KAPITEL 11

1916

Etienne lehnte sich an einen Baumstamm, zündete sich eine Zigarette an, schloss die Augen und ließ sich die warme Maisonne ins Gesicht scheinen. Es tat unglaublich gut, ein paar Tage von der Front in Verdun wegzukommen, schlafen und essen zu können und nicht nur seine zerrissene Uniform, sondern auch seine angegriffenen Nerven ein bisschen in Ordnung zu bringen. Der Gestank der Leichen, die im Niemandsland lagen, war jetzt, da es wärmer wurde, nahezu unerträglich, die Männer litten an Durchfall, der Nachschub an Trinkwasser verzögerte sich, und manchmal hatten sie während der unablässigen Offensiven nicht einmal Zeit, ihre Essensrationen zu verzehren.

Im Moment hätte er sich gern vorgestellt, er wäre daheim auf seinem kleinen Hof in der Nähe von Marseille, aber das ständige Artilleriefeuer im Hintergrund machte es unmöglich.

Als er zum ersten Mal in seinem Leben nach Verdun gekommen war, war er zwanzig gewesen, die mittelalterliche Stadt mit ihren engen, gewundenen Gassen ein kleines Juwel, das ihn verzaubert hatte. Er stand lange auf dem alten Stadtwall und betrachtete die glitzernde Maas, die sich weit unter ihm durch saftige grüne Wiesen und Wälder schlängelte. Als er auf den umliegenden Hügeln den Ring von Festungsanlagen entdeckte, zwanzig kleine und vier große, fiel ihm wieder ein, was er als Schuljunge im Geschichtsunterricht gelernt hatte. Die Stadt war 1870/71 im Krieg gegen Preußen als letzte gefallen und hatte zehn lange Wochen standgehalten, bevor sie kapitulierte.

Wegen ihrer Geschichte und der Tapferkeit ihrer Bewohner, die so hart dafür gekämpft hatten, sie in französischer Hand zu behalten, nahm die Stadt im Herzen eines jeden Franzosen einen besonderen Platz ein. Genau aus diesem Grund wollten die Deutschen sie natürlich einnehmen. Sie wussten, dass die französischen Generäle jeden Mann, den sie entbehren konnten, zur Verteidigung Verduns einsetzen würden, und dann konnten sie mit ihrer überwältigenden Armee und ihrem Waffenarsenal Frankreich ausbluten und dem Land somit Großbritanniens »Bestes Schwert« aus der Hand schlagen.

Die grünen Wiesen, an die er sich erinnerte, waren jetzt eine öde Wüstenei, der Boden mit Bombentrichtern durchsetzt, die Bäume entwurzelt oder gefällt. Kein Vogelgesang war mehr zu hören. Ob der Grund dafür der Mangel an Bäumen, das Donnern der Kanonen oder die vom Blut gefallener Soldaten durchtränkte Erde war, wusste er nicht. Aber wenn er ein Vogel gewesen wäre, hätte er auch nicht an einem so elenden Ort bleiben mögen.

In der Nähe hielten sich andere französische Soldaten auf, die genau wie er ein paar Tage Erholung von der Front genossen. Hinter ihm besorgten sich in der Ortschaft, die einmal ein kleines Dorf gewesen war, weitere Männer in einem Estaminet, einem schlichten Café mit derben Holztischen und -bänken, etwas zu essen und zu trinken.

Irgendwo in der Nähe wurde johlendes Gelächter laut, dazu das Plätschern von Wasser. Ob es ein Teich, ein Bach oder lediglich ein Bombentrichter voll Regenwasser war, wusste Etienne nicht, doch er dachte daran, es den anderen nachzumachen. Die Gelegenheit, aus seinen verdreckten Sachen zu kommen und sich gründlich zu waschen, sollte er sich nicht entgehen lassen.

