KAPITEL 27
Belle saß mit Mog in der Küche. Sie hörte, dass jemand an die Seitentür klopfte, ignorierte es aber. Seit Jimmys Beerdigung war eine Woche vergangen, und seither klopften immer wieder Leute an. Manchmal war es jemand, der sein Beileid aussprechen und Hilfe anbieten wollte, doch die meisten wollten nur wissen, wann das Gasthaus wieder aufsperrte. Nicht einmal der Zettel an der Eingangstür Wegen Trauerfalls geschlossen hielt sie davon ab.
Belle und Mog fiel es schwer, einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Auf einmal hatten sie viel Zeit und wenig zu tun, weil es niemanden gab, für den sie sorgen mussten. Sie fühlten sich leer und unglücklich und wussten nicht recht, wie es weitergehen sollte. Das ständige Klopfen machte alles noch schlimmer, weil es sie daran erinnerte, dass Entscheidungen getroffen werden mussten.
Das Klopfen wurde lauter. »Könnte Dr. Towle sein«, meinte Mog.
Belle stand müde auf. Mog hatte recht, bei der Beerdigung hatte Dr. Towle versprochen, in einer Woche vorbeizuschauen, um nach ihnen zu sehen.
Aber es war nicht der Arzt, es war Noah. Er nahm seinen Hut ab und lächelte Belle unsicher an.
»Meine Güte!«, rief sie. »Noah! Das ist aber eine Überraschung!«
Es war mindestens drei Jahre her, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, doch obwohl sein erstklassig geschneiderter blassgrauer Anzug, die Weste, die Nadelstreifenhose und die handgefertigten Schuhe von seinem beruflichen Erfolg zeugten, lag auf seinem rosigen, immer noch jungenhaften Gesicht ein Ausdruck von so viel Mitgefühl und Verständnis, dass Belle sich sofort in die Zeit in Paris zurückversetzt fühlte, als er so viel getan hatte, um ihr zu helfen. Ihn nur zu sehen weckte ihre Lebensgeister.
»Ich komme doch nicht ungelegen? Ich war in Frankreich und habe deinen Brief erst gestern erhalten«, erklärte er. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, dass ich nicht hier war, um für Mog und dich da zu sein, als ihr Hilfe am meisten gebraucht habt. Lisette und ich mussten beide weinen, als wir deinen Brief lasen, und wir waren sehr traurig, weil wir keine Gelegenheit hatten, Garth und Jimmy die letzte Ehre zu erweisen.«
Sein aufrichtiges Mitgefühl rührte sie. »Ich hätte nicht gewollt, dass ihr kommt und riskiert, euch anzustecken. Aber jetzt freue ich mich schrecklich, dich zu sehen. Wir sind kaum noch zur Tür gegangen, doch ich bin froh, dass ich diesmal nachgeschaut habe. Komm bitte herein!«
Als die Haustür hinter ihnen zufiel, nahm er Belle in die Arme und drückte sie an sich. »Ich weiß, dass sich ein Gentleman solche Freiheiten nicht herausnehmen sollte«, sagte er schroff. »Aber du weißt, dass du für mich immer zur Familie gehört hast.«
Belle erwiderte seine Umarmung und küsste ihn auf seine glatt rasierte Wange, die nach Sandelholzseife duftete. »Wenn ich mir einen Bruder hätte aussuchen können«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »hätte ich dich genommen. Gehen wir in die Küche? Mog hat gerade Brot gebacken.«
Mog erschien in der Küchentür, Schürze und Wangen noch mit Mehl bestäubt. »Noah!«, rief sie und lief zu ihm, um ihn zu umarmen. »Wie schön, dich zu sehen! Erst heute Morgen haben wir gesagt, dass du uns sicher raten könntest, was wir machen sollen.«
»Liebe Mog«, sagte er, während er sie in den Armen hielt. »Es tut mir so leid, dass du Garth verloren hast. Ich habe immer geglaubt, ich würde ihn noch sehen, wenn er ein alter Mann ist. Was für ein furchtbarer Schicksalsschlag für dich und Belle! Wie habt ihr die beiden Beerdigungen überstanden?«
Wegen der allgemeinen Angst vor Ansteckung und ihres eigenen Kummers waren Belle und Mog übereingekommen, Jimmy in aller Stille zu bestatten. Sie hatten den wenigen Leuten, die darauf bestanden hatten, zu ihnen zu kommen, Tee und Kuchen angeboten, doch die Zahl der Menschen, die am Trauergottesdienst in der Kirche teilgenommen hatten, und derer, die im Pub Beileidsschreiben und Blumen abgegeben hatten, zeigte, wie sehr man Jimmy geschätzt hatte.
»Bis zum Tag nach Jimmys Begräbnis ging es halbwegs«, antwortete Mog und wischte sich die Augen mit ihrer Schürze trocken. »Aber seither ist es schrecklich.«
Noah sah Belle an, und sie nickte bestätigend. Nichts konnte die Lücke füllen, die die beiden Männer hinterlassen hatten. Das Haus war zu still und zu ordentlich. Selbst das geschlossene Lokal wirkte wie ein stummer Vorwurf. Doch selbst wenn sie sich zugetraut hätten, es wieder zu öffnen, galt es, die Anstandsregeln der Trauerzeit zu wahren. Für zwei frisch verwitwete Frauen wäre es völlig undenkbar gewesen, in einem Gasthaus zu arbeiten.
