KAPITEL 6

Belle wachte von einem stechenden Schmerz auf. Das war nichts Ungewöhnliches – in den zwei Tagen seit dem Überfall wurde sie fast ständig wach, weil ihr etwas wehtat. Aber dieser Schmerz war anders. Er kam nicht von ihren Rippen oder ihrer Schulter, sondern konzentrierte sich auf Unterleib und Rücken.

Es war dunkel, und sie konnte neben den Rändern der Vorhänge den schwachen Lichtschein von den Gaslaternen auf der Straße sehen. Doch die Medizin, die Mog ihr gegeben hatte, machte sie benommen, und als die Schmerzen nachließen, schlief sie wieder ein.

Eine Weile später wurde sie erneut von einem heftigen Schmerz wach. Sie wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, vielleicht eine Stunde, vielleicht nur Minuten, aber dieses Mal war er noch stärker, so schlimm, dass sie einen Schrei ausstieß. Der Schmerz schien sich zu steigern, einen Gipfel zu erreichen und dann allmählich abzuebben, und als er völlig verging, wusste sie, was los war.

Das Baby kam.

Auf dem Rücken liegend, legte sie die Hände auf die Wölbung ihres Bauches und weinte. Ein Baby, das noch keine sechs Monate alt war, war nicht lebensfähig.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Miranda vor sich, wie sie im Hinterzimmer des Ladens auf den Kissen lag und genauso aussah, wie sie selbst sich jetzt fühlte. Wollte Gott sie dafür strafen, dass sie Miranda geholfen hatte? Wenn es so war, musste er ein grausamer Gott sein, denn sie hatte weder die Abtreibung vorgenommen noch Miranda in diesem Entschluss unterstützt, sondern nur als Pflegerin agiert. Jimmy und sie hatten sich dieses Baby so sehr gewünscht! Es wäre zärtlich umsorgt und geliebt worden, weil sie beide ihrem Kind all das geben wollten, was sie selbst entbehrt hatten.

Oder war es die Strafe für ihr früheres Leben als Hure?

Wieder kam eine Wehe, und sie klammerte sich an die Matratze, als eine Woge von Schmerz sie überschwemmte. Sosehr Belle sich auch bemühte, keinen Laut von sich zu geben, sie schaffte es einfach nicht. Noch nie im Leben hatte sie so schlimme Schmerzen gelitten.

Die Tür ging auf, und Mog kam mit einer Kerze in der Hand herein. »Was ist denn, mein Lämmchen?«, fragte sie.

»Das Baby kommt«, keuchte Belle. »Hilf mir!«

»Grundgütiger!«, stammelte Mog, während sie zum Bett lief und die Kerze abstellte. »Wie lange hast du schon Wehen?«

Der Schmerz ließ lange genug nach, dass Belle es ihr sagen konnte, und während Mog zuhörte, zündete sie das Gaslicht an der Wand an, nahm ein sauberes Laken aus einer Truhe und schob es unter Belle.

»Ich gehe Garth wecken, damit er den Doktor holen kann«, sagte sie, trotz dieser Krise gefasst. »Dann ziehe ich mich schnell an und komme gleich wieder. Halt durch, es dauert nicht lange!«

Belle nahm vage wahr, dass Garth draußen auf dem Treppenabsatz mit Mog sprach, und hörte seine schweren Schritte auf den Stufen und das Zuschlagen der Haustür. Kurz darauf kam Mog mit einem Krug heißem Wasser und ein paar Handtüchern zu ihr.

»Ich könnte diesen Bastard, der dir das angetan hat, eigenhändig aufknüpfen«, sagte sie, während sie Belles Gesicht und Hände mit einem Flanelllappen wusch. »Aber im Moment müssen wir zusehen, dass wir das gemeinsam durchstehen.«

Die Wehen, eine stärker als die vorhergehende, kamen und gingen in immer kürzeren Abständen. Mog hielt Belles Hand, tupfte ihr das Gesicht mit kaltem Wasser ab und versicherte ihr, dass der Doktor bald da sein würde.

Belle konnte nichts erwidern, weil sie sich zwischen den einzelnen Wehen für die nächste wappnete, und wenn sie kam, dann war es eine einzige grauenhafte Tortur, an der Belle zu sterben glaubte.

