Prolog

Space Seed[1]

»Der Weltraum. Unendliche Weiten …«

»Halt die Schnauze.«

»Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise …«

»Ich hab gesagt, du sollst die Schnauze halten.«

»… das mit seiner vierhundert Mann starken Besatzung fünf Jahre lang unterwegs ist, um neue Welten zu erforschen, neues Leben, neue Zivilisationen …«

»Du gehst mir auf den Sack.«

»… stößt sie in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.«

»Musst du es mir ständig unter die Nase reiben?«

First Lieutenant Mallory Kaplan vom Sanitätsdienst der US Air Force beendete ihren Vortrag und lächelte triumphierend.

»Eigentlich gibt der Text die aktuelle Lage nicht ganz korrekt wieder«, sagte sie. »Wo ich hingehe, waren schon viele Menschen. Aber ich werde der erste Mensch in diesem Raum sein, der die Reise macht.«

Der Raum, den sie meinte, war ein unterirdischer Bunker. Sie und ihr vorgesetzter Wachoffizier, Captain Les Marple von der US Air Force, verbrachten hier pro Woche vier Acht-Stunden-Schichten, in denen sie auf Computermonitoren Bilder und Anzeigen studierten. Während der langen und langweiligen Zeitspanne, in der im Inneren der völlig automatisierten Anlage nichts ihre Aufmerksamkeit erforderte, schlugen sie die Zeit tot, indem sie sich gegenseitig auf den Geist gingen.

»Du bist unprofessionell«, sagte Marple. »Ich bin dein Vorgesetzter. Erweise mir gefälligst Respekt.«

»Ich kann einfach nix dagegen machen«, sagte Kaplan. »Ich bin so aufgeregt … wegen meiner Uniform.«

»Du verkleidest dich?«

»Natürlich. Das ist doch das Tolle an einer Star Trek-Convention. Ich gehe als einer der größten Captains, der die Enterprise je befehligt hat.«

»Meinst du Kirk?«

»Kirk ist doch ein Mann.«

»Ich weiß, aber ich glaube, das kriegst du hin.«

Kaplan haute ihm mit ihrem Klemmbrett leicht auf den Schädel.

»Ich gehe als Captain Rachel Green«, sagte sie.

Marple schenkte ihr einen verdutzten Blick.

»Wer zum Henker ist denn das?«, fragte er.

»Sie war Captain der Enterprise-C, die mehrere Jahrzehnte vor der Enterprise-D aus Star Trek: Die nächste Generation Dienst tat. Ein Zeitriss schleuderte sie in die Zukunft und veränderte so den Geschichtsverlauf. Um den Schaden wiedergutzumachen, musste sie in ihre eigene Zeit zurückkehren, obwohl …«

»Ja, ja, ja«, sagte Marple. »Hab ich gesehen. Ich hab mir die Blu-ray gekauft. Aber was bringt es dir, dich als obskurer Charakter zu kostümieren? Dann erkennt dich doch keiner!«

Kaplans listiges Lächeln sagte ihm, dass er ihr in die Falle gegangen war.

»Ja, stimmt genau«, sagte sie übertrieben mitleidig. »Du warst ja noch nie auf der Golf-Con. Du weißt ja gar nicht, dass die Teilnehmer sich am liebsten als unglaublich obskure Trek-Figuren verkleiden! Es ist witzig! Es fing vor fünf Jahren an, auf der ersten Veranstaltung. Wer es schafft, das Wochenende zu überstehen, ohne dass jemand seine Identität errät, gewinnt hundert Mäuse.«

»Scheiß drauf«, sagte Marple. »Ich würde als Picard gehen. Ohne ihn wäre ich nicht zur Luftwaffe gegangen. Ich hab mir fortwährend ausgemalt, ich würde eines Tages den Weltraum erforschen und mein eigenes Schiff befehligen.«

»Ich auch«, sagte Kaplan wehmütig. »Und wie wirst du jetzt damit fertig?«

Marple begutachtete die Umgebung. Der Bunker, in dem die beiden saßen, befand sich auf dem Gelände des Johnson Space Flight Center, ein Stück außerhalb von Houston, Texas. Aber davon wusste der Normalbürger ebenso wenig wie der größte Teil des über ihnen tätigen Stabes. Ihr Wachlokal lag hinter einer Stahltür und öffnete sich nur für jene, die einen Retinascan über sich hatten ergehen lassen: ein matt erhellter Raum mit Betonboden, in dem ein einzelner langer Tisch mit zwei massigen Computermonitoren stand. Die beiden Monitore bildeten den Mittelpunkt ihrer beruflichen Existenz.

