KAPITEL 28

Vera wirkte ein bisschen unsicher, als Belle ihr die Tür öffnete. »Du hast mein Warnschreiben doch bekommen, ja?«, fragte sie. »Wenn nicht, hast du zwei Sekunden Zeit, um mir die Tür vor der Nase zuzuknallen.«

Belle lachte und drückte sie erst einmal an sich. »Ich habe deinen Brief bekommen und mich schrecklich gefreut«, sagte sie und nahm ihrer Freundin den Koffer ab. »Aber ich nehme an, du hast meinen nicht gekriegt.«

»War das der, in dem stand, dass ich mich hier ja nicht blicken lassen soll?«, erwiderte Vera und kam herein.

»Genau der«, gab Belle zurück, doch da ihr klar war, dass sie Vera die traurige Nachricht über Garth und Jimmy mitteilen musste, bevor sie ihre Freundin mit Mog bekannt machte, stellte sie den Koffer im Flur ab, öffnete die Haustür wieder und zog Vera nach draußen.

»Fein, war nett, dich zu sehen, auch wenn es nur eine Sekunde war.« Aber Veras Lächeln verblasste, als ihr auffiel, wie nervös Belle wirkte. »Komme ich ungelegen?«

»Nein, ganz im Gegenteil, doch ich muss dir sagen, was passiert ist, bevor wir wieder ins Haus gehen. Es stand in dem Brief, den du nicht mehr bekommen hast. Garth und Jimmy sind beide innerhalb einer Woche an der Grippe gestorben.«

Vera blieb der Mund offen stehen.

»Es ist jetzt vier Wochen her. Das Schlimmste haben wir beide überstanden, na ja, so halbwegs.«

»Ich kann wieder gehen«, murmelte Vera verstört. »Es tut mir so leid. Ich will euch in dieser schweren Zeit nicht belästigen.«

»Ach was, Mog freut sich genauso auf dich wie ich.« Belle drückte den Arm ihrer Freundin, um ihre Worte zu unterstreichen. »Wir könnten ein bisschen Abwechslung voneinander gebrauchen.«

Vera sah sie einen Moment lang schweigend an. »Ich kann es kaum glauben. Es tut mir so furchtbar leid, Belle. Meine Güte, ich hätte keinen schlechteren Zeitpunkt erwischen können!«

Belle lächelte. »Der Zeitpunkt ist sehr gut. Ich wünschte nur, ich hätte dir gleich geschrieben, dann wärst du vorgewarnt gewesen. Ich will nicht, dass du dich unbehaglich fühlst. Und jetzt komm rein, damit du Mog kennenlernst!«

Vera zögerte, als Mog auf sie zukam, um sie zu begrüßen. »Ich bedaure Ihren Verlust so sehr, Mrs. Franklin«, sagte sie. »Belle hat es mir gerade erzählt.«

»Und mir hat Belle erzählt, was für eine gute Freundin Sie ihr in Frankreich gewesen sind«, erwiderte Mog und umarmte Vera. »Sie sind uns herzlich willkommen, meine Liebe, und nennen Sie mich bitte Mog!«

Belle wurde leichter ums Herz. Mog liebte es, andere zu umsorgen und zu verwöhnen, und sie wusste, wie sehr es Vera genießen würde, ein bisschen bemuttert zu werden.

Schon in Frankreich war Belle aufgefallen, dass Vera andere Menschen bezaubern konnte. Zum einen lag es an ihrem frechen, sommersprossigen Gesicht, ihrem breiten Grinsen und dem unerschütterlichen Sinn für Humor, zum anderen an ihrem lebhaften Interesse an allem und jedem. Wenn sie eine Geschichte erzählte, schuf sie mit Worten Bilder, doch sie konnte auch gut zuhören und besaß die seltene Gabe, anderen dann das Gefühl zu geben, der faszinierendste Mensch von der Welt zu sein.

Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, zündete Belle im Wohnzimmer ein Feuer im Kamin an. Im September war es warm gewesen, und jetzt, im Oktober, war es tagsüber immer noch mild, am Abend jedoch kühl.

