KAPITEL 23
Am Morgen des ersten Weihnachtstages stand Belle um sieben Uhr auf, während Jimmy, Mog und Garth noch tief und fest schliefen, und zündete im Wohnzimmer ein Feuer an.
Beim Aufwachen hatte sie festgestellt, dass Jimmy sich eng an ihren Rücken kuschelte, und das war ein so schönes Gefühl gewesen, dass sie beschloss, ihren gekränkten Stolz zu vergessen und dafür zu sorgen, dass sie alle einen richtig schönen Tag hatten.
Nachdem sie das Feuer im Kamin angezündet hatte, ging sie nach unten, machte sauber und schob den Truthahn ins Backrohr. Als sie Mog oben hörte, trug sie ein Teetablett hinauf und schlug vor, dass sie sich alle ins Wohnzimmer setzen sollten.
Mog hatte sich mit ihrem Aussehen wirklich Mühe gegeben. Sie trug ein zartrosa Kleid mit altrosa Stickerei, das Belle noch nie an ihr gesehen hatte und das ihren Teint nicht so blass wirken ließ. Sie schien sich zu freuen, dass sich heute jemand anders um alles kümmerte, und ließ sich fröhlich im Wohnzimmer nieder.
»Ich dachte, ich richte uns allen Schinkenbrote, die wir hier oben essen können, und danach packen wir unsere Geschenke aus und gönnen uns einen schönen, faulen Tag«, sagte Belle und stellte das Teetablett neben Mog ab, damit sie einschenken konnte.
Jetzt kam auch Garth herein. Er litt sichtlich an den Nachwirkungen der Exzesse vom Vorabend, aber er trug ein strahlend weißes Hemd mit steifem Kragen und ein dunkelgrünes Jacket.
»Ist das Tee? Und hat jemand Schinkenbrote erwähnt?«, bemerkte Jimmy, der in der Tür stand. »Du lieber Himmel, ihr seht alle sehr gediegen aus! Neben euch komme ich mir wie der sprichwörtliche arme Verwandte vor.«
»Überhaupt nicht«, sagte Belle. Er trug die braune Jacke, die Mog für ihn gestrickt hatte und die er viel leichter anziehen konnte als ein Jackett. »Und du hast richtig gehört, es war von Schinkenbroten die Rede. Ich muss nur schnell nach unten laufen und sie belegen. Du bleibst hier und sorgst dafür, dass Mog die Beine hochlegt und keinen Finger rührt.«
Jimmy setzte sich in einen Ohrensessel, und Belle bückte sich, um seine Wange zu küssen, bevor sie das Zimmer verließ. »Du siehst heute viel erholter aus«, stellte sie fest.
Er legte eine Hand an ihre Wange und sah ihr in die Augen. »Ich habe besser geschlafen, weil du neben mir gelegen hast«, raunte er ihr zu.
Es wurde wirklich ein schöner Tag. Draußen war es immer noch bitterkalt und sehr neblig, aber dafür war es drinnen umso gemütlicher. Mog hatte selbst gemachte Geschenke für sie alle. Sie musste alles schon vor einem Jahr geplant haben, denn es gab eine schicke dunkelgrüne Strickjacke für Garth, ein weiches Flanellhemd für Jimmy und einen zart durchbrochenen roten Wollschal für Belle.
»Ich konnte für keinen von euch etwas kaufen«, sagte Jimmy betrübt.
»Dass du hier bei uns bist, ist das schönste Geschenk, das du uns machen konntest«, versicherte Belle, während sie sich ihren neuen Schal um die Schultern legte.
Garth machte ein überraschtes Gesicht, als Jimmy und Belle die Geschenke auspackten, die von ihm waren, und sie mussten lachen, weil sie genau wussten, dass Mog den Pyjama für Jimmy und die Strümpfe für Belle besorgt hatte. Doch das Geschenk für Mog hatte Garth selbst gekauft und im Geschäft einpacken lassen. Es war ein Silberfuchskragen, den sie über ihrem Mantel tragen konnte und den sie sich schon immer gewünscht hatte. Mog quiekte vor Begeisterung, als sie ihn auspackte, und sprang auf, um Garth stürmisch zu umarmen.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt zuhörst, als ich von nichts anderem mehr geredet habe«, meinte sie. »So etwas Schönes habe ich noch nie besessen. Ich muss wohl wieder regelmäßig in die Kirche gehen, damit ich mit meinem Silberfuchs angeben kann.«
Da Garth Belle in sein Geheimnis eingeweiht hatte, hatte sie den Kragen in ihrem Zimmer versteckt und einen dazu passenden Hut angefertigt. Es war ein Glockenhut, ein Stil, der Mog sehr gut stand, aus silbergrauem Satin mit einem Besatz in dunklerem Grau und zwei Satinrosetten auf der Seite. Für Garth hatte sie eine grün-weiße Seidenkrawatte gekauft, für Jimmy ein Schachspiel. Sie wusste, dass er in Haddon Hall oft Schach gespielt hatte, und hoffte, er würde es ihr beibringen, damit sie sich gemeinsam die Zeit vertreiben konnten.
Mog brachte sie alle zum Lachen, indem sie den Pelz umlegte und den Hut aufsetzte und wie eine Großfürstin durch das Wohnzimmer schritt. Belle stellte fest, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr aus Frankreich wieder richtig lachen konnte, und es tat gut, Jimmy so glücklich und gelöst zu sehen.
Annie hatte Belle eine Schachtel teurer Pralinen geschickt. Aber so gut sie auch schmeckten, Belle hätte sich mehr über einen Brief gefreut, der Sorge um Jimmy und Interesse an ihnen allen verriete. Dem Päckchen war nicht einmal eine kurze Nachricht beigefügt.