Als Etienne im Oktober 1914 als frischgebackener Rekrut hierhergekommen war, hatte man Verdun für uneinnehmbar gehalten, weil es auf beiden Ufern der Maas von Hügeln umgeben und von einem Ring von Festungsanlagen geschützt war, deren größte und stärkste Fort Douaumont war. Und das schien sich bis Neujahr 1916 zu bewahrheiten, da sie trotz des schweren Bombardements des Feindes die Stellung hielten. Fort Douaumont hätte standhalten können und sollen, aber General Joffre traf die kluge Entscheidung, die meisten Geschütze entfernen und an andere Frontabschnitte transportieren zu lassen.

Etienne erschauerte immer noch, wenn er an den einundzwanzigsten Februar dachte, als die Deutschen bei Tagesanbruch erneut angriffen, diesmal mit unvorstellbarer Härte. Es sprach sich herum, dass sie schon seit längerer Zeit heimlich Männer und schwere Geschütze hatten kommen lassen. Ihre Aufklärer hatten sämtliche englischen oder französischen Flugzeuge abgefangen, deren Piloten über diese ungewöhnlichen Aktivitäten hätten berichten können.

Überall an den dreizehn Kilometern Frontlinie regnete es Sperrfeuer auf die Franzosen, wurden Bäume aus der Erde gerissen und sie in die Luft katapultiert und Tausende Soldaten verwundet oder getötet. Die deutschen Kanonen zerstörten die französischen Kommunikationslinien und blockierten erfolgreich den Nachschub.

Etienne war einer von Oberstleutnant Driants Jägern, und unter seinem Kommando leisteten sie erbitterten Widerstand, aber vergeblich. Der wackere Driant kam an einem Nachmittag bei dem Versuch ums Leben, sich mit den Überlebenden seines Bataillons nach Beaumont zurückzuziehen. Ein großer Abschnitt der Frontlinie war durchbrochen worden, und die Verluste auf französischer Seite waren unvorstellbar, doch Etienne hatte das Gefühl, dass es ihnen wenigstens gelungen war, dem Feind eine blutige Nase zu verpassen, weil auch die Deutschen hohe Verluste zu verzeichnen hatten, insbesondere unter ihren von ihnen so sehr geschätzten Sturmtruppen.

Am vierundzwanzigsten Februar fiel Samongneux in die Hände der Deutschen. Die Einundfünfzigste und die Zweiundsiebzigste Division verloren zwei Drittel ihrer Männer und wurden praktisch aufgerieben. Beaumont fiel als Nächstes, und die marokkanischen Infanteristen und die algerischen Zuaven, die erst vor Kurzem eingetroffen waren, waren nichts als Kanonenfutter in einer Schlacht ohne Vorbereitungen gegen die bittere Kälte oder das unablässige Bombardement der Deutschen, und bald fiel auch Fort Douaumont.

Jedem war klar, welchen Schock der Fall von Fort Douaumont in ganz Frankreich auslösen würde, nicht nur weil es ein Symbol für den Nationalstolz war, sondern weil damit für die Deutschen der Weg nach Verdun frei war.

Aber die Stadt aufgeben, die Frankreich so viel bedeutete, war undenkbar, und es war General Pétain, der es verhinderte. Vielleicht hätte sich dieser eigensinnige Mann für einen geordneten Rückzug entschieden, wenn es ihm möglich gewesen wäre, doch da er wusste, dass er keine Wahl hatte, setzte er auf Verteidigung. Pétain besaß zweierlei, was für einen General von unschätzbarem Wert war: echte Kenntnisse in modernen Waffensystemen sowie den Respekt und das Vertrauen der Frontsoldaten.

Etienne erinnerte sich, wie allein sein Erscheinen in Verdun sofort das Selbstvertrauen und die Moral aller gestärkt hatte. Pétain zahlte es den Deutschen mit gleicher Münze heim, indem er seiner Artillerie Befehl gab, dem Feind maximale Verluste zuzufügen. Da die Bahnverbindungen nach Verdun bereits unterbrochen waren, sorgte er dafür, dass der Nachschub auf einer schmalen Straße transportiert wurde, mittlerweile als Voie Sacrée, Heiliger Weg, bekannt. Auf dieser Straße brachte ein stetiger Strom von Fahrzeugen täglich Verstärkung, Munition und Vorräte nach Verdun.