Es war schön, am Feuer zu sitzen und zu reden, und es erinnerte Belle an die Sonntage von früher, bevor Jimmy in den Krieg gegangen war. Damals war der Sonntag etwas Besonderes gewesen, weil die Schenke geschlossen blieb. Mittags gab es einen gewaltigen Braten, und nach dem Essen setzten sie sich alle ins Wohnzimmer, um auszuspannen und zu plaudern. Garth und Mog nickten unweigerlich ein, doch später spielten sie Karten, und Garth unterhielt sie mit dem Klatsch, den er während der Woche in der Schankstube aufgeschnappt hatte.

Mog hing stets an Garths Lippen und lachte über all seine Scherze, und jetzt war es Veras Charme, dem sie erlag. Belle hätte ihre Freundin umarmen können, weil sie Mog aus der Reserve lockte, indem sie lustige Anekdoten aus dem Lazarett oder über ihre Familie in Neuseeland erzählte. Mog war entzückt, dass die Reids eine Bäckerei besaßen, und sie und Vera tauschten begeistert Rezepte für Kuchen und Pasteten aus. Später sprach Mog über Garths Tod, was ihr Belle gegenüber nicht unbedingt leichtfiel. Da Vera so viele Männer an der Spanischen Grippe hatte sterben sehen, konnte sie Mog davon überzeugen, dass sie alles Menschenmögliche für Garth getan hatte.

Gegen acht Uhr abends ging Mog zu Bett, aber vorher schlug sie noch vor, am nächsten Tag mit Vera den Trafalgar Square, den Buckingham Palace und die Wachablöse zu besichtigen. »Wir könnten in dieses neue Café gehen, über das wir in der Zeitung gelesen haben. Im Lyons Corner House«, erklärte sie. Dann sah sie Belle an und lächelte. »Und lass uns etwas anderes als Schwarz tragen! Garth und Jimmy würden bestimmt nicht wollen, dass wir wie zwei alte Krähen aussehen.«

»Du hast ihr wirklich geholfen«, bemerkte Belle, als Mog oben in ihrem Zimmer war. »Wir sind gerade erst von der See zurückgekommen, und Mog ist dort viel heiterer geworden, aber heute war sie genau wie früher. Danke, Vera.«

»Deine Mog ist ein richtiger Schatz. Sie und meine Mutter wären ein Herz und eine Seele. Sie sind sich in vieler Hinsicht bemerkenswert ähnlich. Doch jetzt erzähl du mal, Belle! Die ganze Geschichte! Ich weiß alles über Garth, aber nichts über Jimmy und dich.«

Belle hatte in ihren Briefen an Vera zwar einige der Probleme erwähnt, die es mit Jimmy gab, sie jedoch eher leichthin abgetan. Als sie jetzt zu erzählen begann, ging Vera mit großer Anteilnahme auf sie ein, bis Belle in der Lage war, sich endlich alles von der Seele zu reden: den Zorn, den Schmerz, die Einsamkeit und die Enttäuschung und dazu ihr schlechtes Gewissen wegen Etienne. Vera war entsetzt zu hören, dass auch er tot war.

»Wie furchtbar für dich, es auf diese Weise zu erfahren!«, rief sie. »Und niemand, bei dem du dich aussprechen konntest! Es wundert mich, dass du nicht völlig durchgedreht bist!«

»Ich habe all das verdient«, sagte Belle unglücklich. »Wenn ich an die vielen Nächte denke, in denen ich wach lag und mich nach Etienne sehnte – wie konnte ich dann verletzt sein, dass Jimmy nicht mit mir schlafen wollte?«

»Er wollte nicht? Überhaupt nicht?«

Belle schüttelte den Kopf. »Nicht ein einziges Mal. Ich war überzeugt, mit uns würde alles wieder in Ordnung kommen, wenn das klappen würde. Aber er wollte nicht. Er wurde sogar böse, wenn ich etwas in der Richtung unternahm. Irgendwann gab ich einfach auf. Doch ich habe ihn trotzdem geliebt, Vera. Was ich für ihn empfunden habe, wurde von meinen Gefühlen für Etienne nicht berührt. Bevor Jimmy starb, sagte er, wie leid es ihm tue, und damit meinte er, dass er mich abgewiesen hat, das weiß ich.«