»Manchmal muss ich mich wirklich über sie wundern«, sagte Mog ärgerlich. »Ich habe ihr natürlich geschrieben, als wir erfuhren, was Jimmy zugestoßen ist, und sie hat nicht einmal geantwortet. Aber ich wette, sie wäre blitzschnell hier, wenn sie selbst in der Klemme steckte.«
»Tja, falls das passiert, hat sie von mir nicht viel zu erwarten«, erklärte Belle. »Ich werde mich nicht mal für die Pralinen bedanken. Dem Himmel sei Dank, dass es dich gibt, Mog! Jemand wie du ist hundert Annies wert.«
Später gingen Belle und Mog nach unten, um sich ums Essen zu kümmern, und ließen Jimmy und Garth bei einer Partie Schach zurück.
»Jimmy ist heute viel munterer. Aber vielleicht liegt das daran, dass du netter zu ihm bist«, bemerkte Mog, als sie Gemüse schnitten.
»Ich bin ihm gestern ausgewichen, weil er etwas schrecklich Gemeines zu mir gesagt hat«, platzte Belle heraus. »Das habe ich nicht verdient, und so etwas lasse ich mir nicht gefallen! Doch jetzt ist es vergeben und vergessen.«
»Ich wünschte, du könntest wieder so werden, wie du früher warst«, sagte Mog wehmütig. »Aber daraus wird wohl nichts; dieser Krieg hat uns alle verändert.«
»Vielleicht stellen wir eines Tages fest, dass es eine Veränderung zum Besseren war«, erwiderte Belle und ging zu Mog, um sie in die Arme zu nehmen.
Die Ältere löste sich bald von ihr und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Ich kenne dich besser als irgendjemand auf dieser Welt«, sagte sie und schaute Belle direkt in die Augen. »Und deshalb weiß ich, dass in Frankreich irgendetwas passiert ist. Nicht nur Mirandas Tod oder all die schlimmen Dinge, die du mit ansehen musstest. Etwas anderes. Was es auch ist, du kannst es mir erzählen.«
Mog hatte es schon immer gespürt, wenn sie etwas bedrückte, und Belle wusste aus Erfahrung, wie gut es tat, Mog ihr Herz auszuschütten. Aber jetzt war sie erwachsen, und manche Dinge behielt man besser für sich.
»Ich bin einfach erwachsen geworden«, sagte sie und lächelte die andere innig an. »Als Jimmy und ich heirateten, hatte ich alles, was ich mir je erhofft hatte. Ich dachte, die schlimmen Zeiten wären vorbei und wir würden glücklich sein bis an unser Lebensende. Ich weiß, dass du dasselbe bei unserem Umzug hierher und der Hochzeit mit Garth gedacht hast. Aber es ist nicht so gekommen. Vielleicht brauchen wir manchmal schlechte Zeiten, um die guten wieder schätzen zu können.«
»Der heutige Tag scheint mir zu den guten Zeiten zu gehören.«
»Ja, das stimmt, freuen wir uns also daran!«, sagte Belle. »Ich decke jetzt den Tisch, und dann stopfen wir uns voll, bis wir platzen. Vergessen wir den Krieg und was uns die Zukunft bringen mag und sind einfach froh und glücklich miteinander!«
»Ein schöner Tag«, befand Jimmy, als sie an diesem Abend zu Bett gingen. »Mog und du habt hart gearbeitet, damit er gelingt, und das beste Essen aller Zeiten gekocht. Wenn die Jungs in Frankreich wüssten, was wir heute gefuttert haben, würde ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen.«
Im Lauf des Tages hatte er mehrmals Freunde erwähnt; offenbar fing er an, die Kameradschaft bei der Armee zu vermissen. Vielleicht wurde er sich bewusst, dass er als Zivilist nie mehr so enge Freundschaften schließen würde, selbst wenn er wieder hinter der Theke arbeiten könnte. Dasselbe galt natürlich auch für sie, Belle. Doch Jimmys Behinderung machte es ihm schwer, neue Freunde zu finden.
»Du solltest ihnen schreiben«, schlug sie vor. »Bestimmt wollen sie wissen, wie es dir geht, und vielleicht könnt ihr euch sogar einmal treffen, wenn all das vorbei ist.«
»Ja, das ist keine schlechte Idee«, sagte er nachdenklich. »Es wäre gut, aus erster Hand zu hören, was da drüben los ist. In der Zeitung steht nie, wie es wirklich ist. Schreibst du deinen Freunden im Lazarett?«
»Ich habe Vera ein paar Mal geschrieben«, antwortete Belle. »Immer mehr verwundete Australier, Neuseeländer und Kanadier kommen jetzt ins Lazarett. Sie sorgt sich sehr um ihre beiden Brüder und rechnet bei jedem Verwundetentransport damit, dass sie dabei sind. Sie fehlt mir.«
»Mir fehlen die Burschen aus meiner Einheit auch«, gestand Jimmy. »Wir sind ständig aneinandergeraten und haben uns über alles Mögliche gestritten, und manche von ihnen waren in meinen Augen richtige Idioten. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich die Brüder, die ich niemals hatte. Oder zumindest so gute Freunde, wie ich sie im normalen Leben nie hatte.«
»Du hattest niemals Gelegenheit, wirklich tiefe Freundschaften zu schließen, weil du immer so viel arbeiten musstest«, sagte Belle. »Ich hatte auch nie eine echte Freundin, bis ich Miranda traf. Wir haben einander, Jimmy, und sind auch gute Freunde, aber das ist nicht ganz dasselbe, stimmt’s?«
»Nein, Süße, ist es nicht. Doch lieber habe ich dich als einzigen Freund als ein ganzes Bataillon männlicher Kumpel.«
Sie schmiegte sich enger an ihn. »Gut zu wissen.«
»Gute Nacht«, sagte er und drehte ihr den Rücken zu.