Aber den Deutschen schien, noch bevor Pétain in Erscheinung trat, die Luft auszugehen. Wie viele andere genoss es auch Etienne, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich abmühten, ihre schweren Geschütze über die Bombentrichter zu schleppen.

Die Kampfhandlungen hielten an. Auf beiden Seiten gab es keine Pausen des verheerenden Sperrfeuers. Jeder feindlichen Offensive folgte eine französische Gegenoffensive, und Ende März hieß es, dass die Zahl der Toten bei den Deutschen fast genauso hoch war wie bei ihnen. Aber achtundachtzigtausend gefallene Franzosen waren ein zu hoher Preis.

Jetzt, im Mai, sah es schlimmer denn je aus, denn General Pétain war versetzt worden, und General Nivelle hatte mit General Mangin als Divisionskommandeur den Oberbefehl erhalten. Mangin war angeblich ein Offizier der alten Schule: Angriff ohne Rücksicht auf Verluste. Schon nannte man ihn »Den Schlächter« oder »Menschenfresser«, und Etienne plagten düsterste Vorahnungen.

Er hatte jeden der Freunde verloren, die er beim Eintritt in die Armee gefunden hatte. Neue Soldaten hatten ihre Plätze eingenommen und waren Freunde geworden, doch auch von ihnen waren die meisten inzwischen tot. Jetzt scheute er davor zurück, etwas Privates über die Männer zu erfahren, an deren Seite er kämpfte. Wenn es ruhiger zuging, hatte er nichts dagegen, mit ihnen Karten zu spielen und zu trinken und zu scherzen, doch ihr Tod würde ihn wesentlich härter treffen, wenn er etwas über ihre Frauen und Kinder, ihre Überzeugungen und Träume wusste.

Ihm war klar, dass jeder Tag an der Front sein letzter sein konnte, und er betete nur darum, dass er sofort tot war, wenn es ihn erwischte. Er könnte nicht den Rest seines Lebens mit den furchtbaren Verletzungen leben, die andere Männer erlitten hatten.

Manchmal fragte er sich, warum sein Glück schon so lange anhielt. Lag es daran, dass er sich bereits in seiner Jugend Überlebensstrategien angeeignet hatte? Oder weil er schnell, entschlossen und furchtlos war, wie Capitaine Beaudin gesagt hatte, als er ihn im Januar zum Korporal befördert hatte? Außerdem hatte er gesagt, dass Etienne ein guter Soldat, ein geborener Anführer und ein Gewinn für das Regiment sei. Etienne hatte in sich hineingelächelt und sich gefragt, ob der Capitaine eine so hohe Meinung von ihm hätte, wenn er wüsste, wie er früher gelebt hatte.

Etienne wurde von lauten Stimmen aus seinen Überlegungen gerissen und stand auf, um einen Blick auf das kleine Dorfcafé und die Straße davor zu werfen. Inmitten einer Schar französischer Soldaten konnte er einen Laster und vier Männer in englischen Khaki-Uniformen erkennen. Selbst aus einer Entfernung von fünfhundert Metern erriet er an dem Verhalten der Engländer, dass die Situation brenzlig war und leicht in eine Prügelei ausarten konnte.

Hierher kamen kaum englische Soldaten, weil sie damit beschäftigt waren, die Front bei Ypern zu verteidigen. Etienne nahm an, dass sie nach dem Weg fragten, doch da die französischen Soldaten wahrscheinlich betrunken waren und kaum einer von ihnen Englisch konnte, fingen sie an, sich über die Engländer lustig zu machen.

Etienne, der nicht wollte, dass es zu einer Schlägerei mit Blutvergießen kam, fühlte sich verpflichtet einzugreifen.