»Seltsam, dass Etienne ihn gerettet hat!«, bemerkte Vera nachdenklich. »Er wusste, wer Jimmy war, und hat ihm trotzdem das Leben gerettet. Wahrscheinlich hat er geahnt, dass er dir nie wieder in die Augen schauen kann, wenn er ihn einfach seinem Schicksal überlässt.«

»Mag sein. Die Ironie daran ist, dass Jimmy wünschte, er wäre nicht gerettet worden. Ich habe mich oft gefragt, was ich empfunden hätte, wenn er damals gestorben und ich für Etienne frei gewesen wäre. Vielleicht ist es ganz gut, dass es nicht so gekommen ist.«

Vera streckte ihre Hand aus und wischte Belle eine Träne von der Wange. »Ich lasse nicht zu, dass du dich weiterhin in Schuldgefühlen suhlst, Belle. Du hast dich Jimmy gegenüber richtig verhalten. Niemand hätte mehr tun können. Also, was soll’s? Der Krieg ist bald zu Ende. Du kannst ein neues Kapitel im Buch deines Lebens aufschlagen, und du musst gut aufpassen, dass du bei allem, was du machst, an dich denkst, nicht an andere.«

»Ein alter Freund hat mir mehr oder weniger das Gleiche geraten. Mog verkauft das Railway Inn, weil wir es nicht führen können. Sie hätte ohnehin gern eine Teestube.«

»Hier in Blackheath?«

»Nein, wir wollen so bald wie möglich wegziehen, doch wir wissen noch nicht, wohin.«

»Warum nicht nach Neuseeland?«

Belle lachte. »Sei nicht albern! Das geht doch nicht.«

»Warum nicht? Es wäre ein richtig neuer Anfang, und es ist ein wunderschönes weites Land mit unglaublich vielen Möglichkeiten. Wir sprechen Englisch, und die meisten von uns sind britischer Herkunft. Du wärst begeistert. Ich könnte euch beide im Handumdrehen unter die Haube bringen.«

Belle zog eine Augenbraue hoch. »Und warum bist du dann selbst noch unverheiratet?«

»Ich war auf etwas anderes aus – Abenteuer! Aber nach allem, was ich in Frankreich gesehen habe, wäre ich glücklich und zufrieden mit dem, was meine Mutter hat: mit einem netten Mann, Kindern, innerem Frieden und guten Freunden.«

»Neuseeland klingt wirklich sehr verlockend«, gab Belle zu. »Bei meiner Rückkehr nach London habe ich oft von all den Dingen geträumt, die du mir erzählt hast – von der Sonne, dem türkisblauen Meer, davon, mit dem Boot aufs Meer zu fahren und zu fischen … In Brighton war das Meer grau und sehr kalt.«

»Meine Eltern würden euch beide bestimmt gern aufnehmen, bis ihr eine eigene Bleibe gefunden habt«, sagte Vera. »Mog könnte in Russell eine Teestube eröffnen, du könntest wieder Hüte anfertigen oder eine Fremdenpension aufmachen. Meine Mutter jammert schon die ganze Zeit, weil es bei uns keinen Kurzwarenladen gibt. Wenn wir Frauen Stoffe oder Knöpfe brauchen, müssen wir die Sachen in Auckland bestellen und darauf warten, dass sie mit dem Dampfer gebracht werden.«

»Mog möchte bestimmt nicht ans andere Ende der Welt ziehen.«

»Ich wette, sie möchte doch. Sie ist ziemlich abenteuerlustig.«

Belle kicherte. »Für Mog ist es schon abenteuerlich, ein neues Rezept auszuprobieren.«

»Ich glaube, sie könnte dich überraschen. Nach allem, was ich heute gesehen habe, würde ich sagen, dass sie zu so ziemlich allem bereit ist, vorausgesetzt, du bist bei ihr. Was hält euch denn hier in England noch?«