»Ist nicht gerade das, was ich mir erträumt habe«, sagte Marple.

»Wenigstens hast du ’ne Glatze wie Picard«, sagte Kaplan.

»Ich hab lieber gar keine Haare als ’ne Janeway-Frisur. Die aus der ersten Staffel, meine ich.«

»Du würdest auch einen guten Orioner abgeben. Weil du jetzt schon grün vor Neid bist.«

Marple wollte gerade sagen, Kaplan solle sich jede Art von Hochnäsigkeit geradewegs in ihre Jeffries-Röhre schieben, als die Monitore vor ihnen ein einzelnes Ping von sich gaben.

»Kammer siebzehn«, sagte Kaplan. Sie wurde sofort dienstlich.

Marples Finger flogen über seine Tastatur. Die körnige Schwarz-Weiß-Übertragung einer von stählernen Mauern umgebenen Kammer wurde auf den Bildschirmen sichtbar. In der Kammer trabte ein kleiner Vierbeiner auf und ab. Dann hielt er an und richtete den Blick in eine Ecke.

»Das Ding hab ich noch nie gesehen«, sagte Kaplan. »Es sieht ja aus, als wäre es teilweise gehäutet.«

»Früher, in den alten Zeiten, als man noch an diesen Dingern gearbeitet hat«, sagte Marple, »hat irgend ein Genie beschlossen, es zu vivisezieren. Vielleicht kann man auch Sezieren sagen. Es ist nicht plangemäß verlaufen. Der Typ, der den Versuch unternommen hat, sitzt in Kammer zweiunddreißig.«

Kaplan trug den Zwischenfall pflichtgemäß in ihr Dienstbuch ein. Es wäre aber nicht nötig gewesen. Alles – absolut alles – was in dieser Anlage passierte, wurde im Kommandozentrum eines anderen Ortes genauestens überwacht. Es war nicht nötig, Meldungen zu versenden. Die Hohen Tiere beobachteten alles in Echtzeit.

»Heute pingt es aber oft«, sagte sie. »Es kommt mir fast so vor, als wären sie unruhig oder so.«

Marple lachte.

»Sie sind nicht unruhig«, sagte er. »Sie laufen in eine Richtung, bis sie an eine Wand stoßen, dann laufen sie in eine andere, bis das Gleiche passiert.«

»Trotzdem«, sagte Kaplan. »Vier Pings sind ’ne Menge.«

Marple wusste, dass sie Recht hatte. Manchmal rührte sich mehrere Schichten lang nichts. Die vier Zwischenfälle, die sie heute vermerkt hatten, waren erwähnenswert. Besonders deswegen, weil alle in den letzten beiden Stunden passiert waren. Jeder Zwischenfall betraf ein anderes Exemplar. Zwei Exemplare hatten sich seit Monaten nicht mehr mausig gemacht. Heute jedoch waren sie aufgestanden und hatten sich bewegt. Beziehungsweise waren herumgestolpert. Oder gekrochen.

Es war noch nie da gewesen. Kaplan und Marple mochten keine Dinge, die noch nie passiert waren. Wenn etwas zum ersten Mal passierte, bestand die Möglichkeit, dass es sich rasch zu etwas Grässlichem entwickelte. Dass sich etwas entwickelte, dem man um keinen Preis gestatten durfte, je das Licht des Tages zu sehen. Wie der Typ in Kammer zweiunddreißig.

»Manchmal wünsche ich mir, ich säße wieder in so ’nem Silo«, sagte Marple. »In so ’ner Raketenabschussbasis. Da hatte ich viel weniger Stress.«

»Hat man dich deswegen für das hier ausgesucht?«, fragte Kaplan.

»Yeah. Mein Psychoprofil entspricht genau dem Erforderlichen: Man brauchte jemanden, dem es nichts ausmacht, viel Zeit unter der Erde zu verbringen und sich das Ende der Welt anzusehen.«

Sein Monitor schlug gedämpften Alarm.

