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All the Good Things

»O mein Gott!«, rief Rayna. »Bist du verletzt?«

»Du hast es geschafft«, sagte Jim. »Es war perfekt. Wo ist Leia?«

Rayna deutete über den Parkplatz. »Sie sitzt da drüben. Sie hat schwer abgebaut, Jim. Sie kann nicht mal mehr gehen …«

»Bleib hier«, sagte er.

»Was hast du vor?«

Seine Schwester sah aus, als wäre sie wieder zehn Jahre alt. Jim antwortete nicht. Er lief einfach los. Woher sollte er wissen, ob Sandoval die Wahrheit gesagt hatte? Aber wenn er es wissen wollte, gab es nur eine Möglichkeit.

Er fand Leia am Stamm einer Eiche auf dem Boden sitzend vor.

»Es war ein ausgezeichneter Plan, Captain«, sagte sie. »Ein doppeltes Ablenkungsmanöver. Kirk wäre stolz auf dich.«

»Es war ja zur Hälfte deine Idee«, erinnerte er sie. »Den Kissenbezug als Lunte zu verwenden, war ein genialer Schachzug.«

»Hat mich gefreut, dir zu Diensten zu sein.«

Jim hockte sich neben sie hin und überprüfte ihren Hals und ihre Arme nach Anzeichen eines sich bildenden dritten Auges. Einen Moment lang wirkte alles gut – bis seine Finger an ihrem Nacken den Furunkel fanden. Es war ein dunkelroter Fleck von der ungefähren Größe eines Golfballs. Die verschrammte Haut pulsierte unter seiner Berührung.

»Ist es das, was ich vermute?«, fragte Leia.

»Gib noch nicht auf«, sagte Jim. »Es gibt eine Chance, das Ding zu bremsen.«

Er erklärte ihr rasch, was er von Sandoval erfahren hatte – dass die Parasiten in Leias Innerem vielleicht vernichtet werden konnten, solange das dritte Auge sich noch nicht gebildet hatte. Er öffnete seinen Rucksack und schob frische Batterien in den Taser. »Wenn wir uns beeilen, klappt es vielleicht.«

»Woher wissen wir, dass er die Wahrheit gesagt hat?«, fragte Leia.

»Wir wissen es nicht«, sagte Jim. »Aber wir müssen es versuchen.«

Leia beäugte ihn vorsichtig.

»Du brauchst mir nichts vorzulügen«, sagte sie. »Ich habe keine Angst vor dem Tod.«

»Ich habe dich noch nie belogen«, sagte Jim. »Und jetzt werde ich auch nicht damit anfangen. Aber wenn es klappen soll, müssen wir schnell sein.«

Leia stand langsam und unter Schmerzen auf, drehte ihm den Rücken zu und breitete die Arme aus. In der gerade vergangenen Minute schien der Fleck an ihrem Nacken noch dunkler geworden zu sein. Er schien auch zu zucken.

»Mach schon«, rief sie. »Worauf wartest du denn?«

»Sag mir zuerst, wie du heißt«, sagte Jim. »Wie du wirklich heißt.«

»Das sag ich dir, wenn ich überlebe.«

»Sag es mir jetzt«, sagte er. »Ich muss es wissen.«

»Shelly.«

»Shelly was?«

»Shelly Dumbatz.«

»Im Ernst? Dumbatz?«

»Wenn wir heiraten, nehme ich deinen Namen an«, versprach sie. »Vorausgesetzt, du kannst dich mit der Vorstellung einer serienübergreifenden Beziehung anfreunden.«

Jim wusste nicht recht, ob er weitermachen sollte. Der Schmerz, den man bei einem Taserschuss spürte, war nichts im Gegensatz zu dem, was ihr bevorstand. Er war im Begriff, das Leben der Frau, die er liebte, zu retten oder zu beenden. Er hätte gern mehr Zeit gehabt. Doch jede Sekunde Aufschub verringerte die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges.

Ein plötzlicher Lichtblitz zog seine Beachtung auf sich. Leia – beziehungsweise Shelly – schaute auch hin. In der Ferne erhellte ein riesiger orangeroter Feuerball den Horizont und stieg zum Himmel auf. Er wurde immer größer und verwandelte sich in eine gewaltige pilzförmige Wolke.

»Tschüss, Houston«, sagte er leise.

»Beeil dich Jim«, sagte Shelly. »Es geht los.«

Jim löste seinen Blick von der Feuersbrunst und richtete ihn wieder auf Shellys Nacken. Der Fleck veränderte sich nun. Er schien sich zu dehnen, zu flattern, zu kochen …

Zu brüten.

