KAPITEL 24
Eines Nachmittags im April kam Mog freudig erregt in die Küche gelaufen. »Sie haben mich gefragt, ob ich beim Sommerfest den Kuchenstand übernehmen will«, platzte sie heraus. »Ich fasse es nicht! Mrs. Parsons hat gesagt, dass ich die besten Kuchen im Ort backe und eine Inspiration für die jüngeren Frauen bin.«
Belle bügelte gerade. Obwohl Mogs Triumph angesichts der ernüchternden Nachricht, dass die Deutschen in Frankreich die Linien der Alliierten durchbrochen hatten, kaum ins Gewicht fiel, war es für Mog ein Sieg. Belle stellte das Bügeleisen ab und lief zu ihr, um sie zu umarmen. »Und das stimmt auch«, erklärte sie. »Wenn jemand etwas Gutes verdient hat, dann du.«
Jimmy, der vor dem Ofen saß und Zeitung las, blickte lächelnd auf. »Ich erzähle den Leuten schon seit Jahren, dass deine Kuchen die besten in London sind.«
Mog strahlte noch mehr. »Aber wie komme ich zu den Zutaten, wenn alles rationiert ist?«, fragte sie ängstlich.
»Wahrscheinlich erwarten sie, dass Garth ein paar Hebel in Bewegung setzt«, meinte Jimmy.
Garth kannte einige Schwarzmarkthändler und kam gelegentlich in den Besitz von einem Pfund Schinken, Butter oder Käse, doch Belle fand, dass Jimmys Bemerkung so klang, als wäre Mog diese Ehre nur wegen der guten Beziehungen ihres Mannes zum Schwarzmarkt erwiesen worden.
Bevor er in den Krieg gegangen war, war Jimmy nie zynisch gewesen, jetzt war er es. Gelegentlich blitzte etwas von seiner früheren Warmherzigkeit und seinem Sinn für Humor auf, aber die meiste Zeit war er mürrisch und verdrossen.
»Die Damen vom Festkomitee haben davon keine Ahnung«, widersprach Mog. »Doch vielleicht haben sie selbst etwas in ihren Vorratskammern und können mir aushelfen.«
Belle war versucht, Jimmy auf seinen Schnitzer aufmerksam zu machen, ließ es aber, da Mog es anscheinend nicht als Stichelei empfunden hatte. In mancher Hinsicht hatte er sich in den letzten Monaten zum Positiven verändert. Er redete mehr, und er kümmerte sich um die Buchhaltung. Und er hatte nicht mehr so oft Albträume.
Doch obwohl es Belle traurig stimmte, dass sie den Jimmy von früher nicht zum Leben erwecken konnte, war es ihr wenigstens gelungen, dass Mog wieder ein geachtetes Mitglied der Gemeinde war. Mrs. Forbes-Alton hatte genau das getan, was Belle verlangt hatte. Im Chronicle war eine Entschuldigung erschienen, in der es hieß, dass der Reporter Mr. Blessard böswillig Mrs. Forbes-Altons Kummer über den tragischen Tod ihrer Tochter ausgenutzt und Behauptungen über deren Freundin Mrs. Belle Reilly aufgestellt habe, an denen nichts Wahres war.
Außerdem war zu lesen, dass Jimmy im Kampf ernsthaft verwundet worden sei und die Zeitung es bedauere, das Leid der Familie in einer so schwierigen Zeit vergrößert zu haben. Der Artikel schloss mit dem Satz, dass Mr. Blessard entlassen worden sei.
Der Artikel war kurz und mitten in der Zeitung versteckt, wo er leicht übersehen werden konnte, doch Belle schien Mrs. Forbes-Alton tatsächlich eingeschüchtert zu haben, denn sie sorgte dafür, dass die Geschichte im ganzen Ort herumging, und lud Mog unverzüglich zu mehreren Wohltätigkeitsveranstaltungen ein, die sie selbst organisiert hatte. Eine davon fand in ihrem eigenen Haus statt, und Mog kehrte freudestrahlend von dort zurück, weil sie nicht länger geächtet wurde.