Belle lag noch eine Weile wach. Sie war traurig und enttäuscht. Es war so ein schöner Tag gewesen. War es da zu viel verlangt, nun noch ein bisschen zu kuscheln?
Am Silvesterabend ließ sich Jimmy widerstrebend von Garth überreden, zu ihm in die Schankstube zu kommen. Keine Stunde später kam er blass und mitgenommen zurück und setzte sich zu Mog und Belle in die Küche. »Ich hab’s nicht länger ausgehalten«, erzählte er. »Die Hälfte der Leute wollten alle grausigen Details darüber hören, wie ich zu meiner Verwundung gekommen bin, und die übrigen haben alle irgendeinen Bekannten, den es noch schlimmer erwischt hat, und reden über nichts anderes. Noch dazu hockt in der Ecke so ein armer Kerl, der sich die Lunge aus dem Leib hustet. Senfgas. Das ist einfach zu viel für mich.«
Eigentlich hätte Belle froh sein sollen, dass es ihm in der Kneipe nicht behagte. Eine ihrer größten Befürchtungen war gewesen, dass Jimmy vielleicht jeden Abend bis zur Sperrstunde dort sitzen wollte, um sich zu betrinken, und sie ihm später die Treppe hinaufhelfen und sich sein Lallen anhören musste. Aber sie konnte sich nicht darüber freuen. Obwohl seit dem Weihnachtstag alles gut gelaufen war, hatte er sich seither in sich selbst zurückgezogen, redete kaum und zeigte für nichts und niemanden Interesse.
Sie hatte versucht, ihn aus der Reserve zu locken, indem sie über Menschen und Dinge, die ihn früher interessiert hatten, sprach, Mog dazu brachte, all seine Lieblingsgerichte zu kochen und ihn nach seinen Freunden in der Armee zu fragen. Doch die Mauer, die er um sich errichtet hatte, schien von Tag zu Tag höher zu werden.
Der Nebel hatte sich am zweiten Feiertag gelichtet, und dann hatte es angefangen zu schneien. Belle hatte einen Spaziergang auf der Heide unternommen und zugeschaut, wie Kinder Schneeballschlachten veranstalteten, Schlitten fuhren und Schneemänner bauten. Mit frischer Energie war sie heimgekehrt und hatte vorgeschlagen, Jimmy einen Rollstuhl zu kaufen, damit er gelegentlich aus dem Haus kam. Aber er hatte ihren Vorschlag verächtlich abgetan und sie gefragt, wie sie sich eigentlich vorstelle, ihn den Hügel hinaufzubekommen.
Es stimmte, dass man es vom Railway Inn aus in jeder Richtung mit Steigungen aufnehmen musste, doch Belle war stark genug, um einen Rollstuhl zu schieben oder es wenigstens zu versuchen. Hatte er im Ernst vor, dauernd im Haus zu hocken?
In wenigen Stunden würde das Jahr 1918 beginnen, der richtige Zeitpunkt, um ein bisschen optimistisch zu sein und zu hoffen, dass in diesem Jahr alles besser würde. Warum wollte Jimmy das nicht einsehen?
»Ich gehe zu Bett«, sagte er.
»Jetzt schon?«, rief Mog. »Bleib doch auf und warte das neue Jahr ab!«
»Was gibt es da schon zu erwarten?« Er zuckte mit den Schultern. »Hunderte Gläser, die gespült werden müssen, das Außenklo voller Pisse und Kotze und Betrunkene, die dummes Zeug lallen. Ich lege mich lieber hin.«
Belle sank der Mut. Obwohl sie nachfühlen konnte, wie nutzlos er sich fühlen musste, weil er keiner Arbeit nachgehen konnte, lastete seine negative Einstellung zu allem und jedem auf der ganzen Familie.
»Dann geh doch, du Waschlappen!«, sagte sie.
Mog drehte sich zu ihr um, als Jimmy das Zimmer verließ. »Kannst du nicht ein bisschen netter zu ihm sein? Früher warst du nicht so herzlos.«
»Ist es herzlos, wenn ich mir wünsche, dass er mit uns redet? Dass er akzeptiert, was passiert ist, und sich überlegt, womit er sich beschäftigen könnte, statt an all die Dinge zu denken, die er nicht mehr machen kann?«, gab sie zurück. »Zum Beispiel könnte er sich um die Buchhaltung kümmern. Garth plagt sich furchtbar damit.«
»Hast du ihm das vorgeschlagen?«
»Ja, natürlich, doch er hat mir fast den Kopf abgerissen und wollte wissen, wer sich denn mit Garths System auskennen soll.«
»Garth hat kein System«, sagte Mog. »Deshalb plagt er sich so.«
»Jimmy könnte ein System hineinbringen, er ist intelligent, und er hat ein gutes Gespür für Zahlen. Außerdem hat er sich schon vor dem Krieg um die Bücher gekümmert.«
»Du bist immer so ungeduldig«, warf Mog ihr vor. »Er ist erst eine Woche daheim. Kannst du ihn nicht eine Weile in Ruhe lassen, damit er seinen Weg selbst findet?«
Belle hätte Mog gern gesagt, dass sie recht hatte und dass es Jimmys Kälte war, die sie gemein und ungeduldig erscheinen ließ, aber sie brachte es nicht über sich, etwas so Persönliches einzugestehen.
