KAPITEL 19

»Das Gute an der vielen Arbeit ist, dass keine Zeit zum Nachdenken bleibt«, sagte Belle zu Vera, als sie sich zwischen den Fahrten zum Bahnhof Tee und ein Sandwich schnappten.

Es war mitten in der Nacht. Die Lazarettzüge fuhren jetzt aus Angst vor Bombardierungen nachts. Deutsche Bombenflugzeuge nahmen die Bahnlinien zum Ziel, um die Versorgung und die Telefonleitungen zu unterbrechen, und schreckten nicht davor zurück, Kranke und Verwundete in die Luft zu jagen. Daher waren die Rettungswagen jetzt im Dunkeln unterwegs und fuhren ohne Licht, was das Fahren auf den engen, gewundenen Straßen noch schwieriger machte.

Außerdem regnete es schon wieder. Es hieß, dass es der feuchteste und kälteste Sommer seit Menschengedenken war, und Belle, die sich an drückend heiße Sommernächte in Seven Dials erinnerte, sah keinen Grund, dieser Annahme zu widersprechen.

Veras sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Dir mag die harte Arbeit vielleicht zusagen, doch ich hätte ganz gern ein bisschen Zeit, um mir die Haare zu waschen und nach Hause zu schreiben. Ich weiß, dass ich wie eine Vogelscheuche aussehe, und Ma dreht wahrscheinlich durch, wenn sie nicht bald von mir hört.«

Belle nahm an, dass sie auch verheerend aussah; es war lange her, seit sie aufgehört hatte, sich Gedanken wegen ihres Aussehens zu machen. »Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll«, seufzte sie. »Ich bringe es nicht fertig, ihnen zu erzählen, dass es wieder regnet und wir durch Pfützen waten müssen, um zu unseren Wagen zu kommen. Das habe ich schon oft genug berichtet. Dass das Essen hier schlecht wie eh und je ist und wir nie freihaben, ist alles andere als neu und stinklangweilig. Der einzige Unterschied bei den Verwundeten besteht darin, dass sie jetzt mit einer noch dickeren Schlammschicht überzogen sind als früher. Vielleicht würden sie daheim gern wissen, dass der Blutzoll in Ypern nicht so hoch ist wie an der Somme, doch ich mag nicht einmal daran denken, wie Soldaten in Bombentrichtern ertrinken, und schon gar nicht darüber schreiben.«

Die dritte Ypern-Schlacht, der ein fünfzehntägiges Bombardement vorausgegangen war, bei dem vier Millionen Patronen abgefeuert wurden, hatte am einunddreißigsten Juli begonnen. Der Lärm der Geschütze war so laut, dass behauptet wurde, man könne es bis England hören, und im Lazarett klang es, als wäre das Kampfgeschehen nur wenige Meter entfernt.

Es hieß, dass das Wetter am Morgen des Einunddreißigsten trocken, der Boden aber nach zwei Jahren permanenten Bombardements verbrannt und von tiefen Kratern ausgehöhlt war. Dem Vernehmen nach war die Infanterie mit hundertdreißig Panzern vorgerückt und hatte gute Chancen, das Gheluvelt Plateau südöstlich von Ypern zu erreichen. Den Deutschen diesen Abschnitt zu nehmen galt als wichtig, weil die leichte Anhöhe ein guter Beobachtungsposten für Bewegungen im umliegenden Flachland war.

Aber im Lauf des Nachmittags holten die Deutschen zu einem so massiven Gegenschlag aus, dass sich das Britische Expeditionskorps, das die Vorhut bildete, fluchtartig zurückziehen musste. Hinzu kamen starke Wolkenbrüche, die den ohnehin schon aufgeweichten Boden in Matsch verwandelten. Andere Divisionen setzten die Offensive fort, doch der Regen hielt die nächsten drei Tage an. Kommunikationswege wurden unterbrochen, Männer ertranken in Bombentrichtern, Panzer versanken im Schlamm, Pferde und Maultiere blieben stecken. General Haig stellte die Offensive ein.

Insgesamt wurde die Zahl der Gefallenen einschließlich der französischen Soldaten auf ungefähr fünfunddreißigtausend geschätzt, und man ging davon aus, dass die Verluste der Deutschen ähnlich hoch waren.