Belle dachte einen Moment nach, aber ihr fiel auf Anhieb nichts ein. Sie hatte eine Mutter, doch es würde ihr keine schlaflosen Nächte bereiten, wenn sie Annie nie wiedersah. Die einzigen echten Freunde, die sie hatte, waren Noah und Lisette, aber die beiden hatten ihre Familie und ihr eigenes Leben. Die Vorstellung, an einen Ort zu gehen, wo ihre Vergangenheit nie wieder zur Sprache kommen würde, war sehr verlockend für Belle.

»Du willst es doch, oder?«, schmeichelte Vera.

»Vielleicht«, sagte Belle vorsichtig.

Sie wechselten das Thema und redeten über das Lazarett in Frankreich. Belle wollte wissen, wie es den Leuten ging, mit denen sie dort Freundschaft geschlossen hatte.

»Captain Taylor ist an der Grippe gestorben«, erzählte Vera. »David hat eine Liebste gefunden, eine Krankenschwester namens Charlotte West.«

»Die aus Station W mit dem Muttermal auf der Wange?«

»Genau die. Nicht gerade eine Schönheit, aber echt lustig. David ist total hin und weg von ihr. Sally war ziemlich gemein und meinte, sie seien ein ideales Pärchen, weil sie beide eine Macke haben.«

Belle grinste. »Wenn jemand eine Macke hat, dann sie. Ich freue mich für David, er ist ein netter Kerl, und ein bisschen Leidenschaft wird ihm guttun.«

»Ich hoffe, ich kriege auch noch ein wenig Romantik ab«, bemerkte Vera verschmitzt. »Ich möchte so wild und unbekümmert sein wie Miranda und du.«

»Vielleicht ergibt sich ja auf der Überfahrt nach Neuseeland etwas«, erwiderte Belle und lachte.

Am nächsten Tag nahmen sie den Zug nach Charing Cross. Es war ein kalter, sonniger Tag. Belle und Mog hatten beide ihre Trauerkleidung abgelegt und sich dezent, aber elegant gekleidet. Belle wählte ein hellgraues Kostüm mit Schößchenjacke, das sie seit der Zeit, bevor sie nach Frankreich gegangen war, nicht mehr getragen hatte, und dazu einen grauen Hut mit blassrosa Rosen. Mog entschied sich für eine dunkelviolette Wolljacke über einem malvenfarbenen Kleid, ihren geliebten Fuchspelz und einen mit violetten Federn verzierten Hut.

Belle hatte Vera einen Mantel aus smaragdgrünem Brokat geschenkt, der zu frivol war für eine Witwe, wie sie fand, aber perfekt für ihre Freundin. Dazu bekam Vera einen Hut, ein duftiges Gebilde aus blassgrünem Samt und Tüll, das bei der Schließung des Hutsalons übrig geblieben war.

Vera war hingerissen, wie gut ihr die Sachen standen. Alle ihre Kleidungsstücke – und viele waren es nicht – waren schlicht und zweckmäßig. »Ich kann sie einfach nicht mehr sehen«, stöhnte sie. Als sie noch in Frankreich gewesen waren, hatte sie Belle erzählt, dass die Frauen in Russell nicht besonders modebewusst waren, vor allem deshalb, weil es keine größeren Städte in der Nähe gab. Aber ihr Aufenthalt in Frankreich und Belles und Mirandas Einfluss hatten Veras Interesse an Mode geweckt. Sie hatte vor, sich ein neues Kleid und ein Paar elegante Schuhe zu kaufen, um auf der langen Heimreise eventuell die Aufmerksamkeit eines Offiziers auf sich zu lenken.