Dr. Towle traf ein, als das Baby gerade aus ihr herausglitt. Belle sah, wie Mog ihr Gesicht in den Händen verbarg, als der Arzt die Bettdecke zurückschlug, und obwohl Belle nicht sehen konnte, was Mog sah, spürte sie etwas Warmes, Glitschiges zwischen ihren Beinen, gefolgt von Flüssigkeit.

Von da an wurde alles vage und verschwommen. Das Nächste, was sie mitbekam, war, dass der Arzt mit seinem Stethoskop ihr Herz abhorchte.

»Es tut mir so leid, Mrs. Reilly«, sagte er. »Ich hatte so sehr gehofft, dass die Verletzungen, die Ihnen beigebracht wurden, nicht zu einer Fehlgeburt führen würden, doch in diesen Dingen sind uns leider die Hände gebunden.«

Sie musste nicht fragen, ob das Baby tot war; es hatte keine Chance gehabt. »War es ein Junge oder ein Mädchen?«, brachte sie heraus.

»Ein Mädchen, aber viel zu klein, um zu atmen«, antwortete er mit brüchiger Stimme.

Jimmy hatte auf ein Mädchen gehofft; er hatte es Florence nennen wollen. Tränen strömten unaufhaltsam über Belles Gesicht. Sie fühlte sich, als wäre ihr alles genommen worden.

»Mrs. Franklin und ich werden Sie jetzt reinigen, und dann bekommen Sie etwas, damit Sie ein bisschen schlafen können«, sagte der Arzt und fühlte ihren Puls. »Ich wünschte, es läge in meiner Macht, auch etwas gegen Ihren Kummer zu unternehmen, doch ich fürchte, diesen Verlust kann nur die Zeit heilen.«

Belle spürte, wie neuerlich ein Schwall Blut aus ihr herausströmte, und schloss die Augen, um nicht das Entsetzen auf Mogs gütigem Gesicht zu sehen.

Es war zehn Uhr morgens, als Mog Dr. Towle nach unten begleitete, um ihn zur Tür zu bringen. Beide taumelten vor Erschöpfung. Mogs weiße Schürze war mit Blutflecken übersät, und der Doktor war weit entfernt von seinem üblichen untadeligen Aussehen, da er dunkle Bartstoppeln auf dem Kinn und rot geränderte Augen hatte.

Der Himmel war tiefgrau, und es war sehr kalt. Sie konnten hören, wie Garth Fässer in den Keller schleppte, weil er die Tür offen gelassen hatte.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte Mog ängstlich. Belle hatte ungeheuer viel Blut verloren, und einmal hatte es fast so ausgesehen, als würden sie sie verlieren. Aber der Arzt hatte sie fest mit Gaze verbunden, und alles Weitere lag in Gottes Hand.

»Sie ist jung und stark«, sagte Dr. Towle mit einem tiefen Seufzer, als kostete es ihn Mühe, etwas Positives zu äußern. »Wenn sie die nächsten vierundzwanzig Stunden ohne weitere Blutung übersteht und es zu keiner Infektion kommt, denke ich, dass sie sich vollständig erholen wird. Ich werde veranlassen, dass eine Krankenschwester kommt, um sie zu pflegen. Sie leisten Großartiges, Mrs. Franklin, doch Sie sind erschöpft, und Belle braucht spezielle Pflege.«

Mog nickte. »Was immer am besten für sie ist. Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren.«

»Sind Sie Ihre Tante?«, fragte er und sah sie neugierig an. Er wusste, dass Mr. Franklin Jimmy Reillys Onkel war, aber er hatte die tiefe Liebe dieser Frau zu seiner Patientin gespürt, die weit stärker zu sein schien, als man es von einer angeheirateten Verwandten erwarten konnte.

»Ich war die Haushälterin ihrer Mutter«, antwortete Mog. »Doch ich habe mich um Belle gekümmert, seit sie zur Welt kam.«

»Verstehe.« Er nickte. »Nun, Sie haben Ihre Sache gut gemacht – sie ist eine bezaubernde junge Frau und noch dazu eine sehr begabte Modistin, wie ich von meiner Frau weiß. Ein Jammer, dass ihr Mann seit Kurzem in Frankreich ist! Ich bin überzeugt, dass seine Anwesenheit ihr sehr guttun würde.«

»Sollen wir versuchen, ihn kommen zu lassen?«, fragte Mog. »Belle wollte nicht, dass er etwas von dem Überfall erfährt, weil er sich nicht um sie ängstigen soll, und ich nehme an, dass sie jetzt dasselbe sagen wird.«