Selbst wenn sie die Schenke wieder öffnen wollten, war keine von ihnen kräftig genug, um Fässer aus dem Keller zu schleppen. Sie kannten sich weder mit den verschiedenen Biersorten aus, noch wussten sie, wie man damit umging. Um diese Dinge hatte sich immer Garth gekümmert.
Erst heute hatte Mog sich aufraffen können, Brot zu backen. Bisher hatten sie an den Sachen herumgepickt, die von der Trauerfeier nach Jimmys Beerdigung übrig geblieben waren, da keine von beiden Appetit hatte.
Noahs Anwesenheit in der Küche wirkte, als wäre ein Licht angezündet worden. Mog brühte Tee auf, legte das frische, noch ofenwarme Brot auf den Tisch, holte Butter und Käse und erzählte dabei Noah, wie es ihnen ergangen war.
Er war schon immer ein guter Zuhörer gewesen. Während Mog Tee einschenkte und redete, lauschte er aufmerksam und nickte gelegentlich.
»Erzähl mir, wie es war, nachdem Jimmy aus Frankreich zurückgekommen ist!«, bat er Belle etwas später. »Es muss für euch beide eine sehr schwierige Zeit gewesen sein.«
Belle hielt ihren Bericht so kurz wie möglich. Mog und sie hatten die ganze Woche über nichts anderes geredet, und jetzt waren sie an einem Punkt angelangt, wo sie beide nichts mehr davon hören wollten.
»Erzähl uns von Lisette und Rose und Jean-Philippe!«, sagte sie, nachdem sie sich auf ein absolutes Minimum an Informationen beschränkt hatte. »Wir könnten es brauchen, etwas zu hören, das uns ein bisschen aufheitert.«
»Wir haben ein Cottage in Devon gemietet, damit sie aus London herauskommen. Ich fand, die Kinder könnten Seeluft, grüne Wiesen und weniger Elend vertragen. Leider konnte ich nicht die ganze Zeit bei ihnen bleiben, weil ich nach Frankreich musste. Aber Jean-Philippe hat inzwischen schwimmen gelernt, und Lisette wirkte viel erholter, als ich zurückkam, und es war schön zu sehen, dass sie alle rote Wangen bekommen haben. Lisette wollte mich heute begleiten, doch ich hielt es für besser, allein zu kommen.«
»Ich hätte nicht gewollt, dass sie so kurz nach den beiden Krankheitsfällen herkommt«, sagte Belle. »Eine Mutter muss für ihre Kinder gesund bleiben.«
»Lisette dreht der Ansteckungsgefahr eine lange Nase«, bemerkte er trocken. »Ich soll unbedingt betonen, dass das nicht der Grund war, und euch beide fragen, ob ihr heute mit mir zurückfahren wollt, um euch eine Weile von ihr verwöhnen zu lassen.«
»Wie lieb von ihr!«, meinte Mog mit bebender Unterlippe. »Du hast eine gute Frau bekommen, Noah.«
»Ja, dank euch allen«, seufzte er. »Ohne Garth und Jimmy wäre ich nicht, wo ich heute bin, und hätte auch nicht Lisette zur Frau. Ich muss euch hoffentlich nicht sagen, wie sehr wir an euch hängen.«
»Du hast dich schon immer gut ausdrücken können«, bemerkte Belle liebevoll. Noah hatte nie an der bei Männern üblichen Zurückhaltung gelitten, das auszusprechen, was ihm am Herzen lag. Aber noch dazu war er ein Mensch, der seinen Worten Taten folgen ließ, und sie wusste, dass jeder Rat, der von ihm kam, gut und hilfreich sein würde.
»Ihr wisst also nicht recht, wie es weitergehen soll?« Noah sah von Belle zu Mog. »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht, und ich habe mir auf dem Weg hierher ein paar Vorschläge überlegt, die euch helfen könnten.«
»Im Grunde geht es um die Schenke«, erklärte Mog müde. »Wir wissen nicht, wie lange unsere Trauerzeit dauern soll. Ich rede nicht nur von der schwarzen Kleidung, sondern bin mir auch nicht sicher, ab wann es vertretbar wäre, das Gasthaus wieder zu öffnen. Wir können natürlich beide hinter der Theke stehen und die Kunden bedienen, doch wir haben keine Ahnung, welche Biersorten und andere Spirituosen wir bestellen sollen. Es gibt einiges, was wir nicht wissen, Noah, und das Railway Inn braucht einen starken Mann am Ruder.«
Er nickte. »Allerdings. Die meisten eurer Probleme ließen sich lösen, wenn ihr einen Pächter einstellt. Dann würde keine von euch im Lokal in Erscheinung treten. Und eins lasst euch von mir gesagt sein: Die Sitte der Trauerzeit ist praktisch ausgestorben. Fast jeder im Land trauert um einen nahen Angehörigen. Witwen müssen arbeiten gehen, um ihre Kinder zu erhalten, und die Menschen können es sich nicht leisten, das bisschen Geld, das sie haben, für schwarze Kleidung auszugeben. Ich kann verstehen, dass ihr beide es für angebracht haltet, eine Weile in Trauer zu gehen und euch nicht an öffentlichen Orten sehen zu lassen. Aber ehrlich gesagt, nur sehr alte Leute mit sehr engem Horizont würden von euch erwarten, dass ihr daran festhaltet.«
Dieser Ansicht war auch Belle gewesen, doch Mog hatte sich dagegen gesträubt und darauf bestanden, dass sie beide Schwarz trugen. Noah hingegen konnte ihr so etwas sagen; Mog sah in ihm einen Quell der Weisheit.
