Hochzeitstag. Mog hatte Belles wunderschönes hochgeschlossenes, langärmeliges Hochzeitskleid aus elfenbeinfarbenem Satin mit dem engen Mieder und der kleinen Schleppe genäht. Jimmy hatte nie besser ausgesehen als an jenem Tag in seinem blassgrau gestreiften Anzug. Auf allen anderen Fotos hatten sie sehr ernst und steif ausgesehen. Aber dies hier war gemacht worden, als sie einander ansahen und lachten, und es zeigte ihr wahres Wesen. Das Bild war für Belle eine ständige Erinnerung daran, wie glücklich sie sich preisen konnte, einen Menschen zu haben, der sie trotz ihrer Vergangenheit bedingungslos liebte.
Hier in diesem hübschen Zimmer zählte nichts außer den ehelichen Freuden im Ehebett. Jimmy mochte in ihrer Hochzeitsnacht noch Jungfrau gewesen sein, doch in seinen Armen hatte Belle noch berauschendere Wonnen erlebt als mit Serge in New Orleans. Serge war dafür bezahlt worden, sie in die Kunst der körperlichen Liebe einzuweihen, aber Jimmy hatte ihr bewiesen, dass wahre Liebe und tief empfundene Leidenschaft viel mehr bedeuteten.
Es wird Zeit, ihm zu zeigen, dass du eine richtige Ehefrau sein kannst. Hüte anzufertigen und zu verkaufen ist längst nicht so wichtig wie das, dachte sie.
Sie drehte sich zu ihm um, legte die Arme um ihn und hielt ihn fest. Das Baby bedeutete in vielerlei Hinsicht einen weiteren Neuanfang, aber diesmal musste sie daran denken, Jimmys Gefühle und Ansichten mit einzubeziehen.