23

Mirror, Mirror

Die Lampen in der Suite waren eingeschaltet, so dass Jim sich problemlos umsehen konnte. Er erspähte zwei Zombies, einen erwachsenen Mann und ein Mädchen, die energisch an der Badezimmertür kratzten.

Da sie ihn nicht wahrnahmen, trat er rasch ins Zimmer. Zuerst warf er einen Blick in die Runde, um sich zu versichern, dass hier wirklich nur zwei Ziele existierten. Dann zielte er sorgfältig mit dem Taser und drückte ab.

Die Pfeile schlugen genau ins Kreuz der Kreaturen. Jim gab Strom. Nach wenigen Sekunden hektischen Zuckens fielen sie zu Boden und rührten sich nicht mehr.

Leia folgte Jim in den Raum. Sie half ihm, die Leichen von der Badezimmertür weg in den Wohnbereich zu schleifen. Sie hinterließen lange Spuren aus grünem Schleim – all das, was von den außerirdischen Augäpfeln übrig geblieben war.

Das Schlafzimmer erwies sich als leer, aber in einem heillosen Durcheinander.

»Schauen wir uns mal das Bad an«, sagte Jim.

Leia klopfte an die Tür und versprach demjenigen, der sich im Bad aufhielt, dass er sicher war und rauskommen konnte.

Keine Antwort.

Rayna schaute ihnen von der Zwischentür aus zu; sie hielt den Knauf fest umklammert.

Leia klopfte erneut und rief noch einmal. Dann wandte sie sich achselzuckend Jim zu. Jim holte mit dem Stiefel aus und trat die Tür ein.

»Hallo?«, fragte er und ging hinein.

Das Bad sah aus wie jedes andere Hotelbadezimmer. Jim sah massenhaft weiße Fliesen, einen Frisiertisch und eine große in den Boden eingelassene Badewanne. In der Wanne lag eine etwa vierzig Jahre alte Frau. Der einzige Teil ihres Körpers oberhalb des Wasserspiegels war ihr Kopf. Er ruhte auf einem aufblasbaren Badekissen. Das Gesicht der Frau zeigte einen Ausdruck heiterer Ruhe. Oder vielleicht auch Erleichterung. Jim wusste es nicht genau.

Auf dem ihm zugewandten Wannenrand bemerkte er ein kleines Foto, das vermutlich die Familie der Frau zeigte. Sie selbst stand lächelnd neben einem Jungen von etwa sieben, einem Mädchen von etwa fünfzehn Jahren und ihrem Ehemann. Jim erkannte das Mädchen und den Ehemann als die beiden Zombies, die an die Badezimmertür gekratzt hatten. Er fühlte sich benebelt, als versuche sein Geist verzweifelt, ohne ihn aus diesem Raum zu fliehen.

»Ich glaube, das kann ich mir nicht ansehen«, sagte Leia.

Jim hingegen konnte den Blick nicht abwenden. Auf dem Wannenrand gegenüber glitzerten die Scherben eines zerbrochenen Spiegelchens. Eine Scherbe war blutig. Jim ging davon aus, dass die Frau sie verwendet hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. In der Falle sitzend, da ihre Familie zu den kannibalischen Toten übergelaufen war, hatte sie etwas getan, das Jim für vernünftig hielt: Sie hatte sich ein heißes Bad eingelassen, war in die Wanne gestiegen und hatte ihre Venen geöffnet.

Ihr Plan war erfolgreich gewesen. Das Wasser war knallrot, denn in ihm schwamm nun jeder Tropfen der Lebenskraft der Toten.

»Lass uns abhauen«, sagte Leia.

»Sie ist groß«, sagte Jim. »Ihre Kleider würden dir vielleicht passen.«

»Gütiger Gott«, sagte Leia. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Du brauchst doch was zum Anziehen. Sie braucht nichts mehr.«

Leia begab sich in den Wohnraum. Rayna, Gary und Willy standen noch immer an der Zwischentür und glotzten.

»Nun?«, fragte Rayna.

»Die Luft ist rein«, sagte Leia. »Ich schau mich mal nach Kleidern um.«

Sie öffnete einen Schrank. An der Kleiderstange hingen mehrere Kleider, aber auf den ersten Blick erschienen sie ihr zu klein. Trotzdem ging sie sie durch. Vielleicht passte ihr ja etwas. Es hatte was Beruhigendes, mitten in einer Zombie-Apokalypse in Kleidern zu wühlen. Leia versank so sehr in ihrem Tun, dass sie den Jungen, der stocksteif in der anderen Ecke des Schranks stand, anfangs gar nicht wahrnahm. Auf seiner rechten Wange wuchs ein drittes Auge. Leia sah ihn erst, als er sie ansprang.

Sie sprang mit einem Schrei zurück, stolperte über einen Nachttisch, fiel hin und landete fest auf dem Rücken.

Im Bad hörte Jim den Lärm. Er stand auf und rannte los. In allerletzter Sekunde packte etwas seinen Unterschenkel und ließ ihn zu Boden krachen.

Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie die Frau aus der Wanne stieg. Ihre Hand hielt sein Bein noch immer fest. Scharlachrotes Wasser spritzte über den Wannenrand und auf den Badezimmerboden.