Die erste Welle der Verwundeten traf am ersten August ein, und seither kamen mit jedem Tag mehr. Belle hatte keine Ahnung, ob Jimmy und Etienne noch am Leben waren, und auch Vera wusste nichts über das Schicksal ihrer Brüder. Sie mussten sich an die Hoffnung klammern, dass keine Nachricht eine gute Nachricht war.

Aber was die Verwundeten über die Zustände bei Ypern erzählten, glich einem Albtraum. Diese Männer hatten noch Glück gehabt, weil es ihnen gelungen war, sich in den überfluteten Bombentrichtern über Wasser zu halten, bis sie von Sanitätern gerettet worden waren. Einige der Schwerverwundeten berichteten, wie sie versucht hatten, Freunde aus dem Schlamm zu ziehen, nur um mitanzusehen, wie sie immer tiefer hineinrutschten und schließlich versanken.

Auch wenn Belle und Vera und die anderen Fahrer weder imstande waren, die Gesamtsituation zu überblicken, noch Haigs Strategie zu durchschauen, schien das Ganze genauso sinnlos zu sein wie die Schlacht an der Somme: ungeheure Verluste, um einige wenige Meter Boden wettzumachen, die später bei einem Gegenangriff der Deutschen wieder verloren gingen.

Auf den Verbandstationen im Feld und in den Lazarettzügen bemühten sich die Krankenschwestern, die Verwundeten vom Schlamm zu reinigen und in die blauen Krankenhauskittel zu stecken, aber dennoch waren viele Männer bei der Ankunft immer noch von Schlamm bedeckt. Deshalb hatten Belle und Vera keine Zeit zum Haarewaschen oder Briefeschreiben. Sobald sie die letzten Verwundeten ins Lazarett gebracht hatten, gingen sie in die einzelnen Stationen, um auch dort zu helfen. Die regulären Krankenstationen waren zum Bersten gefüllt, und man hatte große Zelte errichtet, um die übrigen Verwundeten aufzunehmen. Viele der Ärzte und Schwestern hatten achtundvierzig Stunden ohne Unterbrechung gearbeitet.

»Captain Taylor möchte, dass wir morgen die Männer, die nach Hause dürfen, nach Calais bringen«, berichtete Vera, während sie ihr Sandwich hinunterschlang. »Das bedeutet wohl, dass noch mehr Verwundete kommen.«

»Tja, das werden wir wahrscheinlich als Letzte erfahren. Doch lass uns lieber wieder zum Bahnhof fahren! Keine Ruhe für die Gottlosen.«

»Du hast in letzter Zeit gar nicht du-weißt-schon-wen erwähnt«, sagte Vera, als sie zu ihren Rettungswagen zurückgingen.

»Ich versuche, nicht an ihn zu denken«, erwiderte Belle. »Allerdings mit wenig Erfolg.«

Vera legte mitfühlend eine Hand auf Belles Arm. »Kaufen wir uns morgen in Calais irgendwo was zu trinken und saufen uns die Hucke voll, wenn wir wieder hier sind. Vielleicht hilft uns das, ein, zwei Stunden nicht an die Menschen zu denken, die wir lieben.«

Belle dachte über Veras Vorschlag nach, als sie zum Bahnhof fuhr. David schlief halb. Wie die meisten von ihnen hatte auch er tagsüber in den Krankenstationen geholfen. Im Lazarett waren alle am Ende ihrer Kräfte, nicht nur von den endlosen Stunden der Arbeit, sondern von dem unfassbaren Grauen, das sie Tag für Tag sahen und für das kein Ende in Sicht zu sein schien. Belle und Vera waren nicht die Einzigen, die sich um Freunde oder Verwandte an der Front sorgten; fast jedem ging es genauso wie ihnen. Dazu kamen die Familien daheim, die mit der Lebensmittelknappheit zu kämpfen hatten und Bombenangriffen ausgesetzt waren, um Angehörige in Frankreich bangten und sich fragten, ob das Leben je wieder so sein würde, wie es vor dem Krieg gewesen war.

Mogs Briefe hatten sich seit Blessards Zeitungsartikel über Belle sehr verändert. Es gab keinen Klatsch und Tratsch mehr, stattdessen berichtete sie über das Einkochen von Marmeladen und Einmachen von Früchten oder von Sonntagsausflügen mit Garth. Sie gab sich große Mühe, heiter zu klingen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie sich in sich selbst zurückgezogen hatte.