»Ein Pächter?«, wiederholte Mog. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Kommt das nicht zu teuer?«
»Wenn das Lokal geschlossen bleibt, nehmt ihr gar nichts ein. Ich könnte euch dabei behilflich sein, eine Annonce aufzugeben und mit den Bewerbern zu sprechen.«
»Ja, aber ein Pächter könnte uns leicht übers Ohr hauen«, wandte Belle ein. »Du weißt ja, Noah, Männer aus diesem Gewerbe sind nicht immer die ehrlichsten. Auch Garth kannte jeden Trick.«
Noah nickte zustimmend. »Ich denke, im Grunde solltet ihr euch fragen, ob ihr überhaupt hierbleiben wollt.«
»Eigentlich nicht«, sagte Belle. »Aber jetzt gehört alles Mog. Sie muss entscheiden, was sie unternehmen will.«
Mog wirkte verunsichert. »Eigentlich möchte ich nach all den traurigen Ereignissen auch nicht mehr hierbleiben, doch ich habe das Gefühl, Garth im Stich zu lassen, wenn ich fortgehe. Er hat das Railway Inn geliebt.«
»Dich hat er mehr geliebt«, erklärte Noah. »Ich weiß, dass es ihn keinen Pfifferling scheren würde, wenn du es verkaufst. Denk doch an seine Ansichten über Frauen in Kneipen!«
Belle und Mog brachten ein mattes Lächeln zustande. »Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er niemanden, der einen Rock trug, zur Tür hereingelassen«, sagte Belle.
»Na ja, später ist er nachgiebiger geworden«, warf Mog ein. »In den letzten Jahren habe ich meistens mit ihm hinter der Theke gearbeitet, wenn auch nur, weil er sich einen Angestellten nicht leisten konnte. Und irgendwann hat er auch erlaubt, dass Soldaten ihre Frauen und Liebsten mitbringen.«
»Wir sind uns also einig, dass er nicht von euch erwarten würde, dass ihr die Kneipe führt?«, fragte Noah. »Ich denke, er würde sich im Grabe umdrehen, falls es schiefgeht. Warum nicht verkaufen, Mog? Du könntest dir ein anderes kleines Geschäft aufbauen, das euch beiden Spaß macht. Vielleicht könnte Belle wieder Hüte anfertigen. Eine Teestube? Ein kleines Hotel?«
»Eine Teestube würde mir gefallen«, gestand Mog. »Eines von diesen hübschen Lokalen mit Garten, wo man im Sommer draußen den Tee servieren kann.«
Belle lächelte. Das hatte Mog früher schon einmal erwähnt, und sie verfügte mit Sicherheit über alle Fähigkeiten, um Erfolg zu haben. Außerdem tat es gut, sie ein bisschen lebhafter zu sehen. »Würdest du die Freundinnen, die du hier gefunden hast, nicht vermissen?«, wollte Belle wissen.
»Welche Freundinnen?«, gab Mog mit einem Anflug von Bitterkeit zurück. »Die Frauen, die mir nach dem Zeitungsartikel über dich die kalte Schulter gezeigt haben? Sie waren später nur entgegenkommend, weil ich für ihre diversen Aktivitäten von Nutzen war.«
»Das war eine schlimme Zeit«, stimmte Noah zu. »Und es ist ein weiterer guter Grund, hier alle Zelte abzubrechen. Es sei denn, ihr fühlt euch verpflichtet, in der Nähe von Garths und Jimmys Gräbern zu bleiben.«
»Garth hat immer gesagt, so etwas sei sentimentaler Unsinn«, meinte Mog traurig. »Und wenn Jimmy in Frankreich beerdigt worden wäre, könnte Belle sein Grab nicht mal besuchen.«
»Dann hält euch hier nichts mehr. Ich glaube, für die Gastronomie muss man geboren sein, um Erfolg zu haben, ganz zu schweigen davon, was für ein harter Knochen Garth war. Ich schätze, ihr zwei werdet in einer fraulicheren Branche wesentlich glücklicher sein.«
»Ich habe wirklich keine Lust, den Rest meines Lebens täglich das Außenklo zu putzen.« Mog verzog das Gesicht. Einen Moment lang klang sie fast wie die alte Mog.