Als er näher kam und hören konnte, was geredet wurde, stellte er fest, dass er die Situation richtig eingeschätzt hatte. Die Tommys erkundigten sich nach dem Weg zum französischen Hauptquartier, und das hatten die Franzosen offensichtlich auch begriffen, doch weil sie betrunken waren, machten sie sich einen Spaß daraus, im Weg zu stehen und unverschämte Bemerkungen von sich zu geben.

Etienne war noch ungefähr hundert Meter von dem Café entfernt, als einer der Tommys auf den Franzosen zuging, der die größte Klappe hatte, und ihn an den Schultern packte. Es war nicht zu übersehen, dass er ihm eine verpassen wollte.

»Lass das, der Idiot ist total betrunken!«, rief Etienne. »Ich kann euch helfen.«

Der Engländer drehte sich überrascht um. Jetzt wandte sich Etienne an die französischen Soldaten und sagte, sie sollten sich schämen, weil sie ihren Alliierten nicht halfen, woraufhin alle in das Café zurücktrotteten.

»Darf ich euch auf eine Runde einladen?«, fragte Etienne die englischen Soldaten. »Ich möchte mich für das schlechte Benehmen meiner Kameraden entschuldigen. Ich kann euch den Weg beschreiben und eine Skizze anfertigen.«

Die vier Männer sahen einander an, dann dankte ihm der kleine, dunkelhaarige Korporal und sagte: »Sehr gern.«

Da niemand scharf darauf war, zu den Männern, die sie angestänkert hatten, ins Lokal zu gehen, kaufte Etienne eine Flasche Wein und hockte sich mit den anderen auf den Boden.

»Bier gibt es hier leider nicht«, sagte er, während er Gläser verteilte. »Und der Wein ist auch nicht besonders.«

Er fragte sie, woher sie kamen, und erklärte ihnen in groben Zügen, wo sich das französische Hauptquartier befand.

Die Männer sprachen den untersetzten, drahtigen Korporal mit »Korp« an. Ein hellhaariger Bursche, der nicht älter als neunzehn sein konnte, wurde aus Gründen, über die Etienne nur Vermutungen anstellen konnte, »Donkey«, also Esel, genannt, und der große Bursche, der sich den französischen Soldaten hatte vorknöpfen wollen, trug den Spitznamen »Bin«. Der vierte hieß offenbar wegen seiner roten Haare bei den anderen »Red« und erzählte ihm lachend, dass Bin zu seinem Namen gekommen war, weil er ständig sagte: »Bin auch schon da gewesen.«

Während Etienne eine Skizze ihrer Route anfertigte, fragten sie ihn nach Verdun und wie lange er schon an der Front war. Er erzählte ihnen einiges von den Gräueln hier. Auch sie konnten von Ypern Furchtbares berichten, meinten jedoch, dass es sich in letzter Zeit ein wenig beruhigt habe und sie jetzt meistens damit beschäftigt seien, den Zustand der Schützengräben zu verbessern.

»Du sprichst verdammt gut Englisch«, bemerkte Red. »Hast du mal in England gelebt?«

»Ungefähr zwei Jahre lang«, antwortete Etienne. »In London. Du kommst auch von dort, oder? Ich erkenne den Akzent.«

»Ich dachte, wir Tommys klingen für euch Franzmänner alle gleich?«

»Nicht, wenn man ein Ohr dafür hat. Wenn ihr eine Weile in Frankreich leben würdet, könntet ihr auch den Unterschied zwischen jemandem aus Paris und jemandem aus dem Süden erkennen«, sagte er und sah den Londoner forschend an. Er kam ihm irgendwie bekannt vor, obwohl er nicht wusste, warum. Etienne hatte noch nie mit einem rothaarigen Engländer gesprochen, weder hier noch sonst wo.

»Wie haltet ihr euch?«, wollte der Korporal wissen. »Wir haben gehört, dass es ein Blutbad war, mit über achtzigtausend Toten.«

»So sagt man, vielleicht waren es sogar mehr.« Etienne seufzte. »Aber die Boches haben fast genauso viele Männer verloren. Was wollt ihr eigentlich im französischen Hauptquartier?«

Ihm fiel auf, dass die vier Männer Blicke wechselten.