Die nächsten zwei Wochen machte sie Jimmy überhaupt keine Vorschläge mehr. Sie ignorierte seine langen Schweigephasen und giftigen Bemerkungen und verkniff sich jeden Kommentar, wenn er früh zu Bett ging, obwohl sie wusste, dass dahinter die Absicht steckte, Intimität oder auch nur Gesprächen auszuweichen.
Das Wetter war ebenfalls nicht auf ihrer Seite. Erst Schnee, der sich schnell in schwarzgrauen Matsch verwandelte, dann wieder Nebel, und selbst als der sich hob, war der Himmel bleiern. Es war so kalt, dass sie schon nach einem kurzen Spaziergang das Gefühl hatte, die Haut würde ihr vom Gesicht gezogen. Obwohl es im Haus eine Menge Arbeit gab, schienen die Tage endlos zu sein.
Seit Silvester war es im Pub sehr ruhig gewesen, und Mog und Garth hatten viel freie Zeit. Belle spürte, dass auch die beiden unter Jimmys Launen litten, da sie sich häufig wegen Belanglosigkeiten stritten. Mog klagte ständig über Kopfschmerzen, und Belle fühlte, wie sich in ihnen allen ein Druck aufbaute, der zu noch mehr Kummer und Spannungen führen würde, wenn er erst einmal zum Ausbruch kam.
Sie hatte das Gefühl, dass sie ihnen allen zuliebe wegen Jimmys Problemen ärztlichen Rat einholen sollte. Deshalb ging sie eines Nachmittags zum Royal Herbert, in der Hoffnung, eine der Schwestern könnte ihr einen Arzt empfehlen, der ihnen möglicherweise helfen konnte.
Auf ihrer alten Station musste sie jedoch feststellen, dass sie die meisten Schwestern nicht mehr kannte. Die Pflegerinnen waren damit beschäftigt, etliche Neuankömmlinge unterzubringen. Belle hatte die hektische Aktivität bei derartigen Gelegenheiten fast vergessen, und als sie zögernd in der Tür stehen blieb und nach einem vertrauten Gesicht Ausschau hielt, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass der Großteil der Patienten schwere Verbrennungen hatte. Ihre Gesichter, Schultern und Arme waren wie rohes Fleisch, und in der Luft hing ein Gestank, von dem ihr übel wurde.
»Sind Sie hier, um einen unserer Patienten zu besuchen?«, fragte eine Krankenschwester, die gerade mit einem Stapel frischer Bettwäsche hereinkam.
Belle erklärte, dass sie früher im Herbert gearbeitet und gehofft habe, Schwester May zu sehen.
»Sie dürfte auf einer anderen Station sein«, antwortete die Krankenschwester. »Die hier ist nur noch für Patienten mit Verbrennungen. Vielleicht kann Ihnen einer der Pförtner sagen, wo Sie sie finden.«
»Warum gibt es so viele Brandwunden?«
»Flammenwerfer«, erklärte die Schwester. »Die hier hat es in Cambrai erwischt. Arme Teufel! Von all den Waffen, die sie im Krieg einsetzen, ist das die schlimmste, finde ich. Diejenigen, die durchkommen, sind für den Rest ihres Lebens entstellt.«
Belle dankte der Schwester und wandte sich zum Gehen. Ihr war klar, dass wahrscheinlich auf allen Stationen viel los war und niemand Zeit oder Lust hatte, über einen Mann zu sprechen, dessen Zustand nicht mehr kritisch war. Vielleicht war es am besten, zu Dr. Towle zu gehen und sich von ihm beraten zu lassen.
Als sie sich mit den Bildern der furchtbaren Verbrennungen im Kopf auf den Heimweg machte, regte sich in ihr wieder der Zorn, den sie in den letzten zwei Wochen mühsam unterdrückt hatte. Sie wünschte, Jimmy könnte diese Männer sehen. Vielleicht würde er dann erkennen, dass nicht einmal der Verlust eines Armes und eines Beines so schlimm war wie diese Verletzungen.
Aber beim Gehen wurde ihr bewusst, dass Jimmy nicht der einzige Grund für ihren Zorn war; eine ganze Reihe von Problemen und Fragen nagte an ihr, und ihre Bitterkeit konzentrierte sich auf ihn, weil sie täglich mit ihm zusammen war.
Wie konnte jemand nicht wütend werden über einen Krieg, der Zigtausende junge Männer das Leben kostete und noch viel mehr verstümmelte? Es gab so viele Witwen, deren Kinder vaterlos aufwuchsen. Sie lebten oft in sehr beengten Verhältnissen, weil das Geld nicht reichte, um die Miete zu zahlen und genug zu essen zu kaufen. Der Anblick von Verwundeten, die auf der Straße bettelten, war längst keine Seltenheit mehr. Erst vor ein paar Tagen hatte Belle in der Zeitung gelesen, dass in den ärmeren Vierteln der Großstädte die Kinder genauso schlecht ernährt waren wie zur Zeit Königin Victorias.
Hinzu kamen Belles ganz persönliche Kümmernisse. Nicht nur die Probleme mit Jimmy, sondern auch der Mangel an Interesse oder Mitgefühl seitens ihrer Mutter und die Ungerechtigkeit, dass Mog wegen Blessards Artikel in diesem Revolverblatt im Ort geächtet wurde. Dann waren da noch ihre Trauer über Mirandas sinnlosen Tod und die Schuldgefühle wegen Etienne.
Sie wusste, dass es ihre Hilflosigkeit war, die ihr am meisten zu schaffen machte. Nichts von alldem konnte sie ändern. Sie konnte weder den Krieg beenden noch den Notleidenden helfen oder Jimmy wieder »ganz« machen. Sie musste sich einfach damit abfinden und gegen jede Hoffnung hoffen, dass die Zeit diese Probleme lösen würde.