Noah grinste. »Also, soll ich wegen des Verkaufs schon mal Kontakt zu Immobilienmaklern aufnehmen? Ihr könnt das natürlich auch selbst versuchen, aber wahrscheinlich glauben diese Makler, zwei Frauen leichter über den Tisch ziehen zu können.«
Belle sah Mog fragend an. Die Ältere zögerte nur einen winzigen Moment. »Ja, Noah, es wäre sehr nett, wenn du das in die Hand nehmen würdest. Je eher die Schenke verkauft wird, desto besser.«
Belle stand auf und umarmte Mog. »Das ist sehr tapfer und vernünftig von dir«, sagte sie. »Wir können uns eine kleine Wohnung mieten, bis wir entschieden haben, wohin wir ziehen und was wir machen wollen.«
»Besser früher als später, damit hat Mog recht«, sagte Noah. »Je länger eine Kneipe leer steht, desto weniger attraktiv ist sie für einen potenziellen Käufer. Blackheath ist eine nette Gegend mit guten Zugverbindungen. Ich gehe jede Wette ein, dass es eine sehr beliebte Wohngegend wird, wenn der Krieg vorbei ist.«
»Wann wird das sein?«, fragte Belle. Noah wusste sicher, wie die Dinge tatsächlich standen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr eine der idealisierten Versionen geben würde, die in den Zeitungen gedruckt wurden.
»Noch vor Weihnachten, würde ich meinen«, antwortete er. »Es hat sich totgelaufen, viele Millionen Menschen sind gestorben, und die Deutschen sind genauso demoralisiert wie wir. Die dritte Schlacht bei Ypern, bei der Jimmy verwundet wurde, nennt man jetzt ›Passchendaele‹, nach einem unbedeutenden Dorf, das völlig ausgelöscht wurde und noch immer nicht erobert worden ist. Ich würde mir wünschen, dass die ganze Sache als das ›Grauen von Passchendaele‹ bekannt wird, und wenn es nach mir ginge, würde ich General Haig öffentlich dafür auspeitschen lassen, dass er junge Männer aus Großbritannien und dem Commonwealth in die Schlacht geschickt hat, damit sie in Stücke gerissen werden oder im Schlamm ertrinken. Es war und ist immer noch ein sinnloses, barbarisches Opfer.«
»Du warst dort?«, fragte Belle. Die Inbrunst seiner Worte wies darauf hin.
»Ja, ich stand zwischen ausgebrannten Panzern, toten Männern, Pferden und Maultieren auf der Straße nach Menin und beobachtete das unablässige, grauenhafte Trommelfeuer. Wo die Granaten einschlugen, schleuderten sie den Schlamm wie Geysire hundert Meter in die Luft und mit ihm die Leichenteile. Ich sah Tausende Männer unter der Last ihrer Ausrüstung halb zusammenbrechen und wie Ameisen kriechen. Sie versuchten trotz des schweren Beschusses, durch den Schlamm zu laufen, und hielten tapfer ihre Gewehre aus dem Wasser, auch wenn sie schon am Ende waren. Manchmal waren vier Männer nötig, um einen Verwundeten auf der Trage hundert Meter weit zu schleppen, so zäh war der Schlamm. Es gab verwundete Soldaten, die tagelang bis zum Hals im Wasser und mitten unter den Toten lagen, bevor sie gerettet wurden. Und währenddessen saßen die Generäle sicher hinter den Linien, tranken ihren Tee aus feinem Porzellan und planten, noch mehr Männer in den Tod zu schicken.«
Belle vergrub entsetzt ihr Gesicht in den Händen.
»Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem die volle Wahrheit steht, doch die Zeitung wollte ihn nicht drucken.« Noah verzog angewidert den Mund. »Aber wenn der Krieg vorbei ist, werde ich diese Wahrheit in einem Buch veröffentlichen. Es wird Zeugnis für all das Grauen, die Barbarei und die Sinnlosigkeit dieses Kriegs ablegen. Und vielleicht wird es den Witwen, Müttern, Vätern, Brüdern und Schwestern der Soldaten, die das Gleiche wie Jimmy durchgemacht haben, verstehen helfen, wie tapfer diese Männer waren.«
Ein wenig später entschuldigte sich Mog damit, dass sie oben noch etwas zu erledigen habe. Offenbar wollte sie Belle auf taktvolle Weise ermöglichen, sich allein mit Noah zu unterhalten.
»Wie geht es dir wirklich?«, fragte er, sowie Mog außer Hörweite war. »Lisette hat mir erzählt, dass du ihr anvertraut hast, wie schwierig Jimmy nach seiner Heimkehr war.«
»Ich weiß selbst nicht, wie es mir geht. Natürlich bin ich furchtbar traurig. Es erscheint mir einfach nicht richtig, dass Jimmy all das Elend durchmachen musste und verwundet wurde und diese schreckliche Grippe bekommen musste, als er gerade anfing, sich mit seiner Situation abzufinden. Aber ich will ehrlich sein, Noah, er war sehr schwierig, vor allem in der ersten Zeit zu Hause. So viele Launen und Stimmungsschwankungen, und er hat sehr hässliche Dinge zu mir gesagt und wollte mich nicht in seine Nähe lassen. Die Zukunft sah ausgesprochen düster aus. Deshalb bin ich manchmal fast erleichtert, dass es vorbei ist. Aber allein der Gedanke bereitet mir ein schlechtes Gewissen.«
»Ich kann mir vorstellen, wie durcheinander du bist«, sagte Noah begütigend. »An dem Tag, als du Jimmy geheiratet hast, war ich wirklich überzeugt, dass du in Zukunft ein glückliches Leben führen würdest. Du hattest mehr als genug gelitten, und mit Jimmy, Mog und Garth an deiner Seite dachte ich, ich müsste mir nie wieder Sorgen um dich machen. Aber dieser verdammte Krieg! Niemand ist davon unberührt geblieben. Ich glaube, es gibt nicht viele Männer, die das Gleiche erlebt haben wie Jimmy und sich durch alles, was sie mit ansehen mussten, nicht verändert haben. Und dann einen Arm und ein Bein zu verlieren und als Krüppel heimzukehren! Ich habe da draußen entsetzliche Angst gehabt, Belle. Und ich hatte nichts anderes zu tun, als in einem Unterstand Schutz zu suchen und das Geschehen zu beobachten. Der Gestank, der Dreck, der Lärm – es war wie eine Szene aus der Hölle, und dazu panische Angst, weil du nie wissen konntest, ob und wann es dich erwischen würde.«
Er machte eine Pause und sah sie an. »Doch du hast alles Menschenmögliche für ihn getan. Du hast ihn geliebt und für ihn gesorgt. Jetzt ist es an der Zeit, dass du an dich selbst denkst.«
Sie brachte kein Wort heraus, so gerührt war sie über seine Anteilnahme.