»Ja, aber nach allem, was ich über Jimmy Reilly gehört habe, würde ich meinen, dass er der Typ Mann ist, der gern hier wäre, um seiner Frau beizustehen. Natürlich wird es eine Weile dauern, mit ihm Verbindung aufzunehmen und ihn herkommen zu lassen, doch ich halte es für äußerst ratsam.«

»Aber wie, Herr Doktor?«, fragte Mog und rang nervös die Hände. »Ich weiß nicht, wie wir das anstellen sollen.«

»Sagen Sie mir nur, in welchem Regiment er dient, und überlassen Sie alles Übrige mir! Ich habe ein wenig Einfluss, den ich nutzen kann, um ihn zurückzuholen.«

Nachdem er Mog erklärt hatte, was bei Belle zu tun war, bis die Pflegerin eintraf, und sich alle Informationen über Jimmy notiert hatte, verließ Dr. Towle mit dem Versprechen, am Abend wiederzukommen, das Haus.

Garth kam in die Küche, als Mog gerade die beschmutzte Bettwäsche zum Einweichen in den Waschzuber gab. Als er über ihre Schulter schaute und sah, wie sich das kalte Wasser rot verfärbte, wurde er blass.

»Wird sie es schaffen?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht.« Mog drehte sich zu ihrem Mann um und brach in Tränen aus.

Sie hatte gehört, wie er in dieser Nacht unruhig vor Belles Zimmer auf und ab gelaufen war. Zu wissen, dass er genauso viel Angst ausstand wie sie, hatte ihr geholfen.

Garth schloss sie in die Arme und hielt sie fest. »Das Schicksal kann nicht so grausam sein, sie uns jetzt zu nehmen, nicht nach allem, was sie durchgemacht hat, und bei allem, was sie Jimmy und uns bedeutet«, sagte er mit bebender Stimme.

»Ich muss wieder zu ihr.« Mog richtete sich auf und wischte sich die Augen an ihrem Ärmel ab. »Bringst du Kohlen nach oben, damit ich in ihrem Zimmer ein Feuer entfachen kann? Es hat stark abgekühlt, und wir können der Krankenschwester doch nicht zumuten, in einem kalten Zimmer zu sitzen.«

»Denkst du eigentlich nie an dich selbst?«, fragte er liebevoll und berührte zärtlich ihre Wange. »Du hast heute Nacht höchstens zwei Stunden geschlafen und siehst völlig erledigt aus.«

»Wenn sie auf dem Weg der Genesung ist, geht es mir gleich wieder besser«, versicherte Mog.

Er umarmte sie erneut und streichelte ihr über das Haar. »Dann geh jetzt nach oben! Ich bringe dir einen Tee und zünde euch ein Feuer im Zimmer an.«

Am selben Abend um acht Uhr saß Mog in dem Lehnsessel in Belles Zimmer und starrte in die flackernden Flammen des Feuers.

Dr. Towle war vor einer Stunde da gewesen, um Belle frisch zu verbinden, und hatte sich erfreut gezeigt, dass sie keinen weiteren schweren Blutverlust erlitten hatte und ihr Puls kräftiger schlug. Deshalb schickte er Schwester Smethwick mit der Bitte nach Hause, am nächsten Morgen wiederzukommen, um Mog zu unterstützen. Er hatte außerdem erwähnt, dass es ihm gelungen war, eine Nachricht an den Oberkommandierenden in Etaples zu übermitteln, und Jimmy seiner Meinung nach mit dem nächsten Schiff nach Dover zurückkehren würde.