Trotzdem hatte sie den Eindruck, in ihrem Leben viel zu viel Zeit mit Hoffen und Harren verbracht zu haben. Dieses eine Mal würde sie sich nicht wie ein Blatt im Wind hin und her treiben lassen, sondern zurückschlagen, Stellung beziehen und sich behaupten.
Eine Erinnerung an Miranda ging ihr durch den Kopf. Eines Abends hatte sie in der Baracke im Bett gesessen und einen Brief nach Hause geschrieben. Sie trug ein rosa Nachthemd, und ihr blondes Haar fiel offen über ihre Schultern. Plötzlich warf sie den Brief hin. »Ich habe es satt, sie dazu zu bringen, mich zu mögen!«, platzte sie heraus und fing an zu weinen.
Belle lief zu ihrer Freundin und nahm sie in die Arme. »Deine Mutter?«
»Wer sonst«, schluchzte Miranda. »Es ist ihr ganz egal, was ich hier leiste. Hauptsache, ich bin weit weg. ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹ trifft es genau. Ich schreibe jede Woche und bemühe mich, interessant zu erzählen und ihr zu beweisen, dass ich meine Sache gut mache, wie eine richtige kleine Florence Nightingale im Rettungswagen. Und was kriege ich dafür? Alle paar Wochen ein paar Zeilen, in denen sie überhaupt nicht auf mich eingeht, sondern nur davon schwärmt, dass Amy einen Viscount heiraten wird und wie gut sich meine Brüder machen, und die Bälle und Partys beschreibt, die sie besucht. Das Einzige, was ihr eine Freude machen könnte, wäre, wenn ich hier draußen sterbe, weil sie dann vor ihren überheblichen Bekannten damit prahlen könnte, dass ich mein Leben für König und Vaterland geopfert habe.«
Am nächsten Tag entschuldigte sich Miranda für ihren Ausbruch, nahm jedoch nichts davon zurück. Und als Belle nach Mirandas Tod die Sachen ihrer Freundin zusammenpackte, las sie die wenigen Briefe ihrer Mutter, die im Spind lagen. Es war, als hätte sie jemand geschrieben, der Miranda kaum kannte, und sie waren noch frostiger, als Miranda ihr erzählt hatte.
Diese Erinnerung steigerte Belles Zorn. Die verabscheuungswürdige Mrs. Forbes-Alton hatte nicht einmal auf den Brief geantwortet, in dem Belle ihr nähere Einzelheiten über Mirandas Tod mitgeteilt und hinzugefügt hatte, wie erschüttert alle im Lazarett waren. Stattdessen hatte sie Belle die Schuld gegeben und ihren Namen in den Schmutz gezogen und damit Mogs Glück und guten Ruf ruiniert. Allein dieser dünkelhaften Mrs. Forbes-Alton war es zu verdanken, dass Mog sich aus Angst, angefeindet zu werden, nicht einmal mehr traute, in die Kirche zu gehen.
Das war etwas, was sie nicht stillschweigend hinnehmen musste! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel durchzuckte Belle dieser Gedanke. Sie hätte gleich nach ihrer Rückkehr aus Frankreich Mrs. Forbes-Alton aufsuchen und zur Rede stellen sollen. Genau das hätte Miranda von ihr erwartet.
Während in ihrem Kopf eine Idee Gestalt annahm, glaubte Belle fast zu hören, wie Miranda sie anfeuerte. Mog würde es nicht billigen, und Jimmy wäre entsetzt, aber das kümmerte sie nicht. Sie hatte es satt, sich von anderen Menschen in die Rolle des Opfers drängen zu lassen, und manchmal musste man Feuer mit Feuer bekämpfen. Die Welt konnte sie nicht in Ordnung bringen, aber wenigstens konnte sie es dieser gemeinen Person heimzahlen.
An diesem Abend war Belle imstande, Jimmys mürrisches Schweigen zu ignorieren, weil sie in Gedanken die Details ihres Plans ausarbeitete. Dies verbesserte ihre Stimmung genauso, wie es früher das Zeichnen vermocht hatte.
Und sie hatte vor, ihre Absichten gleich morgen in die Tat umzusetzen.
Miranda hatte ihr einmal erzählt, dass ihre Mutter an jedem Mittwoch bei sich zu Hause einen Bridge-Nachmittag veranstaltete, und im Scherz hinzugefügt, dass sie immer wusste, wann es zwei Uhr war, weil es stets auf die Sekunde genau zu dieser Zeit an der Tür läutete. Genauso pünktlich verließen die Bekannten ihrer Mutter um vier Uhr das Haus wieder. Laut Miranda war das Abendessen mittwochs immer eine Qual gewesen, weil dann der Klatsch und Tratsch des Nachmittags noch einmal durchgekaut wurde.
Um Punkt vier Uhr beobachtete Belle, wie die Bridgespielerinnen das Haus der Forbes-Altons verließen. Es dunkelte bereits, doch das Licht, das aus der Diele von Nummer vier fiel, war hell genug, dass Belle Mrs. Forbes-Altons Silhouette in der Tür erkennen konnte, und sie konnte sogar hören, wie Mirandas Mutter sich mit ihrer schrillen Stimme von ihren Freundinnen verabschiedete.
Zwei der Frauen stiegen in ein Automobil, das auf sie wartete, während die anderen rasch zu benachbarten Häusern eilten. Als die Eingangstür ins Schloss fiel, marschierte Belle zielstrebig hin und drückte auf die Klingel.