Belle fand, dass sie auf voller Linie gesiegt hatte, aber abgesehen von der Bemerkung, mit Mrs. Forbes-Alton über Miranda gesprochen zu haben, erwähnte sie Mog gegenüber nichts. Einige Wochen nach dem Artikel im Chronicle kam Constable Broadhead auf einen Sprung ins Railway Inn und berichtete, Blessard sei verhaftet worden, weil er in betrunkenem Zustand einen Ziegelstein durch das Fenster der Zeitungsredaktion geschleudert hatte. Blessard hatte behauptet, dass er keine neue Anstellung bekommen und sein Zuhause verloren hatte, weil er die Miete nicht zahlen konnte. Die Polizei habe kein Mitgefühl gezeigt, sondern ihm geraten, sich schleunigst zur Armee zu melden und auf diese Weise seine Probleme zu lösen.
Es bestand kein Zweifel, dass die Armee immer noch Männer brauchte, sogar Schwächlinge wie Blessard. Das wehrfähige Alter wurde auf einundfünfzig heraufgesetzt, und Garth, der soeben diesen kritischen Meilenstein passiert hatte, scherzte, noch nie so gern sein wahres Alter angegeben zu haben. Die Amerikaner waren endlich in großer Zahl in Frankreich gelandet und beteiligten sich an den Kampfhandlungen, und obwohl sie unerfahren waren, gaben sie den Briten neue Hoffnung auf einen möglichen Sieg.
Belle hatte einen Brief von Vera bekommen, in dem stand, dass Etaples bombardiert worden, das Lazarett zum Glück aber verschont worden sei. Doch sie schrieb, andere Lazarette, die näher bei der Front lagen, seien getroffen worden und Stromleitungen zusammengebrochen. Operationen würden nun beim Licht von Öllampen durchgeführt. Es kamen so viele Verwundete herein, dass in einem Zeitraum von vier Tagen zweihundertdreiundsiebzig Eingriffe vorgenommen wurden und Ärzte und Krankenschwestern um acht Uhr morgens mit der Arbeit anfingen und bis zum nächsten Vormittag durchhalten mussten. Da viele amerikanische Ärzte und Schwestern zu den amerikanischen Lazaretten wechselten, war das Personal, das blieb, ständig überlastet. Manchmal gab es nachts auf einer großen Krankenstation nur eine einzige Nachtschwester.
Ende März standen die Deutschen siebzig Kilometer vor Paris. Vera schrieb, dass alle Angst hatten, sie könnten als Nächste das Ziel der gefürchteten Dicken Bertha werden – als wäre es nicht schlimm genug, dass jede Nacht feindliche Jagdbomber über ihren Köpfen flogen.
Nichts von diesen bestürzenden Neuigkeiten stand in den Zeitungen, in denen vor allem über den Roten Baron, Deutschlands berühmtes Fliegerass, der endlich abgeschossen worden war, berichtet wurde. Vielleicht hielt es die Presse für wichtig, die öffentliche Moral mit Jubelmeldungen zu stärken, da die Bevölkerung inzwischen erschöpft und verzweifelt war.
Die Regierung ließ Plakate mit Durchhalteparolen wie »Zähne zusammenbeißen und durch!« aufhängen, und etwas anderes blieb einem auch kaum übrig. Die Menschen hatten Angst vor Zeppelinen und Jagdbombern und mussten dazu noch mit ständig steigenden Preisen, Lebensmittelknappheit, Rationierungen und langen Warteschlangen fertigwerden, um gerade mal einen Laib Brot oder ein halbes Pfund Zucker zu bekommen. In jeder Stadt sah man auf den Straßen Männer mit fehlenden Gliedmaßen, Blinde und Schwerverletzte. Krankenhäuser, Genesungsheime und Sanatorien waren zum Bersten gefüllt, und immer noch wurden jeden Tag neue Verwundete heimgebracht, und der Blutzoll stieg gnadenlos.
»Granatenschock« oder »Schützengrabenschock« waren Begriffe, die man bis zur Schlacht an der Somme nie gehört hatte. Damals galt so etwas noch als eine Ausrede für Feigheit, weil sich dank der Glorifizierung des Krieges durch die Presse kaum jemand eine Vorstellung von den Gräueln an der Front machen konnte. Aber diese Einstellung änderte sich, als die Verwundeten anfingen, über das wahre Gesicht des Krieges zu sprechen. Viele Frauen erlebten, wie ein Ehemann, Bruder oder Sohn, der auf Heimaturlaub war, bei plötzlichen lauten Geräuschen erschrak, von Albträumen gequält wurde oder still und in sich gekehrt war, und allmählich wuchsen Verständnis und Mitgefühl in der Öffentlichkeit.