Schuldgefühle nagten an Belle – wegen ihrer Vergangenheit, die Mogs Leben so sehr beeinträchtigte, und wegen ihrer Untreue Jimmy gegenüber. Er schrieb, sooft er konnte, doch auch in seinen Briefen schwang Erschöpfung mit. Was Etienne anging, so schien sein unerschütterlicher Optimismus manchmal fast beängstigend zu sein, denn Belle wusste, dass jedes Glück, das sie mit ihm finden könnte, auf Kosten anderer gehen würde. In all ihren Briefen an ihn schrieb sie, dass es niemals so einfach sein würde, wie er es sich vorstellte. Seine einzige Antwort war stets folgende: Er sei bereit zu warten, egal, wie lange.

Belle hatte das Gefühl, dass sie nur noch wartete. In einer Schlange anderer Rettungswagen, um neue Verwundete aufzunehmen, auf Briefe, auf das Ende des Krieges und auf den Tag, an dem sie aufwachte und sich nicht mehr so sehr nach Etienne sehnte, dass es wehtat.

Als Etienne morgens in einem provisorischen Biwak als Schutz vor dem Regen gerade sein Gewehr reinigte, wehte der Klang englischer Stimmen zu ihm herüber. Es war die erste Schlacht, in der sein Regiment Seite an Seite mit den Tommys kämpfen würde. Er hatte größte Hochachtung vor der Ausdauer und Zähigkeit der Briten. Sie kämpften tapfer und beharrlich und zeigten wesentlich weniger Anzeichen der Apathie und Erschöpfung, die vielen Franzosen zu schaffen machten.

Er glaubte, am Vorabend einen flüchtigen Blick auf Jimmy Reilly erhascht zu haben, wie er gerade half, eine Trage zur Verbandstation zu bringen, hatte sich aber gesagt, dass ihm sein Verstand einen Streich spielen musste. Schließlich gab es in den Reihen der Engländer mit Sicherheit viele hochgewachsene rothaarige Männer. Doch der Gedanke ließ Etienne nicht los, und er ertappte sich dabei, wie er immer wieder die Ohren spitzte, um zu hören, was die Engländer redeten.

Die Gesprächsfetzen, die er gelegentlich auffing, waren die unter Soldaten üblichen Scherze und sagten ihm nichts, und er fragte sich, was es ihm nützen würde zu wissen, dass Jimmy in der Nähe war. Die Antwort lautete, dass diese Tatsache eine Ablenkung wäre, die er nicht brauchte. Belle lenkte ihn schon genug ab; die Erinnerungen an sie gingen ihm unablässig durch den Kopf, und wenn er nur eine Sekunde lang die Augen schloss, sah er ihr schönes, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, ihre klaren blauen Augen, die ihn anlächelten, und ihre weichen üppigen Lippen, die darauf warteten, von ihm geküsst zu werden.

Manchmal bereute er es, sie im Lazarett besucht zu haben. Wenn jene gemeinsame Nacht nicht wäre, müsste Belle jetzt nicht unter Schuldgefühlen leiden. Er verachtete sich, weil er sie in eine so furchtbare Lage gebracht hatte, und doch sehnte er sich Tag und Nacht nach ihr.

Etienne stand auf, warf sich das wasserdichte Cape über die Schultern und betrachtete die Umgebung. Die völlig durchnässten Zelte ragten aus dickem, klebrigem Schlamm. Das Elend dieser Szenerie fand seinen Widerhall in den Gesichtern der Männer, die Zigaretten rauchten, sich zu rasieren versuchten, lauwarmen Kaffee tranken, Briefe schrieben oder ihre Gewehre reinigten. Sie alle hatten beinahe vergessen, wie es war, sauber und trocken zu sein, eine warme Mahlzeit an einem Tisch einzunehmen und in einem behaglichen Bett zu schlafen. Etienne und all die anderen sollten später am Tag vorrücken, hinein in das verfluchte Niemandsland, wo Granaten und schwere Geschütze auf beiden Seiten dieser Schlammwüste Soldaten in Stücke reißen würden. Der Geruch des Todes, ohrenbetäubendes Trommelfeuer und die grauenhafte Vorstellung, dass dieser Tag für jeden von ihnen der letzte sein könnte – das war das Los des Soldaten.