Es war lange her, seit Mog und Belle in Londons West End gewesen waren. Die Gebäude waren zwar dieselben geblieben, alles andere jedoch schien sich verändert zu haben. Auf der Strand und rund um den Trafalgar Square drängten sich Automobile statt der unzähligen Pferdefuhrwerke, Kutschen und Karren, an die sie sich erinnerten. Vier Jahre Krieg schienen an allem und jedem gezehrt zu haben. Das zeigte sich in den Mienen der Menschen und den Schaufensterauslagen. Viele Männer trugen Uniform, sie waren entweder auf Heimaturlaub oder auf dem Weg zurück nach Frankreich, und an jeder Ecke sah man andere, die auf Krücken gingen oder erblindet waren und von Streichhölzern über Schnürsenkel bis hin zu Zeitungen alles Mögliche verkauften.

Vor dem Bahnhof Charing Cross standen Rettungswagen, um Verwundete von einem Lazarettzug abzuholen. Belle und Vera, die einen Moment stehen blieben und zuschauten, wie Frauen Tragen mit Patienten in die Wagen hievten, wurden eindringlich an ihre gemeinsame Zeit in Frankreich erinnert. Im Bahnhofsgebäude hatten sie bereits einen Teestand gesehen, hinter dem zwei gut gekleidete Damen standen. Belle hatte sofort an Miranda denken müssen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt gewesen.

»Wir müssen weg von hier«, sagte Mog energisch, die wohl spürte, woran Belle gerade dachte. »Vera soll doch ein paar schöne Erinnerungen an London mit nach Hause nehmen.«

Vera war vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen, als sie die Mall hinunterschlenderten und sie den Buckingham Palace vor sich liegen sah. »Unglaublich, dass ich ihn wirklich mit eigenen Augen sehe«, rief sie. »In der Schule hing ein Bild vom Buckingham Palace, und ich habe mir immer ausgemalt, wie er von innen ausschaut.«

Belle musste unwillkürlich an den Tag denken, als Jimmy sie hierher mitgenommen hatte. Sie war damals fünfzehn gewesen, und es war noch keine neun Jahre her, aber weil sich in der Zeit so viel ereignet hatte, schien eine kleine Ewigkeit vergangen zu sein. Die Erinnerung an Jimmy und diesen schönen Wintertag hatte sie damals in der Zeit nach ihrer Entführung aufrechterhalten.

Als Mog und sie Vera den St. James’s Park, Clarence House und andere Sehenswürdigkeiten zeigten und dazu ein buntes Gemisch an Informationen beisteuerten, hatte Belle das Gefühl, dass Jimmy bei ihr war und sie drängte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und eine brandneue Zukunft zu planen.

Sie legte ihre Hand in Mogs und lächelte die Ältere an. »Sollen wir nachher nach Seven Dials gehen und uns endgültig verabschieden?«

Mog drückte ihre Finger und nickte zustimmend.

Als sie im neuen und sehr imposanten Lyons Corner Haus saßen, brachte Belle das Thema Neuseeland zur Sprache. Alle drei Frauen waren müde, weil sie kilometerweit gelaufen waren und so viel gesehen hatten. Aber es war der letzte Anlaufpunkt, der sie alle am stärksten beeindruckt hatte: Seven Dials und der Ram’s Head, Garths alter Pub, in derselben Straße, in der sich Annies Bordell befunden hatte und Belle geboren worden war.

Vera kannte einen Großteil der Geschichte: wie das Bordell abgebrannt war und Garth Mog und Annie aufgenommen hatte. Aber nach der Pracht und dem Prunk der Paläste und königlichen Parkanlagen und der Westminster Abbey die engen, schmutzigen Gassen, die Armut und das Elend von Seven Dials zu sehen, hatte sie ziemlich schockiert.

Bei Belle und Mog erwachten tausend und mehr Erinnerungen, gute wie schlechte, als sie auf der anderen Straßenseite des Ram’s Head standen und registrierten, wie klein und schäbig die Schenke aussah. Der Anblick ließ sie beide jäh erkennen, wie weit sie es gebracht und wie sehr sie sich seit damals verändert hatten.

In Eingängen lungerten Prostituierte herum, und überall entdeckten sie Hinweise darauf, dass es genauso viele, wenn nicht mehr Bordelle als zu ihrer Zeit gab. Die zerlumpten Kinder, die Passanten um ein paar Münzen anbettelten, waren ebenso da wie die räudigen Köter, die alten Knacker, die ihr Pfeifchen schmauchten, und die Betrunkenen, die auf den Straßen herumtorkelten.