Doch Mitgefühl allein half denen, die es am schlimmsten getroffen hatte, nicht. Viele würden nie wieder einer Arbeit nachgehen können; manche wurden gewalttätig, andere fingen an zu trinken oder begingen Selbstmord. Noch mehr von ihnen landeten in Nervenanstalten und würden sich nie wieder erholen.
Bei Kriegsbeginn waren die Leute der Meinung gewesen, dass alle Deserteure Feiglinge wären und erschossen werden sollten, aber auch hier schlug die Stimmung um. Zwar wurde Mut nach wie vor bewundert und Feigheit verachtet, doch die große Mehrheit hielt es für falsch, jemanden zu verurteilen, der in einem Moment schierer Panik die Nerven verlor und flüchtete.
Belle erlebte mit, welche Veränderungen der Krieg brachte. Am sechsten Februar erhielten Frauen über dreißig endlich das Wahlrecht, eine Errungenschaft, die Mog begeisterte, von Garth hingegen mit Skepsis aufgenommen wurde. Einige gesellschaftliche Umgangsformen, die sich Belle und Mog nach ihrem Umzug nach Blackheath hatten aneignen müssen, waren praktisch ausgestorben. Klassenunterschiede waren weniger signifikant, weil sich die Menschen in dem Kummer um den Verlust geliebter Angehöriger enger aneinander anschlossen. Damen der Gesellschaft leisteten Seite an Seite mit Mädchen aus der Arbeiterklasse Kriegsarbeit; Offiziere waren oft den Männern, die sie befehligten, Dank schuldig.
Anstandsdamen gehörten der Vergangenheit an. Junge Pärchen nutzten jede Gelegenheit, weil niemand wusste, ob es nicht die letzte war. Frauen waren an den Anforderungen der Kriegsjahre gewachsen und hatten nicht nur typisch männliche Berufe ergriffen, sondern sich in diesen Bereichen noch dazu glänzend bewährt. Niemand staunte mehr über Schaffnerinnen in Straßenbahnen und Bussen, und auch in London gab es mittlerweile viele weibliche Rettungsfahrer. Fabriken, Bauernhöfe, Geschäfte und Büros in ganz England hatten genauso viele weibliche wie männliche Angestellte, und eine Frau konnte sogar in einen Pub gehen, ohne schief angesehen zu werden.
Garth hatte in diesem Punkt endlich sein tief verwurzeltes Vorurteil aufgegeben, wenn auch eher aus wirtschaftlichen Gründen als aus echter Überzeugung. Wenn er einem Soldaten auf Heimaturlaub nicht erlaubte, seine Frau oder Freundin mitzubringen, würde dieser woanders etwas trinken gehen. Er ließ zu, dass Mog an den meisten Abenden und Belle an den Wochenenden in der Schankstube aushalfen, aber nur, weil ihre Arbeit nichts kostete.
Doch die Veränderung, auf die Belle wirklich gehofft hatte, hatte sich an Jimmy nicht vollzogen. Er redete ein bisschen mehr und half Garth bei der Buchhaltung, doch er machte keinerlei Anstalten, sich selbst zu helfen. Ihm wurde eine Beinprothese angepasst, aber ihm fehlte die Ausdauer, das Gehen regelmäßig zu üben. Dr. Towle hatte versucht, ihn zu überreden, wegen seiner anhaltenden Depressionen einen befreundeten Psychiater aufzusuchen, doch Jimmy weigerte sich. Was die körperliche Liebe anging, so hatte es Belle mit jedem Trick, den sie kannte, versucht, um sein Interesse zu wecken, aber Jimmy wollte nichts davon wissen und bezeichnete sie oft als Hure, weil sie es überhaupt probierte. Selbst wenn sie sich nur an ihn kuschelte, verkrampfte er sich, und sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann er sie zum letzten Mal geküsst hatte. Jetzt bemühte sie sich kaum noch, weil es zu verletzend war, immer wieder abgewiesen zu werden.
Es gab viele Nächte, in denen sie wach lag und traurig an den Mann dachte, der es kaum hatte erwarten können, zu ihr ins Schlafzimmer zu kommen. Manchmal hatten sie einander die ganze Nacht lang geliebt, um erst kurz vor Morgengrauen einzuschlafen, und damals hatte er jeden Zentimeter von ihr vergöttert.