In seinen Zwanzigern hatte Etienne jeden Kampf genossen. Aber seine Faust in das Gesicht oder in den Bauch eines Mannes krachen zu lassen, der Ärger machte, war etwas ganz anderes; hier hieß es, töten oder getötet werden. Er hatte inzwischen genug Deutsche aus der Nähe gesehen, um zu wissen, dass sie genau wie die Männer, die ihm unterstanden, ganz junge Burschen waren. Es verschaffte Etienne keine Genugtuung, einen Mann vor Schmerzen schreien zu hören, wenn eine Kugel ihr Ziel traf. Bei den Gelegenheiten, wenn sie einen deutschen Bunker gestürmt und sich verängstigten Jungen gegenübergesehen hatten, die »Nicht schießen!« schrien, war ihm schlecht geworden. Wie viele der Soldaten hier, würden diese grotesken Szenen Etienne immer wieder in seinen Albträumen heimsuchen, lange nachdem der Krieg vorbei war.

Um zwei Uhr nachmittags wurde zum Angriff geblasen, und Etienne und sein Trupp sprangen aus ihrem Schützengraben ins Niemandsland, bis zu einem gewissen Grad geschützt von den schweren Geschützen hinter ihnen, die auf die feindlichen Linien feuerten. Es war von Anfang an eine einzige Qual. Die Tornister auf ihren Rücken wogen an die achtzig Pfund, einige Männer trugen dazu noch Spaten, und das zusätzliche Gewicht ließ sie bis zu den Knien im Schlamm versinken. Bei jedem Schritt kostete es mehr Mühe, den Fuß, der von dem matschigen Boden aufgesaugt wurde, aus dem Schlamm zu ziehen, und der strömende Regen machte es unmöglich, mehr als ein paar Meter nach vorn zu sehen. Etienne wusste, dass zehn Männer pro Meter Frontlinie stehen und nach einem derart dauerhaften Beschuss theoretisch in der Lage sein sollten, die feindlichen Stellungen zu erobern und zu halten.

Aber in der Theorie war nicht bedacht worden, dass aus einer Distanz von eineinhalb Kilometern leicht eine von sieben bis acht Kilometern wurde, weil die Männer riesige, überflutete Bombentrichter umgehen mussten. Dann begann das feindliche Bombardement, noch bevor sie dreißig Meter zurückgelegt hatten. Es gab keine Möglichkeit, irgendwo Schutz zu suchen. Nicht ein Baum oder Haus war an diesem gottverlassenen Ort geblieben. Nur hier und da ragte ein einzelner verkohlter Baumstamm ohne Rinde und Blätter wie ein Mahnmal der Verwüstung empor.

Die Granaten, die im Boden einschlugen, schleuderten schlammige Wasserfontänen dreißig Meter und mehr wie gewaltige Geysire in die Luft, die die Sicht noch mehr verschlechterten. Es war buchstäblich unmöglich, die Orientierung zu behalten; Etienne sah Tommys, die sich unter seine Leute verirrt hatten, und zweifellos fanden sich genauso viele Franzosen bei den Engländern wieder.

Etienne blieb stehen, um denen, die zurückgefallen waren, mit einer Handbewegung zu verstehen zu geben, dass sie nachrücken sollten. Als sie durch den Schlamm stolperten, hoffte er, dass sie seinen letzten Befehl vor dem Vormarsch befolgt hatten, nämlich, darauf zu achten, dass ihre Streichhölzer trocken blieben. Einige der neueren Rekruten schienen sich darüber zu wundern, aber den Grund für seinen Befehl würden sie später erkennen. Das Einzige, was schlimmer war, als in einem Granattrichter festzusitzen, war die Feststellung, dass man sich nicht einmal eine Zigarette anzünden konnte.

Als Etienne sich zu seinen Männern umdrehte, erkannte er an der Zahl der Engländer, die nachrückten, dass die beiden Armeen zu dem Zeitpunkt, wenn sie die deutschen Linien erreichten, hoffnungslos miteinander vermischt sein würden. Wieder explodierte eine Granate, und er sah, wie zwei seiner Männer durch die Luft geschleudert wurden, bevor sie in einem nassen Krater landeten. Dann explodierte noch eine Granate, und ein Tommy erlitt das gleiche Schicksal.