»Was?«, sagte Kaplan. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

Marple begutachtete die Bildschirmanzeige. Er machte große Augen.

»Es gibt ein Problem mit dem Sicherheitssystem«, sagte er. »Da ist echt was Dickes schiefgegangen.«

»Was denn?«, fragte Kaplan.

Marple schaute sich den Bildschirm noch einmal an.

»Die Abschirmung der Kammern neun und zwölf ist im Eimer.«

»Bedeutet das …?«

»Schalte mal in die zwölf rein«, sagte Marple. »Vielleicht ist es nur ein falscher Alarm.«

Ein anderes Schwarz-Weiß-Bild erschien auf den Monitoren. Eine weitere stahlummantelte Kammer. Sie war leer.

»Schalte mal nach draußen«, sagte Marple.

Das nächste Bild zeigte die Tür von Kammer zwölf. Eine Tür, die, soweit sie wussten, seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet worden war.

Jetzt stand sie weit offen.

»Wir sind erledigt«, sagte Kaplan. »Wir sind voll am Arsch.«

»Reiß dich am Riemen«, sagte Marple. Während er tippte, bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. »Eine Computerpanne hat die Kammer geöffnet. Aber hier sind wir sicher. Nichts kann fünf Zentimeter dicke Stahltüren durchdringen!«

»Verdammt nochmal«, sagte Kaplan. »Da gehen noch weitere Türen auf! Die Abschirmung von Kammer dreißig ist auch im Eimer. Und die von fünfundzwanzig, acht …«

»Hör auf. Ich versteh schon. Prüfe Kammer eins.«

Kaplan schaltete gerade rechtzeitig auf das Gehege um, um zu sehen, wie die Tür sich öffnete: Sie umrahmte ein Rechteck aus undurchdringlicher Schwärze.

Marple und Kaplan musterten den Türrahmen mit einer Mischung aus Erschrecken und Faszination. Die Kameras in dem Raum waren schon vor Monaten ausgefallen. Da niemandem, egal unter welchen Umständen, das Betreten der Kammer erlaubt war, blieb die in diesem Raum lauernde Kreatur weiterhin ein Geheimnis.

»Vielleicht ist sie tot«, hauchte Kaplan. Ihr Blick saugte sich wie der Marples an den Bildschirmen fest. »Ich meine wirklich tot.«

Sie hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als etwas aus der Finsternis hervortrottete: Das Ding war zwar nackt, doch war es unmöglich, sein Geschlecht zu bestimmen. Vertrocknete Haut umspannte eng ein Skelett. Haare hatte das Ding nicht mehr. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Nach hinten gezogene Lippen zeigten ein fortwährendes Grinsen.

Und doch ging es aufrecht.

»Der Korridor ist sieben bis acht Meter lang«, sagte Kaplan. »Wir müssen hier raus.«

»Nein«, sagte Marple. »Irgendwas öffnet hier alle rechnergesteuerten Türen. Wenn wir rausgehen, sind wir tot. Nein, noch schlimmer.«

»Alle rechnergesteuerten Türen?«, fragte Kaplan.

Marple begriff, was sie meinte. Beide drehten sich um und gafften zur anderen Seite des Raumes. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass die Tür des Wachlokals aufging.

Draußen, in der Finsternis, ächzte etwas.

Kaplan streckte den Arm aus und packte Marples Hand.

»Tut mir leid, dass ich gesagt habe, du hättest ’ne Glatze«, sagte sie leise.

»Tut mir leid, dass ich gesagt habe, du hättest ’ne Frisur wie Janeway«, erwiderte Marple.

Er schaute zu der Videokamera, die an der Decke hing. Sie übertrug leidenschaftslos alles, was sich hier abspielte, ins externe Kommandozentrum.

»Worauf wartet ihr?«, schrie er. »Macht es endlich, verdammt nochmal!«

Achthundert Kilometer entfernt beugte sich ein Zwei-Sterne-General über die Schulter eines Technikers und beobachtete die letzten Augenblicke im Leben des weiblichen Sanitätsoffiziers und des Ex-Raketenabschussbasiskommandanten. Er kratzte sich am Hals, musterte dann die verängstigten Gesichter der ihn umgebenden sechs Offiziere und ergriff das Wort.

»Das war’s«, sagte er. »Zündet die Notfallbombe. Und verbreitet die Tarngeschichte.«