Jetzt zog sie sich nie mehr vor ihm aus. Sie hatte es ein paar Mal gemacht und sich anhören müssen, kein Schamgefühl zu besitzen. Sie hatte getobt, doch all das erzeugte eine vergiftete Atmosphäre, die auf dem ganzen Haus lastete. Jimmy wollte nicht darüber reden und weigerte sich, Hilfe anzunehmen, und Belle hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass es immer so bleiben würde.
Beschäftigung war ihre Methode, einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Sie änderte Kleidungsstücke für Nachbarn, fertigte einige Hüte für einen Modesalon in Lewisham an und hatte es übernommen, das Haus und das Lokal sauber zu halten, damit Mog mehr Freizeit hatte. Aber es gab Zeiten, in denen sie der Verzweiflung nahe war. Pärchen zu sehen, die Hand in Hand spazieren gingen, Mütter, die lachend mit ihren kleinen Kindern auf der Heide herumtollten, und Familien, die im Greenwich Park picknickten, erinnerten sie daran, wie alles hätte sein können, wenn Jimmy nicht verwundet worden wäre.
Sie sagte sich, dass sich Tausende anderer Frauen in ihr Schicksal fügten und Jimmy und sie von Glück reden konnten, bei Garth und Mog ein Zuhause zu haben. Aber obwohl sie all die Beschränkungen akzeptieren konnte, die das Leben mit einem Invaliden mit sich brachte, ging es ihr gegen den Strich, wie sehr sich Jimmy in Selbstmitleid suhlte. Und sie hatte Angst, eines Tages unter der Last der Verantwortung zusammenzubrechen.
»Hilfst du mir beim Kuchenstand?«
Mogs Frage holte Belle in die Gegenwart zurück.
»Ja, natürlich«, antwortete sie. Was auch in ihrem Leben schiefgehen mochte, es war eine Wohltat, Mog so glücklich und aufgeräumt zu sehen.
»Ich dachte, du könntest vielleicht ein schöneres Schild für den Stand malen«, sagte Mog. »Mit Kuchen drauf und so, richtig bunt und fröhlich.«
Garth kam mit einem Brief in der Hand in die Küche. »Das hat mir gerade der Bursche aus der Eisenwarenhandlung gebracht«, meinte er und reichte Jimmy den Brief. »War falsch adressiert. Sieht so aus, als käme er aus Frankreich.«
»Ja, das könnte ich machen«, antwortete Belle, doch ihre Aufmerksamkeit richtete sich eher auf Jimmy als auf Mog. Obwohl er davon geredet hatte, seinen Freunden bei der Armee zu schreiben, hatte er dieses Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt. Belle hoffte inständig, dass es keine schlechten Nachrichten waren, die ihn noch mürrischer machen würden.
»Von wem ist er denn, Jimmy?«, erkundigte sich Mog.
»Bin«, sagte Jimmy, als er den Brief aus dem Umschlag zog. »Na ja, eigentlich heißt er Jack Cash, aber wir haben ihn ›Bin‹ genannt, weil er ständig gesagt hat: ›Bin ich schon gewesen‹. Er ist der einzige von meinen Kameraden in Etaples, der überlebt hat.«
Jimmy las den Brief, während Belle und Mog sich leise wegen des Kuchenstandes beratschlagten.
Mog und Belle starrten Jimmy an.
»Was ist denn?«, fragte Belle.
»Er hat etwas über den Franzmann rausgefunden, der mich gerettet hat. Ist anscheinend ein echter Held, der das Croix de Guerre bekommen hat. Das ist so was wie bei uns das Victoria-Kreuz.«
»Für mich war er schon immer ein Held, weil er dich gerettet hat«, lachte Belle. »Aber ich wusste nicht, dass Franzosen dafür Orden verleihen!«
Jimmy lächelte verhalten. »Er hat mir keinen großen Gefallen erwiesen, was? Er hätte mich lieber erschießen und meinem Elend ein Ende bereiten sollen.«
»Wie kannst du so etwas sagen!«, rief Mog entsetzt.