»Ihr müsst es mir nicht erzählen, nur weil ich euch eine Flasche Wein spendiere«, sagte er. »Ich war bloß neugierig.«

»Wir holen ein paar von unseren Männern ab«, erklärte Red. »Es steht nicht fest, ob sie Deserteure sind oder sich einfach nur verlaufen haben. Eure Leute haben sie aufgegriffen.«

»Aber ihr seid nicht von der Militärpolizei, oder?« Etienne verabscheute die Militärpolizei, und wenn er gewusst hätte, dass die vier Männer zu dieser Einheit gehörten, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, ihnen zu helfen.

»Nein, verdammt! Das ist keine offizielle Aktion. Unser Captain ist in Ordnung, und die beiden, die vermisst wurden, sind alte Hasen und gute Soldaten. Wir dachten alle, sie wären hopsgegangen, als sie nicht wieder auftauchten; in der Nacht gab es so viele Verluste und einige blieben einfach im Schlamm liegen. Doch als der Captain die Nachricht erhielt, dass man die zwei aufgegabelt hat, fiel ihm ein, dass in der fraglichen Nacht dichter Nebel war. In so einer Suppe kann man leicht jeden Orientierungssinn verlieren. Deshalb war er der Meinung, dass er sie selbst befragen sollte. Wenn er die Militärpolizei geschickt hätte, wär’s mit den beiden aus gewesen.«

Etienne zog eine Augenbraue hoch. Er hatte noch nie gehört, dass ein Offizier, ob Franzose oder Engländer, begründete Zweifel gelten ließ, wenn es um Desertion ging. Man hatte ihm erzählt, dass auf französische Soldaten geschossen worden war, als sie in Ypern wegliefen, obwohl sie nicht desertieren, sondern vor dem Giftgas flüchten wollten. »Dann haben die beiden großes Glück gehabt«, meinte er.

»Ich finde sowieso nicht, dass Deserteure erschossen werden sollten, ob sie nun abhauen oder sich nur verlaufen haben«, sagte der Rothaarige hitzig. »Es ist eine Verschwendung von Leben. Wenn sie Angsthasen sind, sollte man sie als Etappenschweine einsetzen. Die werden genauso gebraucht wie Männer für die Schützengräben.«

»Unser kleiner Rotschopf Reilly würde noch für die Rechte eines Schweins eintreten, wenn es ihm gerade in die Eier beißen will«, bemerkte der Korporal mit einem trockenen Lächeln. »Zum Glück wissen wir, dass er kein Angsthase ist.«

Bei dem Namen Reilly zuckte Etienne zusammen. Alle vier Tommys lachten, doch er starrte Red erstaunt an.

Es konnte doch unmöglich Jimmy sein, nur weil er Londoner war, Reilly hieß und rote Haare hatte. Das wäre ein zu absurder Zufall. Außerdem war Belles Jimmy Gastwirt und hätte sich erst gemeldet, wenn es verpflichtend war. Und selbst wenn er sich freiwillig gemeldet hatte, war es wahrscheinlich, dass das Schicksal zwei Männer, die dieselbe Frau liebten, in einem abgelegenen Estaminet in Frankreich zusammenführen würde?

Er hatte Jimmy nur ein Mal an jenem Tag, als er nach Blackheath gefahren war, gesehen, und das nur flüchtig und von Weitem. Alles, woran er sich erinnerte, war, dass der Mann groß und rothaarig gewesen war; sein Gesicht hatte er nicht genau erkennen können. Der Gedanke, dass es ihm bekannt vorkam, konnte nur bedeuten, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte und all die Monate in der Hölle schließlich Wirkung zeigten. Reilly war ein weit verbreiteter Name in England; allein in London musste es Hunderte geben.