»Du bist dünn und blass, Belle. Du musst dir selbst etwas Gutes tun«, fuhr er fort. »Ich habe euch vorgeschlagen, uns zu besuchen. Aber wenn ich euch beide so anschaue, halte ich es für besser, wenn ihr an die See fahrt, um euch zu erholen und neue Energie zu tanken. Und um über eure Zukunft nachzudenken.«
Belle fing wieder an zu weinen, und Noah rückte mit seinem Stuhl näher zu ihr und nahm sie in die Arme.
»Du hast mehr durchgemacht als irgendein Mensch, den ich kenne«, bemerkte er teilnahmsvoll. »Etienne hat einmal gesagt, dass du von Kindheit an von anderen manipuliert worden bist. Und er hatte recht. Aber jetzt wird es Zeit, auszubrechen und selbst zu entscheiden, was du willst. Du bist immer noch eine junge Frau, die ihr ganzes Leben vor sich hat.«
Dass er Etienne erwähnte, ließ ihre Tränen noch stärker fließen. Ihn hatte sie gewollt, doch auch das war ihr nicht vergönnt gewesen.
»Erinnerst du dich, dass ich dir geschrieben habe, dass ein französischer Soldat Jimmy gerettet hat? Also, das war Etienne«, platzte sie heraus.
»Etienne!«, rief Noah. »Wie ist das möglich? Das verstehe ich nicht.«
»Vor einer Weile bekam Jimmy einen Brief von einem Freund aus seinem Regiment. Er schrieb ihm, dass sein Retter ein Sergeant Carrera war. Er erhielt das Croix de Guerre, weil er im Alleingang ein MG-Nest stürmte und den Heldentod starb.«
»Er ist tot?«, keuchte Noah. »Oh nein! Er auch?«
»Ich fürchte, ja. Wegen des Ordens haben sie alle Einzelheiten erfahren.«
Noah runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass es Etienne war, nicht irgendein anderer mit demselben Nachnamen?«
»Jimmys Freund schrieb, es sei ein Mann, den sie schon einmal getroffen hatten, 1916 bei Verdun. Jimmy beschrieb ihn mir und erzählte mir, worüber sie geredet hatten, und da wusste ich, dass es Etienne war. Außerdem ist es so typisch für ihn, einen Befehl zu missachten, um Jimmy in Sicherheit zu bringen. Außerdem hat Jimmy immer behauptet, dass ihn der Mann mit seinem Namen angeredet hatte.«
Noah bekam feuchte Augen. Sie wusste, wie sehr er Etienne geschätzt und bewundert hatte. Und für sie war es eine Erleichterung, mit jemandem über den Mann zu reden, dem er viel bedeutet hatte.
»Hat Jimmy dir denn nicht erzählt, dass er Etienne bei Verdun kennengelernt hatte?«, wunderte sich Noah.
»Nein, er kannte den Namen des französischen Sergeanten nicht. Aber offensichtlich kannte Etienne seinen. Jimmy sagte, dass er ihn gefragt hat, wo er in London lebt und so.«
»Etienne hat sich nie in die Karten blicken lassen. Am Anfang des Krieges habe ich ein paar Briefe von ihm bekommen«, sagte Noah. »Ich war erstaunt, dass er Verdun überlebt hatte. Dort sind nicht viele Franzosen mit dem Leben davongekommen. Wir reden die ganze Zeit über die Verluste auf britischer Seite, doch die der Franzosen sind noch höher. Ein Viertel ihrer Armee wurde ausgelöscht. Aber ich dachte, Etienne wäre unverwundbar. Ist natürlich Unsinn, kein Mensch ist das.«
»Ich habe es auch geglaubt, Noah«, sagte sie und legte eine Hand auf seinen Arm. »Schau, ich habe es Jimmy oder Mog nie gestanden, doch ich habe Etienne in Frankreich gesehen. Er hat mich im Lazarett besucht.«
Sie berichtete kurz, wie es dazu gekommen war. »Er hat mir erzählt, dass er dich als nächsten Angehörigen angeben wollte. Es könnte ihm natürlich entfallen sein, aber werden Soldaten vor einer großen Schlacht nicht daran erinnert?«
»Ja. Auch wenn sie nicht mehr besitzen als eine Uhr oder ein Paar überzählige Socken, ermahnt ihr Vorgesetzter sie, alles genau aufzuschreiben. Falls Etienne der Aufforderung gefolgt ist, hätte ich über seinen Tod informiert werden müssen.«
Belle überlegte kurz. »Na ja, wahrscheinlich sind die Franzosen nicht so gut organisiert wie wir. Bei so vielen Todesfällen muss es schwer sein, auf dem Laufenden zu bleiben. Und vielleicht ist die Information nicht an jemanden weitergegeben worden, der Englisch sprach.«
Noah nickte. »Ja, das könnte die Sache verzögern. In seinem letzten Brief – das war im April, glaube ich – hat er geschrieben, er hoffe, dass ich ihn nach dem Krieg mit Lisette und den Kindern in Marseille besuchen komme. Er wollte uns seinen Hof zeigen. Eigentlich konnte ich ihn mir nie mit Hühnern und Schweinen vorstellen. Aber Etienne steckte immer voller Überraschungen. Warum hat er bloß mich als nächsten Angehörigen angegeben? Er wollte mir doch nicht etwa seinen Hof vermachen? Schließlich wusste er, dass ich keinen Schimmer von Ackerbau und Viehzucht habe.«
Belle schwieg einen Moment nachdenklich. Sollte Noah tatsächlich verständigt werden, würde er sich noch mehr darüber wundern, dass sie Etienne beerben sollte.