»Eigentlich wäre er vors Kriegsgericht gekommen, weil er seine Männer verlassen hat, um mich zur Frontlinie zurückzuschleppen. Doch Bin schreibt, dass er mich abgeladen und sich gleich wieder ins Getümmel gestürzt hat. Im Alleingang hat er ein MG-Nest gestürmt und wie verrückt herumgeballert, bis er seine Männer gefunden hatte und sie zum Angriff führte. Bin schätzt, dass er damit Dutzende Franzosen gerettet hat, und sie haben über fünfzig Gefangene gemacht.«
»Unglaublich mutig«, gab Belle zu. »Klingt, als hätte er sich seinen Orden redlich verdient.«
»Doch am komischsten ist, dass Bin behauptet, dass wir dem Mann schon mal begegnet sind«, fuhr Jimmy fort. »1916 wurden wir nach Verdun geschickt, um zwei unserer Leute abzuholen, die von den Franzosen aufgegriffen worden waren, als sie – angeblich! – desertieren wollten. Wir blieben bei diesem Estaminet stehen, um nach dem Weg zum Hauptquartier zu fragen, und dieser Typ hat uns geholfen und auf ein Glas Wein eingeladen. Seinen Namen habe ich damals nicht mitbekommen, aber er sprach fließend Englisch, und wir haben uns eine ganze Weile unterhalten. Bin glaubt, dass er mich gerettet hat, weil er mich an meinen roten Haaren wiedererkannt hat.«
»Na, so was!«, murmelte Mog. »Ist es also doch mal zu etwas gut, rothaarig zu sein!«
Belle fand die ganze Geschichte fantastisch, aber sie war glücklich, Jimmy auf einmal so lebhaft zu sehen.
»Das hat Bin auch gesagt.« Jimmy brachte ein kurzes Lachen zustande. »Er schreibt: Früher dachten wir immer, dass rotes Haar Pech bringt, doch jetzt hätten wir es auch gern. Er sagt, dass die Geschichte zu einer der Legenden von Ypern geworden ist und dass er vorhatte, diesen Sergeant Carrera zu finden, um sich persönlich bei ihm zu bedanken. Doch leider ist der Knabe auch über den Jordan gegangen.«
Belle hätte beinahe laut nach Luft geschnappt, aber im letzten Moment riss sie sich zusammen. »Er ist tot?«, fragte sie fassungslos.
»Sagt Bin jedenfalls. Habe ich mir also doch nicht eingebildet, dass er mich bei meinem Namen genannt hat. Er kannte mich.«
Jimmy hatte Belle damals in Frankreich im Lazarett erzählt, dass der Mann, der ihn gerettet hatte, ihn mit seinem Namen angesprochen hatte. Aber wegen der Schmerzen, die er in diesem Moment gehabt hatte, war er sich nicht sicher gewesen, ob er sich das nicht eingebildet hatte.
Belle musste das Gesicht abwenden, damit Jimmy nicht das Entsetzen bemerkte, das ihr ins Gesicht geschrieben stehen musste. Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie verzweifelt wegzublinzeln versuchte.
Ausgeschlossen, dass es Etienne gewesen war! Wahrscheinlich handelte es sich um einen anderen Franzosen mit demselben Nachnamen. Und doch spürte sie irgendwie, dass er es gewesen war. Und jetzt war er tot.
Sie griff wieder nach dem Bügeleisen, stellte es zum Erhitzen auf den Herd und beschäftigte sich damit, sorgfältig einen Kissenbezug zusammenzulegen. Doch ihre Hände zitterten. Mog war fasziniert von der Geschichte und wollte mehr wissen.
»Du warst diesem Mann schon mal begegnet? Wie war er?«
»Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Er war älter als ich und wirkte ziemlich abgebrüht, und er sagte, dass er Englisch gelernt hatte, als er vor dem Krieg in London lebte. An dem Tag haben wir hauptsächlich über die Kämpfe und so gesprochen. Aber ich mochte ihn, also eigentlich mochten wir ihn alle. Jedenfalls hat sich jetzt ein kleines Geheimnis aufgeklärt. Wisst ihr, man hat mir erzählt, dass er meinen Namen angab, als er mich ablieferte. Damals dachte ich, er hätte einfach auf mein Namensschild geschaut. Doch vielleicht war es gar nicht so. An diesem Tag in Verdun haben mich Bin und die anderen ›Little Red Reilly‹ genannt, und er fragte mich, ob ich den Spitznamen erst in Frankreich bekommen hätte und wie mein richtiger Name wäre.«
Belles Beine wurden weich, und ihr war flau. Als sie versuchte, das Bügeleisen hochzuheben, zitterten ihre Hände immer noch so sehr, dass sie es beinahe fallen gelassen hätte.
