7

A Taste of Armageddon

Janice stand mutterseelenallein hinter der Rezeption.

»Ruf die Bullen an«, sagte er. »Sofort.«

»Das Telefon ist kaputt«, sagte sie. »Ich kann niemanden erreichen.«

»Hast du es mit deinem Handy versucht?«

»Keine Verbindung. Da läuft nichts.«

Jim schnappte nach Luft.

»Dexter«, sagte er. »Ist er noch da?«

»Ich weiß nicht.«

»Was ist mit Oscar?«

»Er ist vor zwanzig Minuten rausgegangen.«

»Warum?«

»Weil ich ihn darum gebeten habe. Seit Sonnenuntergang gehen die Leute ständig raus, weil sie draußen besseren Handyempfang haben.«

»Und?«

»Irgendwann ist mir aufgefallen, dass keiner zurückkommt.«

Jims Atmung wurde regelmäßiger. Er bekam sich langsam wieder unter Kontrolle. Nun fiel ihm auf, dass Janice irgendwie verändert war. Sie wirkte nicht mehr wütend, entrüstet oder frustriert. Sie wirkte verängstigt. Und zwar grundlegend. Durch und durch.

»Oscar ist auch nicht zurückgekommen«, sagte sie leise.

Jim schaute zu den Glastüren hinüber. Er sah aber nur Finsternis.

»Na schön«, sagte er. »Dann schau ich mal eben …«

»Nein!«, sagte Janice. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Niemand kommt zurück!«

Jim zögerte. Der Tatort, den er gerade besichtigt hatte, hatte ihm einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt. Doch die sonst stets zuversichtliche, dogmatische und selbstbeherrscht auftretende Janice in diesem aufgelösten Zustand zu sehen, war fast noch schlimmer.

»Es wird schon gutgehen«, sagte er. »Ich schieb nur kurz den Kopf raus. Ich bleib ständig in deinem Blickfeld. Reiß dich zusammen.«

Jim begab sich zum Eingang. Dann blieb er stehen und wandte sich um.

»Noch etwas«, sagte er. »Ich hätte es beinahe vergessen: Meine Schwester, Rayna Pike, hat ein Zimmer im siebenten Stock. Ruf sie bitte an und sag ihr, sie soll das Zimmer nicht verlassen. Sie soll ihren Star Trek-Scheiß mal für ’ne Weile vergessen und auf sich aufpassen.«

Janice erwiderte seinen Blick. Jim war sich aber nicht sicher, ob seine Worte zu ihr durchgedrungen waren. Er hatte keine Zeit, sie zu wiederholen. Er trat durch die erste Glastür in die Luftschleuse des Haupteingangs.

Die Türhälften schlossen sich hinter ihm, so dass er gute Aussicht auf die Außentür hatte. Das Botany-Bay-Hotel lag am Rande des Stadtzentrums und war nur wenige Minuten vom städtischen Kongresszentrum und dem Geschäftsviertel entfernt. Neben gelegentlichen Zusammenrottungen von SF-Fans wurde das Hotel meist von Geschäftsreisenden frequentiert. Das Viertel, in dem das Gebäude sich befand, bot in Sachen touristisches Nachtleben nicht sehr viel. Die Straße runter gab es ein Applebee’s Restaurant und eine um 20:00 Uhr schließende Starbucks-Filiale. Der Rest der Straße bestand aus normalen Bürogebäuden und Parkhäusern. Heute Abend waren die Straßen und Gehsteige leer, wie an anderen Abenden auch.

Jim blickte in die Empfangshalle zurück. Janice stand hinter dem Tresen und musterte ihn. Er winkte ihr zu und lächelte, dann öffnete sich die Außentür, und er trat ins Freie hinaus.

Sofort schlug ihm ein Schwall heißer, schwüler Luft entgegen. Jim schaute nach Osten, dann nach Westen. Er sah nichts Ungewöhnliches. In der Ferne, etwa zwei Häuserblocks entfernt, entdeckte er zwei Fußgänger. Aber irgendetwas stimmte nicht. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, was der Welt heute Abend fehlte.

Raucher. An jedem normalen Abend sah man vor dem Hotel eine Meute von qualmenden Gästen und Hotelangestellten, meist gleich am Eingang oder in dem Gässchen daneben, in dem er vor einiger Zeit auf Rodriguez gestoßen war. Die Gasse war das inoffizielle Nikotin-Refugium des Botany Bay. Ob am Mittag oder um Mitternacht, ob es regnete oder ob die Sonne schien: Dort standen immer Raucher.

Nur jetzt nicht.

Jim machte ein paar zögerliche Schritte in Richtung Gässchen. Da lag eine Zigarettenpackung auf dem Boden. Und ein iPhone. Und eine Geldbörse.

Eine Pfütze. Eine schwarze Flüssigkeit. Motorenöl?

Jim ging vorsichtig und leise weiter. Er war der Gasse so nahe, dass er Geräusche hörte, die daraus hervordrangen. Das Schlurfen von Füßen. Grunzende Stimmen. Reißgeräusche.

Die Obdachlosen, die er heute in den dunklen Ecken am Ende der Gasse gesehen hatte, mussten gleich um die Ecke sein. Es waren mehr als je zuvor. Sie klangen wie ein wütender Mob.

Jim überlegte kurz, ob er einfach um die Ecke biegen sollte. Dann fiel ihm ein, dass Oscar vermutlich genau das getan hatte. Oscar, der ehemalige Marineinfanterist, der nun vermisst wurde.

In meiner Stellenbeschreibung war das nicht enthalten, dachte Jim. Ich bin doch nur ’n blöder Page.

Er kehrte zur Haustür zurück, ohne den Gasseneingang aus den Augen zu lassen. Er war fast an der Tür als ihm bewusst wurde, dass die beiden Fußgänger inzwischen viel näher gekommen waren. Sie waren keine hundert Meter von ihm entfernt. Wie komisch sie sich bewegten … Eigentlich torkelten sie. Genau wie Zom…

Nein, dachte Jim. Rayna und Gary haben Recht. Es gibt keine Zombies.

Aber die beiden da, was immer sie auch waren, torkelten auf ihn zu. Sie hatten ihn gesehen und kamen, so schnell ihre ungelenk staksenden Beine sie trugen, auf ihn zu.

Als Jim die Gestalten in Augenschein nahm, hörte er in der Ferne Schüsse. Es war das Plop-plop-plop einer Halbautomatik. Dann folgte eine Salve, wie sie nur eine automatische AK-47 erzeugen konnte.

Houston klang plötzlich wie Arschabad an einem Samstagabend.