»Ich glaube, er hatte vor, alles mir zu vermachen«, sagte sie.
Noah starrte sie einen Moment an und runzelte die Stirn. »Warum sollte er das tun, Belle? Hätte Jimmy das nicht eigenartig gefunden? Oder sogar verdächtig?«
»Ja, wahrscheinlich.« Belle spürte, wie ihr unter Noahs forschendem Blick heiß wurde. »Aber Etienne hat gemeint, dass du der Einzige bist, dem er in dieser Sache vertrauen kann, und Jimmy bestimmt erklären könntest, dass daran nichts seltsam oder befremdlich ist, weil er doch in Paris mein Freund und Retter war.«
»Etienne hat vielleicht so gedacht, aber ich glaube kaum, dass Jimmy seiner Meinung gewesen wäre«, wandte Noah versonnen ein. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst es nicht befremdlich finden würde. Immerhin erinnere ich mich noch ganz gut, was du damals, als wir Paris verließen, für Etienne empfunden hast. Und ich hatte den Verdacht, dass deine Gefühle durchaus erwidert wurden. Wie war es denn, als du ihm in Frankreich wieder begegnet bist?«
Belle hatte vergessen, was für ein gutes Gespür Noah hatte, und Jahre im Journalismus hatten seine Instinkte verfeinert.
»Du hast dich wieder in ihn verliebt.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und Belle konnte es nicht leugnen. »Ja«, bekannte sie kleinlaut. »Gott steh mir bei, das habe ich!«
Nur das Ticken der Uhr in der Diele unterbrach die Stille.
»Du hast daran gedacht, Jimmy zu verlassen?«
»Nein! Na ja, vielleicht habe ich eine Weile überlegt, ob ich es könnte. Ich war damals völlig am Ende, meine beste Freundin war ums Leben gekommen, und ich war sehr unglücklich. Und ich glaube, ich habe mich von Etienne mitreißen lassen, als er meinte, wir würden auf die eine oder andere Art irgendwie zusammenkommen. Doch dann musste er wieder an die Front, und Jimmy wurde verwundet, und ich kehrte mit ihm nach England zurück.«
»Du musst ganz schön durcheinander gewesen sein«, sagte er so mitfühlend, dass sie das Gefühl hatte, ihm gestehen zu können, wie schlimm es für sie gewesen war.
»Ja. Ich kann es nicht einmal annähernd beschreiben«, seufzte sie. »Noch am selben Abend, als ich erfuhr, dass Jimmy verwundet worden war, schrieb ich Etienne, dass er nie wieder Verbindung zu mir aufnehmen dürfe. Er antwortete, er könne das verstehen, und wünschte Jimmy und mir alles Gute. Natürlich weiß ich jetzt, dass er seinem Entschluss treu geblieben ist, weil er tot ist. Aber ich wurde ständig von Schuldgefühlen gequält. Manchmal dachte ich sogar, dass Jimmys Verwundung eine Art Strafe für mich war. Ich habe mich wirklich verzweifelt bemüht, nicht mehr an Etienne zu denken. Doch als Jimmy so kalt und abweisend war, fiel es mir sehr schwer.«
Noah saß eine Weile tief in Gedanken versunken da. Schließlich zündete er sich eine Zigarette an, und Belle, die sich fragte, was ihm durch den Kopf ging, sah ihn nervös an.