Sie hielten sich nicht lange auf, sondern blieben nur kurz vor dem Ram’s Head stehen. Mog vergoss ein paar Tränen und erzählte, wie Garth sie zum ersten Mal geküsst und ihr seine Liebe gestanden hatte. Als sie durch Covent Garden gingen, dachte Belle an den siebzehnjährigen Jimmy, der ihre Hand hielt, während sie über die vereisten Straßen liefen und schlitterten, und daran, wie schön es gewesen war, einen echten Freund zu finden.

Und er war der beste aller Freunde gewesen. Wenn er nicht so beharrlich nach ihr gesucht hätte, wäre sie wahrscheinlich in Paris gestorben. Und sein Onkel und er hatten auch Mog geliebt und gut für sie gesorgt.

Wenigstens konnte sie ehrlich behaupten, dass sie bis zum Schluss Freunde gewesen waren und er in ihrem Herzen immer einen besonderen Platz einnehmen würde. Doch jetzt musste sie aufhören, sich zu quälen, indem sie sich fragte, wie es hätte sein können und was sie hätte anders machen sollen. Nun war es Zeit, ein neues Leben anzufangen.

Alle drei waren sehr gespannt auf das Lyons Corner House auf der Strand. Es war von Liptons, der Teefirma, eröffnet worden, verfügte über mehrere Stockwerke und war ungemein modern und elegant. Im Erdgeschoss wurden Schokolade, Kuchen, Kekse und Blumen verkauft; in den oberen Stockwerken befanden sich Restaurants, die jeweils in einem eigenen Stil eingerichtet waren.

Sie gingen in ein Lokal im ersten Stock, das an eine Teestube erinnerte und wo auch spezielle Eissorten angeboten wurden. Die Kellnerin servierte ihnen Tee und brachte eine zweistöckige Porzellanetagere mit appetitlich belegten Brötchen, süßem Weck und einer Auswahl kleiner Kuchenstücke.

»Vera findet, dass wir nach Neuseeland ziehen sollten«, sagte Belle ohne Umschweife. »Was hältst du davon, Mog?«

Mog, die gerade Tee einschenkte, war so überrascht, dass sie die erste Tasse zu voll goss. »Ich weiß nicht. Wie denkst du darüber?«

»Mir gefällt die Idee«, antwortete Belle. Sie griff nach der übervollen Tasse, trank ein wenig Tee ab und goss das, was in die Untertasse geschwappt war, zurück. Im Lyons Corner House herrschte viel Betrieb. Ein Mann im Frack spielte Klavier und schuf eine freundliche Atmosphäre, und unter den Gästen waren zahlreiche Männer in Uniform mit ihren Frauen oder Freundinnen. »Alles, was Vera dir gestern erzählt hat, hat dir gefallen. Du könntest dort eine Teestube eröffnen oder eine Kurzwarenhandlung, alles, woran Bedarf herrscht. Vera sagt, dass wir bei ihren Eltern wohnen können, bis wir eine eigene Bleibe gefunden haben.«

»Wahrscheinlich bekommt ihr als Auswanderer sogar finanzielle Unterstützung für die Überfahrt«, sagte Vera. »Was haben Sie schon zu verlieren, Mog? Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie jederzeit nach England zurückkehren.«

»Wenn alle Neuseeländer so nett sind wie Sie, würde ich das gar nicht wollen«, antwortete Mog. »Aber was ist mit meinen Möbeln? Ich habe ein paar Sachen, von denen ich mich nicht trennen möchte.«

Die Frage verriet Belle, dass Mog Gefallen an der Idee fand. Sie grinste Vera an, die sofort anfing, Mog noch mehr über ihre Heimat zu erzählen.