Nicht mehr ganz sicher, ob er eine gerade Linie halten konnte, jedoch imstande, durch den Regen hindurch zu erkennen, dass zwei Deutsche eine Haubitze bemannten und Männer wie Fische in einem Becken abknallten, hielt er kurz inne, um auf sie zu feuern. Ein paar Sekunden lang hatte er die grimmige Genugtuung, zu sehen, wie sie über ihrem Geschütz zusammenbrachen. Als er sich wieder umschaute, konnte er hinter sich keinen seiner Männer mehr sehen, nur Tommys, die sich entschlossen zu den deutschen Linien vorkämpften.

Etienne hatte die Gräuel von Verdun überlebt und war auch an der Endphase der Schlacht an der Somme beteiligt gewesen, und aufgrund dessen, was als »hervorragende Tapferkeit« bezeichnet wurde, nämlich die Tatsache, dass er seinen verwundeten Capitaine gerettet hatte, war er zum Sergeant befördert worden. Aber so furchtbar jene Schlachten auch gewesen waren, diese hier war seiner Meinung nach wesentlich schlimmer. Die Kombination aus rutschigem, aufgeweichtem Boden, Wolkenbrüchen und den verdammten, mit stinkendem Wasser gefüllten Bombentrichtern, in denen häufig Leichen schwammen, machte ein Vorrücken nahezu unmöglich. Allein inmitten eines Hagels explodierender Granaten, suchte Etienne hinter einem halb eingesunkenen Panzer Schutz und hoffte, dass sein Trupp zu ihm fand und sie gemeinsam weiter vorrücken konnten. Während er wartete, feuerte er mit dem Gewehr auf zwei Deutsche, die unablässig auf die Männer schossen, die auf sie zuliefen. Eine verirrte Kugel erwischte ihn am Unterarm, aber trotzdem feuerte er weiter, fest entschlossen, nicht aufzuhören, bis er die beiden entweder getötet oder gezwungen hatte, in Deckung zu gehen.

Ein Tommy lief an ihm vorbei, so dicht, dass Etienne eine Feuerpause machen musste, um ihn nicht zu treffen. Der Soldat rutschte im Schlamm aus, und als er stürzte, fiel ihm der Helm vom Kopf und gab den Blick auf rotes Haar frei.

Etienne wusste instinktiv, dass das derselbe Mann war, den er in der vergangenen Nacht für Jimmy gehalten hatte. Noch während er ihn anstarrte und überlegte, ob er ihm helfen sollte, explodierte zwischen ihnen eine Granate.

Einen Moment glaubte Etienne, von der Explosion blind geworden zu sein, weil er nichts sehen konnte. Doch obwohl er seine Armwunde spürte, empfand er keine Schmerzen im Gesicht, und als er es vorsichtig anfasste, stellte er fest, dass es einfach von dickem Schlamm bedeckt war. Er tastete nach seiner Feldflasche und spritzte sich Wasser in die Augen. Zu seiner Erleichterung konnte er wieder sehen.

Aber der Rothaarige hatte nicht so viel Glück gehabt. Er lag zusammengekrümmt am Rand eines Granattrichters. Sein linkes Bein und sein linker Arm waren eine einzige blutige Masse. Als er versuchte, sich zu bewegen, sah Etienne sein Gesicht. Es war Jimmy.

Dieser Mann hatte ihn so manche Nacht bis in seine Träume verfolgt. Es war immer derselbe Traum: Jimmy auf einer Seite, Belle auf der anderen. Etienne sah von einem flehenden Gesicht ins andere und wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er vor ihnen weglaufen wollte, stellte er fest, dass er es nicht konnte.

Jetzt wirkte der Traum prophetisch. Und wie in seinem Traum wusste Etienne nicht, was er tun sollte.

Er hatte Jimmy sympathisch gefunden, als er ihn bei Verdun kennengelernt hatte, und sein Instinkt drängte ihn, zu ihm zu laufen und ihm zu helfen. Doch dann sah er Belle vor sich und wusste, dass das die Lösung ihrer Probleme sein könnte. Wenn der Mann hierblieb, würde er verbluten; vielleicht erledigte ihn eine weitere Granate, ehe es dazu kam. Nichts und niemand würde mehr zwischen ihnen stehen.