»Das Erstaunlichste daran ist, dass er Jimmy gerettet hat!«, brach es plötzlich aus Noah hervor. »Wenn er ihn seinem Schicksal überlassen hätte, wäre der Weg zu dir frei gewesen. Andererseits hatte er stets seinen eigenen Ehrenkodex, und ich weiß, dass ich ihn gern in der Nähe hätte, wenn ich in der Klemme wäre. Hast du Mog etwas davon erzählt?«
»Nein, wie konnte ich? Als ich nach Hause kam, war ich versucht, Lisette zu besuchen und ihr mein Herz auszuschütten. Ich habe mich so elend gefühlt, mich so geschämt für das, was ich getan hatte, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich verstehen würde. Aber ich konnte es nicht. Ich hielt es für besser, mir Etienne aus dem Kopf zu schlagen und mich darauf zu konzentrieren, mein Leben mit Jimmy wieder aufzubauen.«
»Also hast du deine Gefühle für dich behalten, als du von Etiennes Tod gehört hast? Das muss sehr schwer gewesen sein, vor allem wenn Jimmy so schwierig war.«
»Ja«, gab sie zu. »Es war furchtbar schwer. Doch jetzt ist alles vorbei, beide sind tot, Jimmy und Etienne. Und ich muss mein Leben in die Hand nehmen und von vorn anfangen.«
Sie hörten Mog die Treppe herunterkommen, und Noah wechselte das Thema, indem er auf seinen Vorschlag zurückkam, dass die beiden für eine Weile verreisen sollten.
»Das wäre schön!« Mogs Gesicht erhellte sich. »Wir könnten nach Brighton fahren. Da wollte ich immer schon mal hin.«
Noah blieb noch ungefähr eine Stunde, und bevor er aufbrach, fragte er Mog, ob er sich gleich darum kümmern sollte, einen Käufer für das Railway Inn zu finden. Mog schien über diese Frage gründlich nachgedacht zu haben, als sie oben gewesen war, denn sie sagte sofort Ja.
»Hast du Garths Testament?«, erkundigte er sich.
Mog bejahte. »Möchtest du es sehen? Bis auf etwas Geld für Jimmy und Belle hat er alles mir hinterlassen.«
»Dann musst du damit zu seinem Notar gehen«, erklärte Noah. »Das Testament muss erst notariell beglaubigt werden, bevor du das Recht hast, das Gasthaus zu verkaufen. Doch das wird dir der Notar alles erklären. Wie sieht’s aus, braucht ihr Geld, um erst mal über die Runden zu kommen?«
»Nein, wir kommen zurecht«, sagte Mog. »Garth hatte immer Bargeld im Haus. Er hatte kein großes Vertrauen zu Banken.«
»Na ja, falls ihr mehr braucht, gebt mir Bescheid!« Noah war schon im Begriff zu gehen, als ihm noch etwas einfiel. »Belle, hast du deine Mutter in letzter Zeit gesehen?«
»Nein, sie hat nicht einmal geantwortet, als ich ihr von Jimmys schwerer Verwundung schrieb. Zu Weihnachten kam eine Schachtel Pralinen von ihr, aber es war nicht einmal eine Karte dabei. Im Februar bekam ich dann einen denkbar kurzen Brief, in dem sie mich fragte, warum ich sie nie besuchen komme. Ich schrieb zurück, ich müsse mich um einen kriegsversehrten Mann kümmern und hätte keine Zeit, durch London zu kutschieren, um sie zu besuchen. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört. Wir haben ihr nicht einmal mitgeteilt, dass Garth und Jimmy gestorben sind.«
»Ich kann euch nur raten, dabei zu bleiben.« Er lächelte ein bisschen. »Verwandte haben die Gewohnheit, aus ihren Löchern gekrochen zu kommen, wenn jemand stirbt. Und wenn ich mich nicht sehr irre, ist Annie jemand, der nur zu Besuch kommt, wenn er etwas will.«
»Verwandte kann man sich nicht aussuchen, Freunde zum Glück schon«, lachte Belle. »Und du bist für uns immer der beste aller Freunde gewesen, Noah.«
Er gab beiden einen Abschiedskuss und erinnerte sie daran, dass er und Lisette telefonisch zu erreichen waren, falls sie etwas auf dem Herzen hatten. »Ihr seid uns jederzeit willkommen«, versicherte er. »Ich schaue mich hier in der Nähe nach einem Makler um und komme wieder, wenn das Anwesen besichtigt wird«, sagte er beim Gehen. »Bis dahin solltet ihr wegfahren und euch ein bisschen Erholung gönnen.«
Drei Wochen nach Noahs Besuch kehrten Belle und Mog nach zehn Tagen Urlaub in Brighton ins Railway Inn zurück. Der Makler, den Noah gefunden hatte, hatte bereits einen Käufer, der großes Interesse zeigte, an der Hand. Jetzt brauchten sie nur noch die Bestätigung des Notars, dass Mog berechtigt war, den Verkauf zu tätigen.
»Es war schön, eine Weile faul zu sein, aber ich glaube nicht, dass ich dazu schon dauerhaft bereit wäre«, meinte Mog, als sie den Kessel aufsetzte. Sie blickte sich in der Küche um und runzelte die Stirn. »Meine Güte, ist das aber düster hier drinnen! Früher ist es mir nie aufgefallen, doch nach unserem schönen, hellen Zimmer mit Blick aufs Meer würde einem wahrscheinlich alles dunkel vorkommen.«
Belle lächelte. Mog war in Brighton richtig aufgeblüht; sie hatte zwar viel über Garth und Jimmy gesprochen, aber auf eine positive Art, als wäre sie im Begriff, sich mit ihrem Tod abzufinden. Genauso oft hatte sie über die Zukunft gesprochen und war häufig in Teestuben gegangen, um sich kritisch zu den Backwaren zu äußern und über Verbesserungen zu reden, die sie vornehmen würde, wenn es ihr Lokal wäre. Außerdem hatten sie beide den Wohnungsmarkt studiert und freundschaftliche Auseinandersetzungen darüber geführt, wo sie gern wohnen würden. Mog bevorzugte das Land, während Belle das Gefühl hatte, eine kleine Marktstadt würde ihnen eher entsprechen.