»Eine tolle Geschichte, nicht wahr?«, stellte Mog fest. »Was ist denn, Belle? Du bist ja auf einmal so blass.«
»Ich könnte ein bisschen frische Luft vertragen«, sagte sie hastig. »Hier drinnen ist es sehr stickig.«
»Ich bügele weiter«, erklärte Mog. »Geh nach oben und leg dich hin! Du scheinst in letzter Zeit keine fünf Minuten am Tag zur Ruhe zu kommen.«
Belle zog sich ins Schlafzimmer zurück und warf sich schluchzend aufs Bett. Vor ihren Augen stand das Bild, wie Etienne sie an jenem letzten Tag küsste und ihr versicherte, alles werde gut werden.
Diese Hoffnung hatte sie in dem Augenblick begraben, als sie erfahren hatte, dass Jimmy verwundet worden war, und obwohl seither nicht ein Tag vergangen war, an dem sie nicht an Etienne gedacht hatte, hatte sie sich mit dem Gedanken getröstet, das Richtige zu tun.
Aber dass er tot war, war nicht richtig! Nicht ihr starker, tapferer Etienne, auf dem Schlachtfeld getötet und in einem Massengrab verscharrt! Um das Schluchzen zu unterdrücken, vergrub sie ihr Gesicht im Kopfkissen.
Doch warum hatte er ihr nicht erzählt, dass er Jimmy 1916 begegnet war?
Hatte er an jenem Abend, als er zum Lazarett gekommen war, vielleicht befürchtet, dass sie die Nacht nicht mit ihm verbringen würde, wenn er diese Begegnung erwähnte? Wahrscheinlich wäre sie wirklich nicht mit ihm gegangen, weil sie sofort Jimmys Bild vor Augen gehabt hätte.
Aber aus welchem Grund auch immer Etienne dieses Treffen verschwiegen hatte, es war unglaublich ehrenhaft von ihm gewesen, Jimmy zu retten. War er einen kurzen Moment lang in Versuchung gewesen, ihn sterben zu lassen? Falls ja, machte es sein Handeln umso bewundernswerter.
Plötzlich schnürte sich ihr Magen vor Nervosität zusammen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie Jimmy je erzählt hatte, dass der Name ihres Retters in Paris Carrera gewesen war, doch Noah kannte ihn auf jeden Fall, und falls er herkam und von Jimmy diese Geschichte erfuhr, würde er sich wundern, warum Belle sich nicht dazu äußerte. Schließlich wäre es eine ganz normale Reaktion gewesen, es sei denn, sie hätte etwas zu verschweigen.
Sie drückte ihr Gesicht noch tiefer in das Kissen, als ihr immer wieder Bilder von Etienne durch den Kopf gingen. Es war schwer genug gewesen, in all den langen Monaten jeden Gedanken an ihn zu unterdrücken, und sie wusste, dass Jimmy, Mog und Garth in den nächsten Wochen immer wieder darüber reden würden. Wie sollte sie reagieren? Sollte sie jetzt gleich nach unten gehen und behaupten, ihr wäre gerade eingefallen, dass Etiennes Nachname Carrera war?
Aber das konnte sie nicht. Noch nicht. Seinen Namen laut auszusprechen würde sie sofort zum Weinen bringen. Sie musste ihr Geheimnis für sich behalten.
An diesem Abend wirkte Jimmy viel fröhlicher. Er schlug sogar vor, im Wohnzimmer ein Feuer zu entfachen, obwohl er sonst bis gegen acht Uhr abends in der Küche blieb und dann zu Bett ging.
»Wir könnten eine Partie Schach spielen oder zusammen ein Puzzle legen«, meinte er.
Belle empfand es als Ironie des Schicksals, dass sie ihm genau dasselbe an so vielen Abenden vergeblich vorgeschlagen hatte und er ausgerechnet dann, wenn sie wirklich einmal allein sein wollte, einen Stimmungsumschwung hatte. Aber dennoch ging sie nach oben und zündete im Kamin ein Feuer an; immerhin war es ein Schritt in die richtige Richtung.