Aber noch während er hinsah, rutschte Jimmy über den Rand des Trichters in das übel riechende Brackwasser. Seine Hand reckte sich nach oben, und seine Finger bewegten sich hin und her, als er verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas festzuklammern.

Der Anblick seiner Hand war es, der Etienne erschütterte. Diese Hand hatte er an jenem Tag bei Verdun geschüttelt. Er konnte nicht zusehen, wie ein Mann vor seinen Augen ertrank, schon gar nicht einer, den er mochte.

Wieder explodierte in der Nähe eine Granate. Etienne schoss hinter dem Panzer hervor, packte Jimmy Reilly am Handgelenk und zerrte ihn aus dem Trichter. Jimmys Gesicht war mit Schlamm überzogen, und er litt so starke Schmerzen, dass er die Nähe eines anderen gar nicht wahrzunehmen schien. Etienne schaute sich um. Anscheinend waren die letzten Einheiten vorgerückt; von seinen Männern war nichts zu sehen. Viele andere, Engländer wie Franzosen, lagen tot oder verwundet auf dem Boden, aber der Beschuss war immer noch zu heftig, als dass die Sanitäter hätten kommen können, um die Verwundeten zu holen.

Eine der Vorschriften bei der Armee lautete, dass kein Soldat aus einem Angriff ausbrechen durfte, um einen anderen zu retten; ihre Aufgabe war es, die deutsche Frontlinie zu stürmen. Jimmy konnte jetzt nicht mehr ertrinken, doch er könnte von einer weiteren Granate getroffen werden.

Etienne war hin- und hergerissen. Als Sergeant war es seine Pflicht, seine Leute zu finden und anzuführen, aber der Gedanke an Belles Leid war zu stark. Er konnte Jimmy nicht seinem Schicksal überlassen. Er sah ihre tränenfeuchten Augen vor sich und wusste, dass er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, ihren Mann hier sterben zu lassen, auch wenn damit der Weg zu Belle für ihn selbst frei würde.

Nachdem Etienne sich verzweifelt nach einem Sanitäter umgesehen hatte, jedoch keinen entdecken konnte, kniete er sich neben Jimmy und wischte ihm den ärgsten Dreck aus dem Gesicht. »Ich bin hier, Jimmy«, sagte er. »Sie sind schwer verwundet, doch ich denke, ich kann Sie hinter unsere Linien zurücktragen.«

Jimmy blickte zu ihm auf, die braunen Augen voller Qual. »Sie können mir nicht helfen«, brachte er mühsam heraus. »Sie bekommen bloß Ärger, und ich bin sowieso erledigt.«

»Überlassen Sie es mir, das zu beurteilen!«, sagte Etienne. »Es wird höllisch wehtun, wenn ich Sie trage, aber ich kann Sie nicht hierlassen.«

Etienne schnallte seinen Tornister ab und zog Jimmy hoch, bis er auf seinem gesunden Bein stand. Da er drauf und dran war, das Bewusstsein zu verlieren, drückte Etienne seinen Arm in Jimmys Bauch und hievte ihn auf seine Schultern. Er schaffte es, im Aufstehen sein Gewehr zu nehmen, und ging zurück zu den Linien der Alliierten.

Es war schwer genug gewesen, sich allein so weit ins Niemandsland durchzuschlagen, doch sich mit dem Gewicht des leblosen Jimmy auf dem Buckel durch den schweren Schlamm zu kämpfen und dabei den Granaten auszuweichen, die rings um ihn explodierten, war nahezu unmöglich. Aber Etienne schleppte sich weiter, obwohl ihm jeder Muskel, jede Sehne wehtat. Als er einmal fast in einen überfluteten Granattrichter gestolpert wäre, zweifelte er an seinem Verstand.

Ein paar Hundert Meter von der Frontlinie entfernt tauchten französische Sanitäter mit einer Trage auf.

»Alles wird gut, Jimmy«, sagte Etienne, als sie näher kamen. »Ich verlasse Sie jetzt. Ich muss zu meinen Männern zurück.«

Die Sanitäter hoben Jimmy von seinen Schultern und legten ihn auf die Trage.

