9

Hope and Fear

Als Jim Richtung Empfang ging, wurden die Schläge gegen die Eingangstür noch lauter. Er ließ sich zu Boden sinken und kroch auf allen vieren zur Rezeption. Dort lugte er um die Ecke.

Er konnte gerade eben das erkennen, was seiner Meinung nach die beiden Fußgänger waren, die er zuvor im Freien beobachtet hatte: ein junger Mann und eine Frau, beide recht gut angezogen. Sie erweckten den Eindruck eines Paares, das ausgegangen war. Nun schlugen sie mit blutigen Fäusten auf das Glas der Tür ein und hinterließen große schmierige rotschwarze Flecken. Ihr eigenartiges lautes Gestöhn führte dazu, dass Jims Nackenhaar sich sträubte.

Aber das war noch nicht das Schlimmste.

Die beiden Gestalten waren nicht mehr allein: Da waren mindestens noch zwölf andere. Alle befanden sich im gleichen Zustand wie das Pärchen.

Eine die Überreste einer UPS-Uniform tragende Frau in den mittleren Jahren sah aus, als hätte sie aus nächster Nähe mit einer Schrotflinte Bekanntschaft gemacht. Ihr Brustkorb wies einen riesigen blutigen Krater auf. Eine andere Frau hatte sich wohl aus einem brennenden Autowrack befreit. Ihre Kleider waren verkohlt und rauchten noch, ihr Haar war versengt, ihr Körper mit dunkelvioletten Verbrennungen übersät. Sie hatte Ähnlichkeit mit einem gegrillten Steak. Unter ihr und der anderen Frau zog sich eine beinlose Leiche mit den Händen vorwärts.

Es gibt keine Zombies, dachte Jim.

Eins wusste er: Sein Instinkt hatte ihn nie getrogen. Irgendetwas war passiert. Dies war wirklich die Dämmerung der durchgedrehten Leichen. Das Ende der Welt stand bevor, und sein armes Schwesterchen wusste von nichts.

Jim zwang sich zu zielgerichtetem Denken. Eins nach dem anderen. Zuerst musste er Dexter finden, um für Abwehr zu sorgen. Dann musste er die restlichen Gäste – besonders Rayna – in einen sicheren Raum bringen, wo man den nächsten Schritt planen konnte.

Jim huschte ans andere Ende der Rezeption. Er holte tief Luft, dann stand er auf und ging so locker wie möglich zu den Aufzügen. Sie waren kaum dreißig Meter weit entfernt, aber es kam ihm vor wie dreihundert Kilometer.

Vielleicht merken sie nichts, dachte er als er hinter dem Tresen hervorkam.

Sie merkten es doch, denn sein plötzliches Auftauchen erzeugte einen Chor ächzender Stimmen. Das Glas wurde noch heftiger traktiert. Aber Jim wusste, dass es halten würde. Es war kugelsicher und zwölf Millimeter dick. Die Zombies konnten den ganzen Tag auf das Glas einschlagen, ohne dass es was brachte. Nur eines konnte die Glastür zertrümmern: ein Fahrzeug. Doch das Steuern eines Fahrzeugs überstieg wohl die Fähigkeiten der vor der Tür randalierenden Bande.

Jims Beine fühlten sich bei den letzten Schritten in Richtung Aufzug an wie Nudeln. Er drückte den Rufknopf und wartete.

Und wartete.

Anfangs bemühte er sich, dem Hauseingang keinen Blick zu schenken. Doch seine Neugier und sein persönlicher Selbsterhaltungstrieb siegten. Wenn es einem dieser Dinger gelingt, ins Haus zu kommen, überlegte er, will ich ihm nicht den Rücken zudrehen.

Deswegen schaute er, während der Aufzug sich alle Zeit der Welt ließ, mal eben kurz hin.

Sein Magen stülpte sich um.

Es sind die Leute aus dem Gässchen, dachte er. Es sind die ganzen Leute, die zum Rauchen oder zum Telefonieren rausgegangen und nicht zurückgekommen sind.

In der Menge erkannte er Kai Opaka – beziehungsweise eine Frau in den mittleren Jahren, die die kunstvollen Gewänder der obersten spirituellen Führerin Bajors trug. Sie hatte eine violette Robe an und trug einen Kopfschmuck, doch ihre Kinnlade war futsch. Ihr Hals war offen und enthüllte ein knorriges Rückgrat. Und da war auch der Bursche, der mit dem Spielzeugphaser rumgemacht und sich über den schlechten Fernsehempfang beschwert hatte: Jemand hatte ein Schnitzmesser in seinen Hals gerammt, aber er stand noch auf den Beinen.

Der Aufzug kündete mit einem Ping seine Ankunft an. Jim hätte es wegen des Lärms der Horde an der Tür fast überhört.

Er stieg ein und drückte den Knopf für den dritten Stock. Er schaute sich um, doch im Lift sah alles normal aus: Kein zerbrochenes Glas, kein Blut auf dem Boden, keine herumliegenden persönlichen Gegenstände.

Die Tür schloss sich und ließ das Ächzen und Klopfen verstummen. Stattdessen hörte Jim Nichelle Nichols ihre Version von That’s Life singen.

Alles fühlte sich normal an. Einen Moment lang – und zum letzten Mal – erlaubte er sich den Luxus der Vorstellung, dass die Lage vielleicht gar nicht so schlimm war, wie sie aussah.

Sein Empfinden dauerte so lange an, wie der Aufzug brauchte, um den dritten Stock zu erreichen und die Tür zu öffnen.