»Es war schön, von Bin zu hören, wie es ihm und all den anderen geht«, meinte er, als sie beide im Wohnzimmer saßen. Unten im Pub war es ruhig, und mit den zugezogenen Vorhängen und dem prasselnden Feuer im Kamin war das Zimmer warm und gemütlich. »Ich werde zurückschreiben, auch wenn ich nicht viel zu berichten habe.«
»Sie werden sich einfach freuen zu hören, dass es dir gut geht«, sagte Belle und bemühte sich verzweifelt, den Schmerz um Etienne niederzukämpfen. »Du kannst ihnen schreiben, was du in der Zeitung gelesen hast. Oder sie an eure gemeinsamen Erlebnisse erinnern.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte nachdenklich ins Feuer. »Ich habe es da draußen gehasst«, gestand er schließlich. »Wenn ich einmal ein paar Minuten Ruhe hatte, habe ich immer die Augen geschlossen und mir vorgestellt, ich wäre hier, genau wie jetzt.«
»Aber nun, da du hier bist, wärst du gern wieder dort?«
Er brachte ein Lächeln zustande. »Nicht ganz. Ich wünsche mir bloß, dass ich wieder heil und unversehrt wäre. Hinter der Theke arbeite, mit dir spazieren gehe, mich nicht so ohne jede Hoffnung fühle. Doch ich vermisse meine Freunde von drüben.«
Früher wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn in die Arme genommen, wenn er traurig war. Aber sie wusste aus bitterer Erfahrung, dass ihn jede Demonstration von Zuneigung reizbar machte.
»Erzähl mir ein wenig von ihnen!«, schlug sie vor.
»Es gab da einen, den wir ›Vielfraß‹ nannten, weil er immer aufaß, was die anderen übrig ließen. Es war zum Lachen. Dauernd war er auf Futtersuche, und irgendwie schaffte er es immer, etwas zu trinken, ein paar Eier, ein Huhn oder ein Kaninchen aufzutreiben. Vor dem Krieg hat er mit seinem Dad an einem Marktstand im East End gearbeitet, wahrscheinlich hat er das dort gelernt. Erst achtzehn, aber ein richtig netter Kerl.«
Belle bemühte sich um ein Lächeln. Obwohl alles in ihr um Etienne weinte, war es schön, Jimmy wieder so reden zu hören wie in der Zeit vor seiner Verwundung.
»Und dann war da noch ›Vater‹. Wir nannten ihn nicht so, weil er alt war, sondern weil man sich immer wieder dabei ertappte, ihm etwas zu beichten. Ich habe ihm einmal gesagt, dass er Priester werden sollte, doch er meinte, dafür habe er Frauen zu gern.«
»Was hattest du denn zu beichten?«
Jimmy zuckte mit den Schultern. »Dass ich Angst davor hatte, aus dem Schützengraben zu springen. Und dass ich oft an meinen Vater denken musste.«
»Wirklich?«, rief Belle überrascht. »Das hast du mir nie erzählt.«
»Früher habe ich auch niemals an ihn gedacht, erst als ich da draußen war. Wahrscheinlich deshalb, weil ich mit so vielen verschiedenen Männern zusammenkam, die oft über ihre Väter sprachen. Ich habe immer angenommen, er müsste ein abgrundtief schlechter Mensch gewesen sein, weil er meine Mutter einfach im Stich gelassen hat. Aber vielleicht steckt mehr dahinter.«
»Hast du Garth mal nach ihm gefragt?«
»Nein. Er würde sofort für Ma Partei ergreifen, und sonst gibt es niemanden, bei dem ich mich nach ihm erkundigen könnte.«
»Ich habe mir auch oft Gedanken über meinen Vater gemacht. Doch da Annie nicht einmal von mir was wissen will, hat sie bestimmt keine Lust, über ihn zu reden. Ich wünschte, Mog wüsste etwas über ihn.«
Jimmy lächelte sie an. »Er muss ein guter, warmherziger Mann gewesen sein und ziemlich kreativ. All das kannst du unmöglich von deiner Mutter geerbt haben.«
Belle bekam bei dem Kompliment feuchte Augen, fand jedoch nicht, dass sie ein solches Lob verdient hatte. Plötzlich wollte sie, zumindest einen Teil der Last, die ihr auf der Seele lag, loswerden.
»Der Mann, der dich gerettet hat, dieser Sergeant Carrera«, fing sie an. »Also, Etienne hieß mit Nachnamen so.«
»Was! Der Mann, der dich nach Amerika gebracht hat?«
»Ich möchte in ihm lieber den Mann sehen, der Noah in Paris geholfen hat, mich zu finden«, antwortete sie.
Jimmy schwieg einen Moment, sah sie aber unverwandt an.