Jim trat der Kreatur ins Gesicht, so dass sie wieder in die Wanne zurückfiel. Er war im Nu auf den Beinen und eilte hinaus, wobei er nur innehielt, um die Badezimmertür zu schließen.

Mit dem Taser in der Hand lief er ins Wohnzimmer. Dort fand er Leia und Gary, der die Schranktür zugeschlagen hatte, bevor der Zombie herausgekommen war. Dessen rechtes Bein und rechter Arm waren eingeklemmt worden und zuckten wild. Gary und Willy drückten die Tür fest gegen den Torso des Jungen und nagelten ihn so fest.

Leia und Rayna standen nebeneinander. Leia richtete ihren Taser auf die Kreatur.

»Okay«, sagte sie. »Lasst ihn raus.«

Gary und Willy traten beiseite. Die Tür flog auf, das Ungeheuer klatschte mit dem Gesicht voran auf den Boden. Es war barfuß und trug etwas, das wie ein Baumwollschlafanzug aussah. Er war mit kleinen Abbildern der Enterprise bedruckt. Leia schoss einen Pfeil in die Schulter des Burschen und gab Zunder. Sekunden später war alles vorbei.

»Hat er dich berührt?«, fragte Jim.

Leia schüttelte den Kopf.

»Was ist mit dir?«, fragte er Gary.

»Ich glaub, ich muss mich übergeben«, erwiderte Gary.

»Bloß nicht«, sagte Jim. »Das Bad ist besetzt.«

Tatsächlich konnte man nun hören, dass der Badezimmer-Okkupant an der verschlossenen Tür kratzte.

»Die Mama?«, fragte Leia.

»Yeah.« Jim nickte. »Bin gleich wieder da.«

Gary, Willy und Leia hörten, wie Jim zum Bad zurückging, die Tür öffnete und den Taser abfeuerte. Sie hörten auch das Klatschen, als die Kreatur wieder in die Wanne fiel.

Jim kam ins Schlafzimmer zurück. Er schaute sich den Leichnam des Jungen auf dem Boden an. Schließlich hob er ihn am Kragen des Schlafanzugs hoch und trug ihn ins Bad. Das Gleiche tat er anschließend mit dem Vater und der Schwester des Knaben. Er machte die Badezimmertür zu, begab sich in die Kochnische und setzte sich zu den anderen an den Tisch.

»Was hast du mit ihnen gemacht?«, fragte Leia.

»Ich hab sie nur … aufgereiht.«

»Vielleicht sollten wir sie mit irgendwas zudecken«, sagte Gary. »Mit einem Laken oder so.«

»Sie sind tot«, sagte Jim. »Und wir haben schon das Beste getan, was wir möglicherweise tun können, damit sie es auch bleiben. Macht euch keine Gedanken. Schiebt den Mist in eurem Gedächtnis ganz nach hinten. Ich weiß, dass es aussichtslos klingt, aber eins kann ich euch sagen: Anders wird man mit diesem Scheiß nicht fertig.«

»Wird es denn auch da bleiben?«, fragte Leia.

»Nein«, sagte Rayna. »Wird es nicht.«

»Es wird lange genug dableiben. Im Moment müssen wir mit größeren Problemen fertig werden.«

»Zum Beispiel?«, fragte Gary.

»Zum Beispiel der Tatsache, dass Leia beinahe den Löffel abgegeben hätte, weil ich nachlässig war«, sagte Jim. »Ich hab den Knaben schließlich auf dem Foto gesehen. Ich wusste, dass er zu ’ner vierköpfigen Familie gehört und wir nur drei Angehörige der Sippschaft gefunden haben. Aber hab ich mich gefragt, wo er steckt? Hab ich nur eine Sekunde innegehalten, um mich das zu fragen? Nein.«

»Du brauchst dir nicht die Schuld zu geben«, sagte Leia. »Ich hätte mir den Schrankinhalt ja auch etwas genauer ansehen können.«

»Ich geb mir aber die Schuld«, sagte Jim. »Weil es meine Idee war, in die Ecksuite zu gehen. Und mein Plan.«

»Wir werden halt von jetzt an besser aufpassen«, versicherte Willy. »Vielleicht rufen wir die Zombies lieber, bevor wir eine Tür aufmachen. Wir holen sie zusammen, wenn ihr versteht, was ich meine. Ziehen ihre Aufmerksamkeit auf uns, damit sich keiner an uns ranschleichen kann.«

»Das ist doch mal ’ne Idee«, sagte Gary. Er ging zur nächsten Verbindungstür und klopfte an. »Hallo?«, rief er. »Ist da jemand drin? Hallo, hallo!«

Statt einer Antwort klopfte jemand auf die andere Seite der Tür. Gary wich so schnell zurück, dass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten fiel. Willy stieß einen kurzen Schrei aus.

»Nicht schießen!«, rief eine Stimme. »Ich bin unschuldig!«

Gary rappelte sich auf. »Ein Zombie, der sprechen kann?«

»So etwas gibt es nicht«, sagte Leia. »Das muss ein Mensch sein.«