»Prenez bien soin de lui! Son nom est James Reilly«, sagte er zu ihnen.

Als die Sanitäter die Linie erreichten und andere Männer kamen, um ihnen zu helfen, drehten sie sich noch einmal zu dem Mann um, der den Engländer gerettet hatte. Sie wussten, dass auch er verwundet war, weil sein Uniformhemd zerrissen war und frisches Blut über seine Hand lief. Doch er rannte in vollem Tempo auf die deutschen Linien zu, sprang über Trichter und jagte an Hindernissen vorbei. Verwundert schüttelten sie die Köpfe. »Il doit être fou«, sagte einer von ihnen.

»Wie war der Name des Mannes, der mich hierhergebracht hat?«, fragte Jimmy später, nachdem er Morphium gegen die Schmerzen bekommen hatte. Er hatte nur bruchstückhafte Erinnerungen an das, was geschehen war. Aber er wusste, dass er das Gesicht des Mannes kannte und dass der andere ihn Jimmy genannt hatte.

»Je suis française«, sagte die Krankenschwester und zuckte mit den Schultern, als wäre das Thema damit beendet.

»Er war Franzose«, beharrte Jimmy. Der Mann hatte zwar Englisch mit ihm gesprochen, aber er wusste, dass er die blaue französische Uniform getragen hatte. Doch es fiel ihm einfach zu schwer, zu versuchen, sich der Krankenschwester verständlich zu machen, weil er von dem Schmerzmittel immer benommener wurde.

Später wurde er wieder transportiert. Er hörte, wie jemand Hôpital de Campagne sagte, was nach einem Feldlazarett klang. Die Schmerzen kehrten zurück, als er mit anderen Männern im Rettungswagen über holprige Straßen fuhr. Aber gerade als er fragen wollte, wie schwer verletzt er war, bekam er eine Spritze und schlief bald darauf ein.

Es war heller Tag, als Jimmy aufwachte, und er lag in einem Gebäude, das wie eine Scheune mit rohen Steinmauern aussah. In dem Licht, das durch zwei kleine Fenster fiel, sah er, dass ungefähr zwanzig weitere Männer hier untergebracht waren.

Er war durstig und versuchte, sich aufzusetzen, doch zu seinem Entsetzen war sein linker Arm verschwunden. Über der Stelle, wo früher sein Ellbogen gewesen war, war nur ein dick bandagierter Stumpen. Als eine Krankenschwester bemerkte, dass er sich zu bewegen versuchte, kam sie zu ihm und legte einen Finger an ihre Lippen, um ihm zu bedeuten, still zu sein. Sie half ihm, sich aufzusetzen und einen Schluck Wasser zu trinken, und erst als Jimmy zum Bettende schaute, fiel ihm auf, dass sich unter der Decke nur der Umriss eines Beins abzeichnete.

»Man hat mir mein Bein und meinen Arm abgenommen?«, keuchte er und zeigte dorthin, wo seine Gliedmaßen früher gewesen waren.

Sie nickte und tätschelte seine verbliebene Hand.

Er legte sich wieder hin, nachdem er getrunken hatte, schloss die Augen und versuchte, sich einzureden, dass das alles nur ein böser Traum war. Es fühlte sich an, als wären Arm und Bein noch vorhanden; er meinte sogar, Finger und Zehen bewegen zu können. Doch als er seine Hand unter die Bettdecke schob, ertastete er nur sein rechtes Bein. Und sein linker Arm rührte sich nicht.

Er verbiss sich die Tränen, als er dalag und dem leisen Stöhnen der anderen lauschte. Es war kein Kanonendonner zu hören, aber ob Waffenruhe herrschte oder ob er weit hinter die Linien gebracht worden war, wusste Jimmy nicht. Draußen konnte er den Regen rauschen hören. Es schien seit Wochen zu regnen. Jetzt würde man ihn heimschicken, doch wie konnte er so nach Hause kommen – als Krüppel?

Im Pub würde er seinem Onkel keine Hilfe mehr sein. Wenn er einen Arm oder ein Bein verloren hätte, wäre er vielleicht noch irgendwie zurechtgekommen, aber welche Möglichkeiten gab es jetzt noch für ihn? Und was war mit Belle? Würde sie ihn in diesem Zustand haben wollen?