Mog konnte unten auf der Straße Karren, Kutschen und gelegentlich ein Automobil hören. Leute gingen mit klappernden Absätzen vorbei, aber in der Schenke war es viel ruhiger als sonst. Wahrscheinlich hatte Garth die Kunden gebeten, Belles wegen nicht so viel Lärm zu machen. Es war ein langer, aufreibender Tag gewesen. Schwester Smethwick schien zwar eine gute Pflegerin zu sein, war jedoch eine der herrschsüchtigsten Frauen, die Mog jemals kennengelernt hatte. Das Erste, was sie von Mog verlangte, war, all den »Firlefanz«, wie sie es nannte, aus dem Schlafzimmer zu entfernen, womit Zierkissen, Spitzendeckchen, der Hutständer, auf dem sich sechs hübsche Hüte befanden, und unzählige Schals und die gerüschte Tagesdecke gemeint waren. Mog wies darauf hin, dass es für Belle ein Schock wäre, sich in einem Zimmer wiederzufinden, das all der Dinge, an denen sie hing, beraubt war, aber die Krankenschwester behauptete, es wären Brutstätten für Keime. Und so ging es den ganzen Tag weiter. Mog wurde befohlen, mal dieses, mal jenes zu erledigen. Nicht ein einziges Mal kam diese Person auf die Idee, ihr vorzuschlagen, sich ein Weilchen hinzulegen, obwohl Mog sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Sie trug Mog auf, Leber einzukaufen, die in Milch gedünstet und Belle serviert werden sollte, wenn sie wieder in der Lage war, Nahrung zu sich zu nehmen, und zwar, um ihr Blut zu kräftigen. Mog machte Schwester Smethwick darauf aufmerksam, dass Belle Leber verabscheute und ihrer Meinung nach ein Glas Guinness dieselbe Wirkung hätte, nur auf weit angenehmere Art.

»Alkohol für eine Kranke?«, gab Schwester Smethwick zurück. »Sonst noch was!«

Mog wich jeder weiteren Konfrontation aus, beschloss jedoch, Belle am nächsten Tag ein Guinness, eines ihrer Lieblingsgetränke, zu bringen, falls ihr danach zumute war.

Sie hatte beabsichtigt, vor dem Feuer ein bisschen zu dösen, aber nun, da sie Gelegenheit zum Ausruhen hatte, bekam sie kein Auge zu. Sie stand auf und trat ans Bett, um nach Belle zu sehen. Im Licht des Feuers und der einzelnen Kerze auf dem Nachttisch konnte sie nicht erkennen, ob Belle schon wieder ein bisschen Farbe hatte, doch immerhin schlief sie friedlich. Ihr dunkles Haar hing ihr in wirren Strähnen herunter, und ihre Lippen waren gesprungen, aber in Mogs Augen war sie immer noch eine Schönheit. Sie erinnerte sich, wie sie Belle gepflegt hatte, als sie im Alter von fünf Jahren an Masern erkrankt war, an denen bereits viele Kinder gestorben waren. In der ständigen Angst, Belle zu verlieren, hatte Mog zwei Wochen lang in dem verdunkelten Zimmer bei ihr gewacht und sie immer wieder mit kaltem Wasser abgewaschen, um das Fieber zu senken. Annie kam nur bis zur Tür, wenn sie sich erkundigen wollte, wie es ihrer Tochter ging. Sie behauptete, nicht riskieren zu wollen, die Krankheit zu übertragen, doch Annie hatte immer Entschuldigungen für ihre nicht vorhandenen mütterlichen Instinkte gefunden.

Ich sollte ihr ein Telegramm schicken, dachte Mog schuldbewusst, weil ihr nicht in den Sinn gekommen war, Annie gleich nach dem Überfall zu verständigen und auf das, was heute passiert war, vorzubereiten.

Mogs Beziehung zu Annie war seit der Zeit, als nach Belles Entführung das Bordell abgebrannt war, stark abgekühlt. Als Belle zwei Jahre später aus Frankreich zurückkehrte, hatten Garth und sie ihr zuliebe wieder Kontakt zu Annie aufgenommen, und Mog hatte sie zu ihrer Hochzeit eingeladen. Sie war auch bei Belles Trauung dabei gewesen und hatte bei den Vorbereitungen geholfen, aber im Grunde verband sie nur noch ihre gemeinsame Vergangenheit. Mog fragte sich oft, ob man in ihrem Fall überhaupt von Freundschaft sprechen konnte. Im Nachhinein betrachtet, schien es weit eher die Beziehung zwischen Herrin und Dienstmädchen gewesen zu sein.

Doch obwohl Annie knallhart war und nicht zu Gefühlsduselei neigte, wusste Mog, dass sie ihre Tochter liebte. Belle hatte ihr von ihrer Schwangerschaft erzählt, und da hatte Annie gesagt, sie hoffe, als Großmutter ihre Sache besser zu machen als als Mutter.

Eine Träne lief über Mogs Wange. Als Belle schwanger geworden war, war sie selbst so begeistert und aufgeregt gewesen, dass sie ihre eigenen Hoffnungen auf ein Baby völlig vergessen hatte. Sie hatte bereits zwei kleine Jäckchen gestrickt und mehrere winzige Nachthemden genäht und gerade mit einem Schal anfangen wollen.