Auf der Heimfahrt hatte Mog dann plötzlich darüber gesprochen, dass die Schenke und ihre Wohnräume einen Frühjahrsputz nötig hätten, und Belle hatte den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Meinung geändert hatte und doch in Blackheath bleiben wollte. Mog hatte Freude an einem Bummel auf der Promenade in Brighton gehabt, sie hatte den Pier wundervoll gefunden und war gern ins Theater und ins Varieté gegangen, doch es war nicht zu übersehen, dass sie ihre häuslichen Pflichten vermisste. In den letzten Tagen hatte Belle beobachtet, wie sie im Hotel überprüfte, ob Staub auf dem Treppengeländer lag. Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, weil der Türklopfer aus Messing nicht poliert worden war, und mäkelte über das Abendessen. Aber ihre Bemerkung über die dunkle Küche legte nahe, dass sie ihre häuslichen Pflichten noch viel lieber irgendwo anders wahrnehmen würde.
»Dann sollte unser neues Heim unbedingt hell und freundlich sein«, sagte Belle.
Mog legte den Kopf schräg, sodass sie wie ein kleiner Vogel aussah. »Du kannst es kaum erwarten, von Blackheath wegzukommen, stimmt’s?«
Belle beschloss, ganz aufrichtig zu sein. »Stimmt«, gab sie zu. »Alles was ich hier fühle, ist Trauer. Und ich glaube, ich finde erst heraus, wenn wir diese Tür endgültig hinter uns geschlossen haben.«
»Jimmy hat es dir sehr schwer gemacht, ich weiß.« Mog seufzte. »Ich habe ein paar Mal versucht, mit ihm darüber zu reden, doch er wollte nicht auf mich hören. Du hast recht, es ist besser, wenn wir weiterziehen und versuchen, uns nur an die guten Zeiten zu erinnern, die wir hier hatten, nicht an die traurigen.«
Belle legte ihre Arme um Mog und drückte sie an sich. Worte waren überflüssig. Wie immer war Mog zuverlässig, warmherzig und verständnisvoll. Und sie wussten beide, solange sie zusammenblieben, konnten sie überall glücklich werden.
»Gehst du vielleicht mal die Post durch?«, bat Mog sie ein wenig später und zeigte auf den Stapel Briefe, den sie beim Hereinkommen aufgehoben und auf den Tisch gelegt hatte. »Ich koche uns Tee und fertige eine Liste der Lebensmittel an, die wir brauchen.«
Belle sortierte die Briefe: Kondolenzschreiben für Mog und sie von Leuten, die erst vor Kurzem von den beiden Todesfällen erfahren hatten, einige Rechnungen und sehr viele Prospekte, die für alles Mögliche warben, was man in einem Gasthaus brauchen konnte, von Stühlen und Tischen bis zu Gläsern und neuen Biersorten. Darunter fand sich auch ein Brief von Vera.
Belle hatte ihrer Freundin von Brighton aus geschrieben und ihr von Garths und Jimmys Tod erzählt. Aber anscheinend hatten sich ihre Briefe gekreuzt, weil Vera berichtete, nach Neuseeland zurückzuwollen.
Mir reicht’s, las Belle. Ich bin total erledigt, ich habe Furunkel am Hals, ich sehe aus wie eine alte Frau, und ich kann all das Elend um mich herum nicht länger ertragen. Die Männer sterben wie die Fliegen an der Spanischen Grippe. Das Lazarett ist mehrmals beschossen worden, und nachts ohne Licht zu fahren ist ein Albtraum. Ich habe meinen Teil geleistet, jetzt möchte ich meine Eltern wiedersehen, einen klaren blauen Himmel betrachten und keine Pflichten mehr haben. Das klingt so selbstsüchtig! Ist es wahrscheinlich auch. Wie auch immer, wenn du diesen Brief bekommst, bin ich schon unterwegs nach England. Mir bleiben nur drei, vier Tage, bevor ich in Southampton an Bord gehe, und ich habe vor, direkt nach London zu fahren. Ich hoffe sehr, dass ich bei euch wohnen kann, aber falls das nicht möglich ist, suche ich mir irgendwo in der Nähe ein billiges Hotel. Macht euch meinetwegen bloß keine Umstände! Dich zu sehen ist die beste Medizin, die es für mich gibt. Ich hoffe, du freust dich auch auf ein Wiedersehen.
Alles Liebe,
deine Vera
Belle juchzte vor Freude. Veras Brief war vor einer Woche datiert worden, es war also durchaus möglich, dass sie morgen schon bei ihnen erschien.
»Gute Neuigkeiten?«, fragte Mog.
»Ja! Vera macht in England Station, bevor sie nach Neuseeland zurückfährt. Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen!«
Mog lächelte liebevoll. »Das freut mich. Eine alte Freundin, die dich zum Lachen bringt und daran erinnert, wie jung du noch bist, ist genau das, was du jetzt brauchst.«