Jim zielte auf ihn und drückte ab.

Der Taser war auf maximale Leistung eingestellt. Obwohl es Jim das allerletzte Quäntchen seines Willens abverlangte, unterbrach er den Strom nicht.

Er wollte sichergehen. So oder so.

Als es vorbei war, lag Shelly still auf dem staubigen texanischen Boden.

Jim ließ den Taser einfach fallen.

Wenn es nicht anders geht, trage ich sie bis zur Straßensperre, dachte er. Jedenfalls lasse ich sie nicht hier mitten im Wald liegen. Ich bringe sie irgendwo in Sicherheit. Wo ihr nie wieder etwas passieren kann.

Er fiel neben ihr auf die Knie und streichelte sanft ihr Haar.

Der Kragen von Shellys Kostüm fiel zurück und enthüllte die Wunden an ihrem Hals. Tränen trübten Jims Blick. Er brauchte mehrere Sekunden, um zu erkennen, dass die Verletzungen nun anders aussahen.

Sie bluteten nicht mehr.

Shelly rührte sich in seinen Armen.

»Ich …«, sagte sie leise.

Jim beugte sich vor. »Bist du in Ordnung? Kannst du mich hören?«

Shelly öffnete die Augen. »Ich … Ich habe …«

Jim hob sie an den Schultern hoch und half ihr, sich hinzusetzen. »Lass dir Zeit«, sagte er. »Sprich langsam. Was wolltest du gerade sagen?«

Shelly hustete mehrmals, dann räusperte sie sich. »Ich habe in der Macht eine große Unruhe verspürt.«

»Was denn für ’ne Macht?«, fragte Jim. »Was redest du da?«

»Ich zitiere aus Star Wars«, sagte sie. »Das mach ich immer, wenn ich nervös bin. Ich dachte, das hättest du inzwischen längst geschnallt.«

»Willst du mich verarschen?« Jim wischte sich die Tränen ab. »Bist du wirklich in Ordnung?«

Shelly zog Bilanz. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Ich spüre sie nicht mehr. Und mir ist auch nicht mehr übel.«

Jim schaute sich nochmal die Verletzungen an ihrem Hals an.

»Du blutest nicht mehr«, sagte er. »Ich glaube, es hat geklappt.«

Sie umarmten sich in dem Moment, in dem die Druckwelle der Atomexplosion sie erreichte. Heißer Wind überflutete ihre Leiber. Der Boden bebte unter ihren Füßen. Es fiel ihnen kaum auf.

Rayna kam zu ihnen gelaufen. Sie wischte ihr andorianisch blaues Make-up ab und löste die Fühler von ihrem Kopf.

Sie sah den Atompilz und blieb stehen.

»Ich glaube, die Convention ist jetzt offiziell beendet«, sagte Jim.

»Und keine Minute zu früh«, fügte Shelly hinzu.

Rayna sagte nichts. Stattdessen umarmte sie Shelly so fest, dass sie sie fast erdrückte.

»Bist du okay?«, fragte sie, wobei ihr die Tränen nur so übers Gesicht strömten.

»Ich glaube schon«, sagte Shelly. »Ich glaube, wir sind alle okay.«

»Dann haben wir es geschafft«, rief Rayna. »Wir spielen nicht mehr in einem Zombiefilm mit! Oder in einem Videospiel. Es ist so, als wären wir wieder in einer Star Trek-Episode, wo wir auch hingehören.«

»Vielleicht sind wir auch in gar nichts«, sagte Jim. »Vielleicht ist dies eine neue Geschichte: Es waren einmal drei Leutchen, die strandeten mitten in der Wüste. Sie hatten keine Fahrzeuge, keine Pläne und keine Ahnung, was sie tun sollten.«

»Ich glaube, sie würden dem Highway zum nächsten Ort folgen«, sagte Shelly. »Aber zuerst rauben sie die Imbissautomaten einer Raststätte aus.«

»Genau«, sagte Rayna. »Sie sacken allen Proviant und alle Getränke ein, die sie tragen können. Hochenergetisches und Diätkram, zum Beispiel Erdnüsse und Zuckerstangen.«

Shelly nickte. »Und Sie nehmen Taser mit – für den Fall, dass es Ärger gibt.«

»Die Geschichte einiger Leute, die eine Katastrophe überleben«, sagte Rayna.

»Es ist unsere Geschichte«, sagte Jim und wandte sich der Straße zu. »Und sie fängt genau in diesem Moment an.«