Auf die Kleidungsstücke kam es nicht an; sie konnte sie einer anderen jungen Mutter schenken. Was wirklich wehtat, war, dass all die netten, kleinen Tagträume jetzt zerstört waren. Nie würde sie das Baby im Kinderwagen auf der Heide ausführen. Es würde keine Familienferien am Meer geben, sie würde keine Weihnachtsstrümpfe füllen und kein kleines Mädchen, keinen kleinen Jungen je zur Schule bringen. Dr. Towle hatte ihr gesagt, dass es seiner Meinung nach nicht ratsam wäre, wenn Belle versuchte, erneut schwanger zu werden, weil die Möglichkeit bestand, dass sie sich innere Verletzungen zugezogen hatte und wieder eine Fehlgeburt erleiden könnte.

Jimmy würde am Boden zerstört sein, denn er wünschte sich mindestens vier Kinder, wie er Mog einmal anvertraut hatte. Natürlich würde er Belle um nichts weniger lieben, doch er würde den Wunsch haben, seinen Zorn an dem Mann auszulassen, der Belle überfallen und niedergeschlagen hatte. Das gestohlene Geld und der Schaden, der im Laden entstanden war, würden ihm egal sein, aber dieser gemeine Verbrecher hatte Belle und Jimmy der kostbarsten Sache im Leben beraubt.

Belle rührte sich und schlug die Augen auf. »Warum stehst du da?«, flüsterte sie.

»Um dich anzuschauen, mein Häschen«, sagte Mog und setzte sich auf die Bettkante. »Wie geht es dir?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Liege ich schon lange im Bett?«

Mog nickte. »Eine ganze Weile. Es ist fast zehn Uhr abends. Über vierundzwanzig Stunden, seit es anfing.«

»Und ich habe die ganze Zeit geschlafen?«

Jetzt erkannte Mog, dass Belle gar nicht wusste, wie knapp sie dem Tod entronnen war, weil sie den ganzen Tag kaum bei Bewusstsein gewesen war.

»Ja, meistens«, sagte sie. »Und jetzt kannst du weiterschlafen, aber zuerst bringe ich dir noch etwas zu trinken. Der Doktor meint, du sollst warme Milch mit einem Tropfen Brandy trinken. Ich gehe sie holen.«

Mog kam mit der Milch zurück, die nicht nur einen Schuss Brandy, sondern auch die Medizin enthielt, die Belle helfen sollte, gut zu schlafen. Sie schob einen Arm unter sie und hob sie behutsam an, um ihre verletzte Schulter zu schonen, und hielt ihr den Becher an die Lippen. »Schön austrinken!«, sagte sie wie früher, als Belle ein kleines Mädchen gewesen war. »Dann geht’s dir gleich besser.«

Zu ihrer Freude trank Belle gehorsam den Becher leer. Bisher hatte sie nur kleine Schlucke Wasser zu sich genommen. Als sie fertig war, klopfte Mog die Kissen auf und bettete sie wieder hin.

»Wie soll ich es bloß Jimmy sagen?«, fragte Belle, deren Augen sich mit Tränen füllten.

»Darüber zerbrechen wir uns morgen den Kopf«, antwortete Mog. »Ich bleibe heute Nacht bei dir, falls du etwas brauchst.«

»Komm zu mir ins Bett!« Belle hielt Mogs Hand fest. »Bitte! Ich will nicht, dass du die ganze Nacht im Sessel sitzt. Du musst schrecklich müde sein.«

Mog dachte insgeheim, dass Schwester Smethwick das garantiert nicht billigen würde. Aber Belle und sie hatten früher oft in einem Bett geschlafen, es war so tröstlich in schweren Zeiten. Außerdem, wen kümmerte es, was die Smethwick dachte? Einzig Belles Wünsche waren es, die zählten.

»Wenn du das gern möchtest, mache ich es«, entschied Mog. »Ich laufe nur schnell nach unten, um Garth ›Gute Nacht‹ zu sagen und in mein Nachthemd zu schlüpfen. Schlaf du ruhig!«

Sie beugte sich vor und küsste Belle auf die Stirn. Sie fühlte sich warm, aber nicht fiebrig an. Waren ihre Gebete erhört worden?

Den ganzen nächsten Tag über war Mog angespannt und nervös. Belles Zustand schien stabil zu sein, und sie hatte ein paar Löffel Suppe gegessen, doch das bedeutete nicht, dass sie über den Berg war. Schließlich konnte jederzeit eine Infektion auftreten; daran starben die meisten Frauen in dieser Situation.