»Was ist los, Kumpel? Siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen!«

Die Bemerkung des Korporals brachte Etienne wieder zu sich, und er zwang sich zu einem Lächeln. »Hab bloß darüber nachgedacht, wie ich reagieren würde, wenn mir ein Schwein die Eier abbeißen will«, meinte er.

Das Gespräch wandte sich den Giftgasangriffen zu. »Wir hatten Glück, dass wir an dem Tag keinen Dienst hatten«, sagte Bin. »Die, die es erwischt hat, hatten ganz blaue Gesichter und packten sich dauernd an der Kehle. Furchtbar war das.«

Der Korporal berichtete, dass man ihnen geraten hatte, Mund und Nase mit einem in Wasser oder dem eigenen Urin getränkten Lappen zu bedecken, und fügte hinzu, dass ihr Captain ihnen erzählt hatte, dass die Männer, die an dem Gas gestorben waren, im Grunde durch den Schaum in ihren Lungen ertrunken waren.

»Habt ihr das Zeug hier auch gehabt?«, fragte er.

Etienne wollte gerade sagen, dass er selbst noch keinen Giftgasangriff erlebt, doch viel darüber gehört hatte, als die Aufmerksamkeit des Korporals durch den Anblick eines Mannes abgelenkt wurde, der gerade mit einem Teller voll Essen aus dem Estaminet kam.

»He, hier gibt’s Spiegeleier und Bratkartoffeln!«, rief er. »Davon muss ich unbedingt was haben!«

Der Korporal sprang auf, dicht gefolgt von Bin und Donkey. Red bat sie, ihm auch etwas mitzubringen, und blieb bei Etienne.

Mit Red allein zu sein, schien Etienne die ideale Gelegenheit zu sein, seine abwegige Idee abzutun. »Bist du zu Hause auch schon Red genannt worden, oder hast du den Namen erst hier bekommen?«

Der andere grinste. »In Etaples hat mich der Feldwebel ›Karottenkopf‹ genannt. Als ich gelernt hatte, geradeaus zu schießen, wurde daraus Red. Das ist hängen geblieben, aber eigentlich heiße ich James und zu Hause Jimmy.«

Etienne lief es kalt über den Rücken. »Was hast du gemacht, bevor du dich gemeldet hast?«, brachte er heraus.

»Mit meinem Onkel ein Wirtshaus geführt«, antwortete Jimmy. »Mittlerweile glaube ich, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hatte, als ich mich freiwillig gemeldet habe. Meine Frau erwartete ein Kind, und ich war noch in Etaples, als ich erfuhr, dass sie das Baby verloren hat. Ich durfte nach Hause, weil sie so krank war, und ich kann dir sagen, ich war stark versucht, nicht wieder herzukommen.«

»Sympathisierst du deshalb mit Deserteuren?«

»Kann sein. Belle ging es sehr schlecht. Sie war in dem Laden, den sie zu diesem Zeitpunkt hatte, überfallen und zusammengeschlagen worden, und ich hatte das Gefühl, ich hätte sie nie allein lassen dürfen. Doch sie hat sich erholt und eine Weile sogar wieder ihr Geschäft geführt. Aber jetzt hat sie es aufgegeben und arbeitet als Freiwillige im Militärlazarett.«

Etienne wünschte, er wäre bei seinem Baum geblieben und nicht diesen Männern zu Hilfe geeilt. Dann hätte er immer noch glauben können, dass Belle das glückliche Leben führte, das sie verdiente. »Als Krankenschwester?«

»Na ja, sie ist auf ihrer Station eher Mädchen für alles, doch sie hat das Zeug zu einer richtigen Krankenschwester. Sie hat sich in die Idee verrannt, dass sie ins Rote Kreuz eintreten und hierherkommen und einen Krankenwagen fahren kann, wenn sie ein bisschen Erfahrung gesammelt hat.«