Sie hatte sich große Mühe gegeben, elegant, aber auch herausfordernd auszusehen. Es war wichtig, dass sie den Eindruck vermittelte, skrupellos und hart zu sein. Der hinreißende scharlachrote Pillbox-Hut schmeichelte ihren dunklen Locken, und sie trug einen Mantel, den Jimmy ihr kurz nach ihrer Heirat geschenkt hatte: marineblau, im modischen Kosakenstil eng tailliert und doppelt geknöpft und an Saum, Kragen und Manschetten mit Pelz besetzt.
Wie Belle gehofft hatte, öffnete Mrs. Forbes-Alton persönlich die Tür, vermutlich in der Annahme, eine ihrer Freundinnen habe etwas vergessen. Als sie sah, wer vor ihr stand, verblasste ihr Lächeln.
Belle stellte einen ihrer in zierlichen Stiefeln steckenden Füße auf die Schwelle, um zu verhindern, dass ihr die Tür vor der Nase zugeknallt wurde. »Ganz recht, ich bin es. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir miteinander reden«, sagte sie.
»Ich habe mit Ihnen nichts zu bereden«, dröhnte Mrs. Forbes-Alton. »Entfernen Sie sich von meinem Haus!«
Sie war größer, als Belle sie in Erinnerung hatte, und kräftig gebaut. Ihr graues Haar war kunstvoll gelockt und aufgesteckt, was ihr Doppelkinn äußerst unvorteilhaft betonte. Sie trug ein violettes Nachmittagskleid mit Spitzenrüschen, dessen Farbe ihren Teint gelbstichig aussehen ließ.
»Sie sollen auch nicht reden, sondern zuhören«, erwiderte Belle mit leicht drohendem Unterton. »Wenn Sie das nicht wollen, gehe ich direkt zu Ihrem guten Freund Mr. Blessard und rede mit ihm. Das wird Ihnen gar nicht gefallen.«
»Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und mir zu drohen?« Mrs. Forbes-Alton riss vor Entrüstung über Belles Unverfrorenheit ihre kleinen blauen Augen auf.
»Ich habe Ihnen ganz und gar nicht gedroht«, entgegnete Belle von oben herab. »Ich habe nur gesagt, dass es besser für Sie wäre, mich anzuhören. Das kann man kaum als Drohung auffassen. Was ist, wollen Sie mich hereinbitten, oder muss ich hier in der Tür stehen und schreien?«
Belle hatte befürchtet, nervös zu sein. Ihre größte Sorge war gewesen, dass sie in letzter Minute der Mut verließ, ihr Ultimatum zu stellen. Aber als sie jetzt vor der Frau stand, die Miranda so unglücklich gemacht hatte, konnte Belle sehen, dass sie nur eine Despotin war und wie die meisten Despoten fürchtete, jemand könnte stärker als sie sein.
Das Gesicht der Frau verriet, was ihr durch den Kopf ging. Sie wollte keine Szene vor ihrer Haustür, die jemand belauschen könnte, und hoffte, dass Belle sich von der Pracht ihres Hauses einschüchtern lassen würde.
»Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, mich mit jemandem auf der Türschwelle zu unterhalten, es sei denn mit Händlern«, sagte sie, zog die Tür auf, drehte sich um und rauschte durch die Diele.
Belle lächelte in sich hinein. Die Frau glaubte, sie zu verunsichern, doch Belle schloss einfach die Tür hinter sich und folgte Mrs. Forbes-Alton in den Salon, wo man zwei Kartentische aufgestellt hatte, auf denen immer noch die Spielkarten lagen. Belle vermutete, dass das Dienstmädchen schon Feierabend hatte und nach Hause gegangen war, sonst wäre hier bereits aufgeräumt worden.
Sie ging an den zwei Tischen vorbei zum Kamin und setzte sich unaufgefordert in einen Ohrensessel. »Hübsches Zimmer«, bemerkte sie und sah sich interessiert um. Tatsächlich war der Einrichtungsstil typisch viktorianisch, mit zu vielen schweren Möbelstücken, düsteren Gemälden und unzähligen hässlichen Nippsachen. »Natürlich hat Miranda es mir so oft detailliert geschildert, dass ich das Gefühl habe, es schon zu kennen.«
»Sie sind reichlich impertinent, junge Frau. Bedenken Sie gefälligst Ihren Stand!«, entrüstete sich Mrs. Forbes-Alton, die hinter einem Stuhl stand und Belle mit Blicken durchbohrte.
»Meinen Stand?« Belle lachte. »Was für eine köstlich antiquierte Einstellung, wenn auch nicht die meine.«
»Was wollen Sie?«, fragte Mrs. Forbes-Alton, die jetzt ziemlich nervös wirkte. Wahrscheinlich, weil sie allein im Haus war, vermutete Belle.
»Ich möchte, dass Sie Ihren Freunden und Bekannten hier im Ort mitteilen, dass Blessard Ihnen einen Bären aufgebunden hat, als er behauptet hat, ich wäre eine Frau von fragwürdiger Moral. Sie werden Mrs. Franklin, meine liebe Tante, für den Kummer, den Sie ihr bereitet haben, entschädigen, indem Sie dafür sorgen, dass sie in Zukunft zu all den gesellschaftlichen Anlässen eingeladen wird, an denen sie früher teilgenommen hat.«
»Aber Sie waren ein Freudenmädchen, das ist eine Tatsache«, fuhr Mrs. Forbes-Alton Belle an.
»Wahr ist, dass ich das Opfer eines Verbrechers war, der für seine Untaten gehängt wurde«, entgegnete Belle. »Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich entführt und nach Frankreich gebracht wurde. Aber ich bin nicht hergekommen, um Ihre Unfähigkeit, bezüglich meiner Vergangenheit Fakten und reine Erfindung zu unterscheiden, zu diskutieren. Und ich werde mich auch nicht damit aufhalten, Ihr Unvermögen, ein junges Mädchen zu bemitleiden, das etwas so Schreckliches erlebt hat, zu kritisieren.« Sie machte eine Pause, damit ihre Worte zu ihrem Gegenüber durchdrangen.