»Wie gesagt, damals in Verdun hat er mich erst gefragt, ob ich nur in der Armee ›Red‹ genannt werde. Er hatte gehört, wie mich die anderen ›Little Red Reilly‹ nannten«, erzählte er schließlich. »Im Nachhinein ist das ein bisschen merkwürdig. Normalerweise fragt niemand dich nach deinem richtigen Namen. Er wollte sogar wissen, was ich vor dem Krieg beruflich gemacht habe. Ich sagte ihm, dass ich daheim Jimmy genannt werde und in einem Pub arbeite, und berichtete auch, dass du unser Kind verloren hast. Ich erwähnte deinen Namen. Wenn es wirklich derselbe Mann war, warum hat er mir nicht gesagt, wer er ist?«
»Vielleicht hat er erst später eine Verbindung hergestellt«, meinte Belle. »Aber falls es ihm gleich klar war, hielt er es möglicherweise für besser, nicht die Vergangenheit anzusprechen, weil du nicht allein warst. Ich habe ihm während der Überfahrt nach Amerika eine ganze Menge über dich erzählt, und natürlich erfuhr er zwei Jahre später von Noah, dass du überall nach mir gesucht hast.«
»Er hat mich also deinetwegen gerettet?«
»Ich bezweifle, dass er es so gesehen hat. Höchstwahrscheinlich hat er sich von diesem Tag bei Verdun an dich erinnert und konnte es nicht ertragen, dich hilflos zurückzulassen.«
Jimmy stieß einen halblauten Pfiff aus. Belle wusste nicht, was sie sagen sollte; sie konnte fast hören, wie es in seinem Kopf arbeitete, um sämtliche Fäden zu entwirren.
»Er hatte das Gefühl, mir mein Leben zu schulden? Warum? Ich habe nichts für ihn getan. Um mich zu retten, hat er riskiert, unter Anklage gestellt zu werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sein Vorgesetzter es als vorrangig gesehen hätte, einem Tommy zu helfen, wenn ringsum Dutzende französische Verwundete lagen. Also musst du der Grund gewesen sein. Er hat dich geliebt!«
Belle drehte sich der Magen um. Jetzt wünschte sie, sie hätte geschwiegen. Jimmy war ein Mensch, der sich Gedanken machte. Er würde grübeln und grübeln, das Ganze drehen und wenden und für das, was er nicht auflösen konnte, Antworten verlangen.
»Du weißt sehr gut, dass er immer ein schlechtes Gewissen hatte, weil er mich nach New Orleans gebracht hat. Genau aus diesem Grund ist er nach Paris gekommen, um bei der Suche nach mir zu helfen. Meiner Meinung nach ist das ein Beweis, dass er mich mag, aber mehr war zwischen uns nicht. Ich war noch nie so froh, jemanden zu sehen, wie damals, als er die Tür der Kammer eintrat, in die ich eingesperrt war. Nachher jedoch konnte ich es nicht erwarten, nach England zurückzukommen, zu dir und Mog.«
»Komisch, dass du uns bei deiner Heimkehr so wenig über ihn erzählt hast!«, sagte er misstrauisch. »Ich meine, ein Mann rettet dir das Leben, und du willst nicht mal mit ihm in Verbindung bleiben?«
»Natürlich wäre ich gern mit ihm in Kontakt geblieben, doch ich hatte Angst, es könnte dir wehtun. Ach, Jimmy, mach daraus doch nicht etwas, was es nie gewesen ist! Ich hatte damals buchstäblich die Hölle hinter mir, und als ich endlich wieder daheim und in Sicherheit war, wollte ich das alles vergessen und von vorn anfangen.«
Er langte nach seiner Krücke und hievte sich aus dem Sessel. »Ich denke, ich gehe jetzt zu Bett.«
Recht so, bring etwas aufs Tapet und zieh dich dann in den Schmollwinkel zurück!, dachte sie, sprach es aber nicht aus. So reagierte er ständig, und sie hatte das Gefühl, es nicht sehr viel länger zu ertragen.
»Ich wünschte, ich hätte meinen alten Jimmy wieder«, sagte sie traurig. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er mir fehlt.«
Er stützte sich auf seine Krücke und sah sie an, den Mund zu einem bitteren Lächeln verzogen. »Wie kannst du von mir erwarten, der Alte zu sein, wenn die Hälfte meines Körpers nicht mehr vorhanden ist? Du bist auch nicht mehr die Belle, die ich geheiratet habe. Welche Entschuldigung hast du?«
Er drehte sich um und humpelte hinaus. Belle sah ihm nach. Ihr war noch schwerer ums Herz als zuvor.