»Das ist keine Arbeit für eine Frau«, sagte Etienne. Er hatte erst ein paar weibliche Rettungsfahrer gesehen, und das waren herbe Erscheinungen mit Nerven aus Stahl gewesen. »Es ist gefährlich, weil sie oft ganz dicht an die Front herankommen. Erlaub ihr das bloß nicht!«

Jimmy schnitt eine Grimasse. »Wenn meine Belle sich etwas in den Kopf setzt, ist nicht dran zu rütteln«, erklärte er. »Aber in dem Militärlazarett in London sind so viele Verwundete, dass man sie dort dringend braucht, und ich hoffe, sie gibt die Idee, an der Front eingesetzt zu werden, irgendwann auf. Sie hat es in ihren Briefen schon eine ganze Weile nicht mehr erwähnt.«

Etienne hätte am liebsten gesagt, dass er nur allzu gut wusste, wie eigensinnig und heißblütig Belle war, doch das war unmöglich. Wenn er zugab, wer er war, ließ er sich vielleicht unabsichtlich anmerken, was er für Belle empfand. Er konnte den Mann nicht mit diesem Wissen aufs Schlachtfeld zurückschicken.

»Ich muss gehen«, sagte er und sprang auf. »War nett, dich kennenzulernen. Zieh den Kopf ein und pass auf, dass deine Frau brav zu Hause bleibt!«

»Ich freue mich sehr, dass wir uns kennengelernt haben.« Auch Jimmy stand auf und schüttelte Etiennes Hand. »Pass auch auf dich auf! Und danke für den Wein und die Wegbeschreibung.«

Etienne entfernte sich mit schnellen Schritten.

»Du hast mir ja gar nicht deinen Namen verraten«, hörte er Jimmy rufen, doch er tat so, als hätte er nichts gehört, und ging weiter.

»Wo ist denn der Franzmann hin?«, fragte der Korporal Red, als er mit zwei Tellern mit Spiegeleiern und Bratkartoffeln zurückkam. »Ich habe ihm auch was mitgebracht.«

»Er musste zurück«, erwiderte Red. »Schade, war ein netter Kerl. Ich wollte ihn nach ein paar französischen Ausdrücken fragen, damit wir im Hauptquartier besser durchkommen.«

»Sah wie ein ganz schön zäher Bursche aus«, bemerkte Bin, als auch er mit zwei beladenen Tellern zu ihnen trat. »Habt ihr seine kalten Augen gesehen? Kein Wunder, dass die Franzmänner sich getummelt haben, als er sie anbrüllte. Bevor wir herkamen, habe ich immer gedacht, die Franzosen wären allesamt Schwuchteln.«

»Du sagst jetzt hoffentlich nicht ›Bin schon mit einem zusammen gewesen‹?«, zog Donkey ihn auf, und die Männer lachten schallend.

»Na schön, dann nehme ich die Portion von dem Franzmann«, gab Bin zurück. »Und ihr könnt lange warten, bis ihr was abkriegt!«

Als Etienne zum Lager zurückging, fühlte er sich schwer angeschlagen. Nach seinem Besuch in England im Jahr 1914 hatte er Belle in den hintersten Winkel seines Denkens verdrängt, aber die heutigen Ereignisse machten sie wieder sehr gegenwärtig.

Obwohl er weniger als eine halbe Stunde mit Jimmy verbracht hatte, konnte er jetzt einschätzen, was für ein Mensch Belles Mann war. Es wäre vielleicht eine Genugtuung gewesen festzustellen, dass er ein Schwächling und Langweiler war. Aber er war ein starker, aufrechter Mann mit Prinzipien und jener ruhigen, festen Art, die die Voraussetzung für einen erstklassigen Soldaten und den besten Freund war, den man sich wünschen konnte.

Würde Belle hierherkommen? Die meisten Frauen, dachte er, würden viel zu viel Angst haben, um auch nur daran zu denken, in ein Land zu gehen, das sich im Krieg befand, doch Belle hatte mehr Mut, als ihr guttat. Und sie war sehr zielstrebig, wenn sie etwas wollte.