Sie saßen zwei Stunden lang im Lyons und redeten über alles Mögliche: über das Klima in Neuseeland, über die Kleidung, die sie brauchen würden, und über die Menschen und ihre Eigenheiten. Erst als die Kellnerin sie fragte, ob sie vielleicht in einem der anderen Restaurants zu Abend essen wollten, fiel ihnen auf, wie rasch die Zeit verflogen war.

»Wir sollten mit Noah darüber reden«, meinte Mog, als sie bezahlte. »Er wird besser als wir wissen, wie wir das anstellen müssen.«

»Dann bist du also grundsätzlich einverstanden?«, fragte Belle, als sie gingen, und hängte sich bei Mog ein.

»Na ja, es klingt wesentlich aufregender als Tunbridge Wells«, sagte Mog. »Ich wollte immer schon mal eine lange Seereise unternehmen.«

»Ich glaube nicht, dass ihr eine Passage bekommt, bevor der Krieg zu Ende ist«, wandte Vera ein. »Es besteht immer noch die Gefahr, bombardiert oder torpediert zu werden. Ich fahre mit einem Truppentransport zurück und helfe auf der Überfahrt bei der Betreuung der Verwundeten. Aber es heißt, dass es jeden Tag zum Waffenstillstand kommen kann.«

Belle und Mog hatten in Brighton dasselbe gehört. Doch da seit vier Jahren behauptet wurde, dass der Krieg bis Weihnachten zu Ende wäre, wollten sie ihre Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, ehe es eine offizielle Bekanntmachung gab.

»Wir können nirgendwohin, bis unsere Angelegenheiten alle geregelt sind«, überlegte Mog laut. »Aber was für eine tolle Aussicht!«

Als Mog an diesem Abend zu Bett ging, redeten Vera und Belle noch eine ganze Weile über ihre neuen Pläne.

»Ich kann kaum glauben, dass Mog so begeistert ist«, sagte Belle.

»Ich nehme an, der Abstecher nach Seven Dials war der Auslöser«, meinte Vera nachdenklich. »Mir ist aufgefallen, wie bestürzt sie manchmal aussah, als hätte sie Angst, wieder dort zu landen.«

Belle nickte. »Mag sein. Wenn das Gasthaus verkauft ist, wird Mog zum ersten Mal im Leben im Besitz einer größeren Summe sein, und ihr ist klar, dass sie verantwortungsbewusst damit umgehen muss. Vielleicht glaubt sie, dass sie mit dem Geld in Neuseeland weiter kommt als hier. Stimmt das?«

»Sehr viel weiter, wenn du mich fragst«, antwortete Vera. »Mein Vater ist anscheinend der Meinung, dass es nach dem Krieg mit Neuseeland steil bergauf geht. Natürlich nicht sofort, aber innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre. Russell ist winzig, Belle, und es hat eine anrüchige Vergangenheit, doch die Geschichte der Stadt macht sie für Besucher interessant. Und man hat natürlich die Möglichkeit, segeln und fischen zu gehen, und da ist außerdem die traumhafte Landschaft. Pop ist vorausschauend. Er hat die Bäckerei mit praktisch nichts aufgebaut; wenn er glaubt, dass Feriengäste kommen werden, bin ich bereit, mein letztes Hemd darauf zu verwetten. Aber selbst wenn Russell euch beiden zu verschlafen ist, könnt ihr immer noch nach Auckland, Wellington oder Christchurch gehen.«

Belle lächelte ihre Freundin an. Vera hatte an ihr und Mog ein kleines Wunder bewirkt, sie aus ihrer Trübsal herausgerissen und ihnen neue Hoffnung gegeben.

»Du wirst uns sehr fehlen«, seufzte sie. »Du hast uns beide aufgemuntert und uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich kann dir gar nicht genug danken.«

»Es wird kein Lebewohl, sondern ein Auf Wiedersehen«, lachte Vera. »Außerdem bleibt uns noch morgen.«

Auf der anderen Seite von London, in St. John’s Wood, saß Noah gerade in seinem Arbeitszimmer und tippte einen Artikel für eine Zeitschrift, als Lisette hereinkam. Sie hatte nach der Geburt der kleinen Rose ein wenig zugenommen, aber mit ihrem glänzenden dunklen Haar, der samtigen Haut und den feinen Gesichtszügen war sie immer noch eine sehr hübsche Frau. Noah hatte in ihr schon immer die Verkörperung französischer Eleganz gesehen, und auch heute fand er, dass sie in ihrem beige-braun gestreiften Kleid zum Anbeißen aussah.