Schwester Smethwick mit ihrer Herrschsucht und ihrem überlegenen Getue ging Mog auf die Nerven. Sie hatte unmissverständlich klargemacht, dass Mogs Anwesenheit im Krankenzimmer nicht erwünscht sei, und somit blieb ihr nichts anderes zu tun, als die Hausarbeit zu verrichten und sich Sorgen zu machen.

Mog hatte Annie ein Telegramm geschickt, was hieß, dass sie jeden Moment auftauchen konnte. Das würde die Atmosphäre im Haus nicht gerade entspannen. Garth hatte nicht viel für Belles Mutter übrig, und wenn Annie ihre gewohnte schroffe Art an den Tag legte, würde er bestimmt in Rage geraten. Was Mog sich wirklich wünschte, war, dass Jimmy heimkam. Es würde Belle trösten und Garth zu einem männlichen Verbündeten verhelfen, und Jimmys ruhige Stärke würde sich auch auf sie übertragen.

Dann kam der Telegrafenbote mit einer Antwort von Annie.

Sag Belle, wie leid es mir tut! Bin momentan unabkömmlich. Annie.

»Was könnte dringlicher sein, als ihre kranke Tochter zu besuchen?«, sagte Garth und verzog den Mund, wie er es immer tat, wenn er seine wahren Gefühle für sich behielt.

Wie stets fühlte sich Mog verpflichtet, die Wogen zu glätten. »Vielleicht geht es ihr selbst nicht gut. Sie könnte einen schwierigen Gast haben. Was auch immer.«

»Ich halte es eher für wahrscheinlich, dass sie den Verlust eines Babys für einen Segen hält«, entgegnete Garth böse.

»So etwas darfst du nicht sagen«, gab Mog zurück. »Belle hat mir erzählt, dass Annie sich sehr darauf gefreut hat, Großmutter zu werden.«

»Das Einzige, was dieser Frau Freude macht, ist, Geld zu scheffeln«, sagte Garth und stiefelte davon.

Sowie Schwester Smethwick am Abend das Haus verließ, lief Mog nach oben zu Belle. Sie war wach und sah so aus, als hätte sie geweint.

»Was ist denn, mein Häschen?«, fragte Mog und setzte sich zu ihr aufs Bett.

»Ich wünschte, Jimmy wäre hier«, sagte Belle sehnsüchtig. »Und ich frage mich, wie ich es ihm beibringen soll.«

»Tja, deswegen brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen. Der Doktor hat eine Nachricht an ihn übermitteln lassen und darum gebeten, ihn nach Hause zu schicken. Ich habe dir vorher nichts davon erzählt, weil ich dachte, es wäre eine schöne Überraschung für dich, wenn Jimmy einfach zur Tür hereinkommt.«

»Jemand anders musste es ihm sagen?« Belle machte ein entsetztes Gesicht. »Und warum schickt man ihn deshalb nach Hause? Jetzt glaubt er womöglich, dass ich im Sterben liege!«

Mog schluckte. Sie hätte wissen müssen, dass Belle nur an Jimmys Gefühle denken würde, nicht an ihre eigenen Wünsche.

»Dr. Towle hat ein bisschen Einfluss. Er findet, dass du Jimmy jetzt brauchst.«

»Und findet er auch, dass es nett ist, ihn den weiten Weg machen zu lassen und das Schlimmste zu denken?«

»Ich bin sicher, Dr. Towle hat dem Kommandeur mitgeteilt, dass du auf dem Weg der Besserung bist, mein Häschen. Und ich kenne Jimmy gut genug, um zu wissen, dass er böse auf uns wäre, wenn wir nicht wenigstens versucht hätten, ihn zu verständigen. Es wäre viel grausamer, es ihm in einem Brief mitzuteilen und ihn mit seinen Ängsten allein zu lassen.«

Belle hielt sich eine Hand vor die Augen und schluchzte. »Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Alle unsere Pläne sind gescheitert. Jimmy ist bei der Armee, und ich habe das Baby verloren. Uns ist nichts geblieben.«

»Das ist doch albern«, widersprach Mog streng. »Du und Jimmy, ihr habt immer noch einander, und der Krieg wird nicht ewig dauern. Und wenn es dir wieder gut geht, ist der Laden auch noch da.«