»Mrs. Franklin, meine Tante, ist eine der gütigsten Frauen, die es gibt«, fuhr sie fort. »Und Sie haben ihr mit Ihrem boshaften Klatsch und Tratsch schweres Unrecht zugefügt. Wie Sie vermutlich wissen, wurde mein Mann im Kampf verwundet. Deshalb können wir nicht an einen Ort ziehen, wo die Menschen freundlicher sind. Und daher werden Sie, meine Liebe, dafür sorgen, dass unsere Situation sich deutlich verbessert.«
»Warum sollte ich das für ein Flittchen wie Sie tun?«, gab die andere verächtlich zurück.
»Weil ich sonst den Namen Ihrer Familie genauso durch den Schmutz ziehen werde, wie Sie es mit unserem Namen gemacht haben«, sagte Belle. »Glauben Sie mir, ich weiß Dinge, die nicht nur die Bewohner von Blackheath aufhorchen lassen, sondern auch in die Presse kommen würden.«
»Unsinn! Nichts an unserer Familie ist beschämend!«
»Ach nein?« Belle zog eine Augenbraue hoch und lächelte kühl. »Eine Frau, die weiße Federn verteilt, aber dafür sorgt, dass ihre eigenen Söhne Schreibtischposten bekommen? Wenn das keine Heuchelei ist, weiß ich es nicht. Eine Frau, die sich nach dem Tod ihrer Tochter in deren Ruhm sonnt, während diese Tochter in Wirklichkeit nur deshalb nach Frankreich gegangen ist, um von ihrer Mutter wegzukommen?«
»Meine Söhne verrichten wichtige Arbeit, und wer würde schon glauben, dass Miranda von mir wegwollte?«
»Man würde es glauben, wenn ich Ihre Briefe an Miranda in der Zeitung veröffentlichen lasse«, erwiderte Belle. »Ich habe sie aus Frankreich mitgebracht. Kaum zu glauben, dass eine Mutter derart kalte, gefühllose Worte für ihr Kind finden kann.«
»Menschen meines Standes tragen ihr Herz nicht auf der Zunge wie die Arbeiterklasse«, gab Mrs. Forbes-Alton zurück. »Wenn die Briefe veröffentlicht werden, werde ich wegen meines Verlustes umso mehr bedauert werden. Sie werden diejenige sein, die schlecht dasteht.«
»Ich stimme Ihnen zu, dass Menschen Ihrer Klasse kaum eine Beziehung zu ihren Kindern haben, wahrscheinlich weil sie schon bei der Geburt Dienstboten übergeben werden. Aber da wäre natürlich noch die Sache mit Mirandas Abtreibung im Sommer 1914. Wie stehen Leute Ihrer Gesellschaftsschicht zu Abtreibung?«
Die Frau erbleichte und hielt sich an der Rückenlehne des Stuhls fest. »Wovon reden Sie? Ich fasse es nicht, wie Sie eine so skandalöse Behauptung aufstellen können!«
»Setzen Sie sich lieber, bevor Sie in Ohnmacht fallen«, empfahl Belle honigsüß. Allmählich machte ihr die Sache Spaß, und sie konnte fast hören, wie ihre Freundin ihr applaudierte.
»Unmöglich, so etwas kann sie nicht getan haben«, stammelte die Frau und ließ sich auf den Stuhl sinken.
»O doch. So habe ich Miranda überhaupt erst kennengelernt. Ich habe mich um sie gekümmert, als sie nach der Abtreibung vor meinem Laden zusammenbrach.«
»Das ist eine bösartige Unterstellung!«
»Keineswegs. Denken Sie mal nach. Sicher erinnern Sie sich an den Nachmittag im August 1914, als Miranda hier anrief und bei Ihrem Dienstmädchen die Nachricht hinterließ, dass sie bei einer Freundin in Belgravia übernachten würde. Sie rief von meinem Geschäft aus an. Als der Schwangerschaftsabbruch überstanden war, brachte ich sie nach Hause. Sie hatte eine Schramme auf der Stirn und erzählte Ihnen, dass sie auf der Straße gestürzt wäre.«
Belle ließ die Frau nicht aus den Augen. Ihrer Miene war anzusehen, dass sie sich an den Tag erinnerte.
»Wie können Sie so etwas erfinden, jetzt, da Miranda tot ist?«, sagte Mrs. Forbes-Alton, doch aus ihrer Stimme war jede Autorität verschwunden.
»Sie wissen, dass ich es nicht erfunden habe. Ich habe sogar Beweise in Form eines Briefes, in dem sie sich für meine Hilfe bedankt. Selbst Sie müssen sich doch manchmal gefragt haben, wie und warum wir so gute Freundinnen geworden sind.«
Wieder war Mrs. Forbes-Altons Gesichtsausdruck leicht zu deuten. Zweifellos erinnerte sie sich an die Gelegenheiten, wenn sie ihre Tochter gescholten hatte, weil sie die Gesellschaft einer »gewöhnlichen Ladenmamsell« der eines Mädchens ihrer eigenen Schicht vorzog.