»Bist du hier, um mich von der Arbeit abzulenken?«, fragte er.

»Wäre dir eine Ablenkung willkommen?«, gab sie mit ihrem reizenden französischen Akzent zurück.

»Von dir immer«, antwortete er und zog sie auf seinen Schoß.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durch sein welliges Haar. »Das muss geschnitten werden«, stellte sie fest. »Sieht aus wie ein Busch.«

Noah lachte. »War das alles, was du sagen wolltest?«

»Nein, ich habe an Etienne gedacht«, gestand sie. »Welche Beweise gibt es eigentlich, dass er tot ist?«

»Jimmy hat von einem Freund einen Brief bekommen, in dem stand, dass Etienne das Croix de Guerre verliehen wurde.«

»Ja, ich weiß, doch die Engländer glauben anscheinend, dass Franzosen nur dann einen Orden bekommen, wenn sie im Kampf gefallen sind. Das ist nicht richtig.«

»Nicht? Aber der Mann, der den Brief geschrieben hat, hätte es doch sicher gewusst, wenn Etienne überlebt hätte, oder?«

»Nicht unbedingt. Gerade du solltest wissen, wie sehr Geschichten beim Weitererzählen verdreht und aufgebauscht werden. Wenn man Etienne nach seinem Tod einen solchen Orden verliehen hätte, wärst du sofort verständigt worden. Dieser Orden ist etwas ganz Besonderes und eine große Ehre.«

»Wir wissen nicht, ob Etienne noch jemandem mitteilen konnte, dass ich im Fall seines Todes zu benachrichtigen bin. Die französische Armee traf relativ spät an der Front bei Ypern ein, und deshalb hat sich die ganze Offensive verzögert. Du, mein liebes Frauchen, hast keine Ahnung, wie drunter und drüber alles zu so einem Zeitpunkt geht. Auch wenn man noch so gut plant, kann’s schiefgehen.«

»Ich finde, du solltest versuchen, etwas über Etienne herauszufinden, so oder so«, beharrte sie. »Wenn er tot ist, müssen seine Angelegenheiten geregelt werden. Und wenn er noch lebt, wird er sich bei Belle nicht melden, weil er denkt, dass sie sich um Jimmy kümmern muss. Woher sollte er wissen, dass Jimmy tot ist?«

»Habe ich dir schon jemals gesagt, dass du nicht nur eine wunderschöne, sondern noch dazu eine sehr fürsorgliche und kluge Frau bist?«

»Nicht oft genug«, lachte sie und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Belle und Mog sind dabei, Pläne für die Zukunft zu schmieden, und wie du mir erzählt hast, hat Belle sehr lange um Etienne getrauert. Wenn er tot ist, sollte sein Hof bei Marseille an sie fallen, und wenn er lebt, sollte sie vielleicht zu ihm gehen.«

»Und wenn er nun noch am Leben, aber schwer verwundet ist, so wie Jimmy? Wäre das für sie nicht noch schlimmer?«

»Ist es an uns, das zu entscheiden?« Sie zog fragend eine dunkle Augenbraue hoch. »Und du, Noah, du bist sein Freund. Willst du nicht wissen, ob er Hilfe braucht?«

»Also … ja, sicher. Bis du davon angefangen hast, habe ich gar nicht infrage gestellt, dass er tatsächlich tot ist. Gleich morgen werde ich ein paar Nachforschungen anstellen. Aber wir dürfen Belle keine falschen Hoffnungen machen. Das Ganze bleibt unter uns, bis wir Gewissheit haben – so oder so.«

Lisette nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. »Ich werde die Hoffnung auf ein romantisches Wiedersehen der beiden jedenfalls nicht aufgeben, mon chéri