Belle ließ ihre Hand sinken. »Du weißt ganz genau, dass weder Garth noch Jimmy mir erlauben werden, wieder meinen Hutladen zu führen. Ich werde wie jede andere Ehefrau in England zu Hause hocken, ohne eine Chance, mich selbst zu verwirklichen, und einfach nur zusehen, wie die Jahre vergehen, ohne etwas zu haben, auf das ich mich freuen kann, ohne etwas zu leisten.«

Mog protestierte, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte. »Du bist durch den Verlust deines Babys übermüdet und siehst im Augenblick verständlicherweise viel zu schwarz.« Aber sie wusste, dass Belle recht hatte. Garth und Jimmy würden nicht wollen, dass sie weiterhin ihren Laden führte; nach diesem schrecklichen Vorfall würden sie viel zu viel Angst um Belle haben.

Wenn Belle wie jede andere normale wohlerzogene junge Frau gewesen wäre, hätte sie sich nicht gewünscht, mehr als eine geliebte, gut versorgte Ehefrau zu sein. Doch Belle war eben anders; sie hatte keine normale Kindheit gehabt, wo die Mutter den Haushalt führte und der Vater arbeiten ging. In dem Alter, in dem ein junges Mädchen am leichtesten zu beeinflussen war, hatte man sie entführt, und sie hatte auf beiden Seiten des Atlantiks Dinge gelernt, die ihre Unschuld zerstört und Belle gelehrt hatten, von ihrem Verstand zu leben.

Mog wusste, dass Belle Klassenunterschiede hasste, doch gleich vom ersten Tag an, als sie ihren Hutsalon eröffnet hatte, war sie gezwungen gewesen, auf die Launen von Snobs einzugehen, weil sie ohne diesen Kundenstamm nicht überleben könnte. Zu Hause hatte sie gern die Damen nachgeahmt, die in ihr Geschäft kamen, mit hocherhobenen Nasen herumschlenderten und darüber klagten, wie erschöpft sie nach einer Anprobe bei der Schneiderin, einem Lunch mit Freundinnen oder einer Partie Bridge waren.

Mog, Jimmy und Garth hatten sich immer köstlich über Belles kleine Vorführungen amüsiert, weil sie den Stumpfsinn und die Banalität des Lebens dieser Frauen so ausdrucksvoll darstellen konnte. Ihr einziges Ziel schien darin zu bestehen, dafür zu sorgen, dass ihre Töchter eine gute Partie machten und genauso lebten wie sie selbst.

Aber weil Belle eine begabte Modistin war, genoss sie einen Sonderstatus unter diesen Frauen und hatte sich daran gewöhnt, von ihnen geschätzt zu werden. Ihr gefiel vielleicht nicht, was sie repräsentierten, doch es erfüllte sie mit Stolz, mit einem Bein in ihrer Welt zu stehen. Wenn sie ihr Geschäft aufgab, würde man in ihr augenblicklich nur noch die Frau eines Schankwirts sehen, und dieselben Damen, die sie einmal wie eine gute Bekannte behandelt hatten, würden sie fallen lassen.

Belle brauchte Menschen fast genauso sehr wie Kreativität. Wenn sie das Baby bekommen hätte, wäre sie eine gute, liebevolle Mutter gewesen, aber sie hatte zu viel Temperament, Fantasie und Verstand, um sich mit einem Leben abzufinden, das ausschließlich häusliche Aufgaben beinhaltete.

»Es wird eine Weile dauern, bis du dich wieder ein bisschen gefangen hast«, meinte Mog vorsichtig, weil sie sich nicht gegen Garth und Jimmy stellen wollte. »Ruh dich aus, sieh zu, dass es dir besser geht, und sprich mit Jimmy, wenn er hier ist! Er ist sehr verständnisvoll, das weißt du doch. Vielleicht wird er nicht wollen, dass du den Laden weiterführst, doch er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit für den Krieg aufnimmst.«

»Weiße Federn verteilen wie Mirandas Mutter?«, sagte Belle bitter. »Oder vielleicht eurem Strickzirkel beitreten? Kannst du dir wirklich vorstellen, wie ich so etwas mache?«

»Du weißt, was ich von diesen dummen Frauen halte, die weiße Federn verteilen«, gab Mog zurück. »Es gibt andere, nützlichere Tätigkeiten. Warum denkst du nicht mal darüber nach, während du im Bett liegst, statt dich selbst zu bemitleiden?«