»Miranda hatte eine Affäre mit einem Mann, den sie im Greenwich Park kennenlernte. Er war ein Schuft und noch dazu verheiratet. Die arme Miranda glaubte, dass er sie liebte, aber sobald sie ihm erzählte, dass sie ein Kind erwartete, machte er sich aus dem Staub. Sie riskierte bei der Abtreibung ihr Leben, weil ihr klar war, dass Sie sie verstoßen würden. Natürlich habe ich nicht den Wunsch, den Namen meiner besten Freundin in den Schmutz zu ziehen«, fuhr Belle fort. »Aber wenn sie erlebt hätte, was Sie meiner Tante und mir angetan haben, wäre sie von Ihrem Verhalten so angewidert gewesen, dass sie mich ermutigt hätte, alles, was ich über sie weiß, zu benutzen, um Schande über Sie zu bringen.«
Wieder machte Belle eine Pause, um ihre Worte für sich selbst sprechen zu lassen. »Ich habe Miranda lieb gehabt«, sagte sie. »Und sie mich auch. Tatsächlich war ich der einzige Mensch, dem überhaupt etwas an ihr lag, bis sie Will Fergus traf, den amerikanischen Sergeant, den sie in Frankreich kennenlernte und den sie heiraten wollte. Ich wette, Sie haben nicht einmal auf seinen Brief geantwortet, den er Ihnen nach Mirandas Tod schrieb, nicht wahr?«
Die Frau öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder.
»Das dachte ich mir«, sagte Belle. »Und er ist ein guter Mann. Miranda war noch nie in ihrem Leben so glücklich. Doch Sie können nicht verstehen, warum er und ich so betroffen über ihren Tod waren, weil Sie sich nie etwas aus ihr gemacht haben. Was für eine Frau sind Sie eigentlich, dass Sie nicht einmal Ihr eigenes Kind lieben können?«
»Ich habe sehr an Miranda gehangen«, antwortete Mrs. Forbes-Alton schwach.
»Das ist nicht wahr. Sie hatte völlig recht, als sie annahm, dass Sie sie vor die Tür gesetzt hätten, wenn Sie etwas von ihrer Schwangerschaft geahnt hätten. Auch das Glück meiner Tante haben Sie zerstört, und bevor Sie fragen: Ja, sie weiß alles über Miranda, doch sie hat nie ein Sterbenswörtchen verraten, nicht einmal, als Sie so gemein waren. Aber ich bin nicht so gütig wie Mrs. Franklin. Ich will so etwas wie Wiedergutmachung.«
»Wie viel wollen Sie?«
Belle warf den Kopf zurück und lachte. »Sie glauben, dass ich Geld von Ihnen will? Ich würde nicht mal einen abgelegten Mantel von Ihnen annehmen, nicht einmal, wenn ich dem Tod durch Erfrieren nahe wäre. Ich habe Ihnen bereits erklärt, was ich will, nämlich dass Mrs. Franklin wieder voll und ganz in das Gesellschaftsleben hier im Ort integriert wird. Ich will, dass Sie sie in der Kirche vor all diesen kleinkarierten Spießern, die sich bei Ihnen einschmeicheln, freundlich grüßen.«
Belle sah sofort, dass die Frau darauf eingehen würde.
»Was noch?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich will, dass Mrs. Franklin wieder glücklich und zufrieden ist, doch dazu müssen Sie mit Mr. Blessards Vorgesetzten bei dem Käseblatt reden, für das er arbeitet. Behaupten Sie, dass er Ihnen die Worte im Mund verdreht hat, als Sie vor Kummer um Ihre Tochter außer sich waren, und dass alles, was er über mich geschrieben hat, Lügen sind. Und sorgen Sie dafür, dass Blessard entlassen wird.«
»Wie soll ich das anstellen?«
Belle freute sich, wie verängstigt die Frau aussah.
»Wenn Sie und Ihr Mann es schaffen, Ihren Söhnen für die Dauer des Krieges Schreibtischposten in Whitehall zu verschaffen, sollte das kein Problem sein. Sie müssen ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die Zeitung wegen übler Nachrede verklagen könnte, da ich in Paris lediglich das Handwerk der Modistin gelernt habe. Und Sie können betonen, dass mein Mann ein Kriegsheld ist und ich im Krieg Verwundete im Royal Herbert versorgt und in Frankreich Rettungswagen gefahren habe. Sobald eine Entschuldigung gedruckt und diese hässliche Geschichte ein für alle Mal aus der Welt ist und meine liebe, gute Tante wieder hocherhobenen Hauptes durch den Ort gehen kann, bin ich zufrieden.«
»Ich weiß nicht, ob ich das zuwege bringe.«
Belle zuckte mit den Schultern. »Sie wissen ja, was passiert, falls es Ihnen nicht gelingt. Ich werde reden, und zwar sehr laut. Sicher wollen Sie die Chancen Ihrer anderen Tochter auf eine gute Partie nicht zunichtemachen – wie ich höre, hat sie sich mit einem Viscount verlobt.«
Blankes Entsetzen zeigte sich auf dem Gesicht der Älteren. »Tun Sie das bitte nicht, Mrs. Reilly!«, flehte sie. »Ich bedauere es sehr, dass ich Sie und Ihre Tante gekränkt habe. Ich war nach Mirandas Tod vor Kummer wie von Sinnen, und dieser Reporter hat mir Worte in den Mund gelegt. Aber ich werde versuchen, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Es zu versuchen reicht nicht. Ich gebe Ihnen zwei Wochen. Vergessen Sie nicht, dass ich nichts mehr zu verlieren habe. Der Krieg hat meinen Mann zum Krüppel gemacht, ich habe meine beste Freundin und meinen guten Namen verloren. Für Sie hingegen steht alles auf dem Spiel. Wenn die Angelegenheit nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen bereinigt ist, starte ich meine eigene kleine Kampagne gegen Sie und Ihre Familie.«
Damit stand Belle auf, strich ihren Mantel glatt und schritt stolz zur Tür. »Nicht nötig, mich zur Tür zu begleiten«, sagte sie. »Ich komme immer allein zurecht.«