12

The Enemy Within

Der Gesamtumfang des Grauens wurde Jim erst bewusst, als er seinen Blick vom Haupteingang losriss und zu den Fenstern der Empfangshalle schaute. Überall sah er Zombies, die sich an Scheiben drückten, aufgebracht klopften und bei Janices Anblick in Raserei verfielen.

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte er zu Leia.

Er drückte den Erdgeschossknopf.

»Beeilung«, sagte Leia. »Die Tür hält das nicht mehr lange aus.«

»Die hält schon«, sagte Jim. »Sie besteht aus Panzerglas. Und wenn sie zu Bruch geht, stehen sie vor der nächsten.«

»Mit wem redet die eigentlich?«, fragte Leia.

Jim schaute aus dem Fenster. Irgendwas an Janices Körpersprache und der Art, wie sie den Kopf bewegte, deutete an, dass sie tatsächlich ein Gespräch führte. Aber es war unmöglich. Es war niemand da, mit dem man reden konnte. Keiner von denen war zu einer Unterhaltung fähig.

»Was macht sie nur?«, fragte Leia.

Janice nickte noch einmal, dann kehrte sie an die Rezeption zurück. Der Aufzug erreichte das Erdgeschoss, die Tür ging auf.

»Bleiben Sie hier«, sagte Jim. Er reichte Leia seinen Rucksack.

Er lief hinaus, als Janice gerade anfing, unter dem Empfangstisch nach der Tastatur zu suchen, mit der man die Hoteltüren öffnete.

»Nein!«, rief Jim. »Warte!«

Sie hörte nicht auf ihn. Angeregt vom Anblick einer weiteren leckeren Mahlzeit erzeugten die Untoten einen Lärm, der alle anderen Geräusche übertönte.

Jim fiel die Pistole in seiner Hand ein. Er hob sie hoch und feuerte. Der Knall wurde vom Marmorboden des Atriums zurückgeworfen.

Janice hörte den Schuss und schaute endlich in seine Richtung. Als sie ihn sah, runzelte sie tadelnd die Stirn, und ihre Lippen sagten: Wo warst du?

Jim wollte etwas sagen. Doch er brachte keinen Ton heraus.

Dann sagte Janice noch etwas. Etwas, das Jim völlig unverständlich war.

Die Außentür des Hotels sprang auf. Eine Woge blutiger Monstrositäten schwappte ins Botany Bay. Janice, die lächelnd dastand, als hieße sie einen Bus voller Pauschaltouristen willkommen, rührte sich erst von der Stelle, als die Toten sie überrannten.

»Nein!«, schrie Jim.

Die Woge schwappte über die Rezeption hinweg. Janice verschwand in einem Meer heißhungriger Toter. Der Gestank verwesenden Fleisches drang in Jims Nase. Er richtete die Glock auf die Meute und drückte ab. Doch er hörte nur ein Klicken. Die Knarre war leer. Er stierte sie noch an, als eine Hand seine linke Schulter packte und ihn herumriss.

»Los, weg hier!«, schrie Leia.

Jim lief auf gefühllosen Beinen zum Aufzug zurück. Ein künstlicher Feigenbaum in einem Topf hielt ihn offen. Jim trat ihn beiseite. Die Türhälften gingen genau in dem Moment zu, in dem der erste Zombie gegen die transparente Täfelung klatschte, die sie an drei Seiten umhüllte.

»Bringen Sie uns hier raus!«, schrie Leia. Eine abscheuliche Fratze nach der anderen presste sich gegen das Glas.

»Schon in Ordnung. Die kommen hier nicht rein. Im Erdgeschoss sind wir von einer dicken Plexiglasabschirmung umgeben. Sie verhindert, dass Menschen von einem Lift zerquetscht werden. Außerdem ist sie eine ziemlich gute Zombie-Barriere.«

Er ließ sich auf den Boden sinken, legte die Glock hin und barg sein Gesicht in den Händen.

»Sie hätten ohnehin nichts bewirken können«, sagte Leia in dem Versuch, das sie umgebende Grauen zu übersehen.

»Ich kann nie etwas bewirken«, sagte Jim. »So war es schon immer.«

»Was ist passiert?«

»Janice hat sie reingelassen. Sie hat die Türen aufgemacht und die Zombies reingelassen.«

»Warum?«

»Vielleicht hatte sie keine Lust mehr, auf meine Rückkehr zu warten«, sagte Jim.

»Was hat sie Ihnen zugerufen?«

»Das Letzte, was sie gesagt hat, bevor die Tür aufging, war, glaube ich: Ich muss den Abwehrschirm runterlassen.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ziemlich genau. Was hat Sie damit gemeint, verdammt nochmal?«

Die Zombies droschen so kräftig auf das Plexiglas ein, dass es erbebte.

»Ich weiß nicht«, sagte Leia. Die Panik in ihrem Blick nahm zu. »Ich weiß nur eins: Wenn wir diesen verdammten Lift nicht bald in Bewegung setzen, werde ich ebenso verrückt wie Janice.«

Jim warf über ihre Schulter hinweg einen Blick auf die Zombies. Er erkannte mehrere Gesichter. Einen Klingonen von der Feier; seine Schnappschildkröten-Kopfbedeckung saß nun heftig schief. Eine uniformierte Angehörige des Hotelpersonals, die offenbar zum letzten Mal ein Bett gemacht hatte. Der Bursche, der ihm jeden Morgen an der Kaffeebude im Atrium einen großen Milchkaffee gemacht hatte. Verschiedene Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen, die nun aber alle etwas gemeinsam hatten: Jedem saß ein drittes Auge auf dem Kopf, der Schulter, dem Arm oder dem Brustkorb. Ein irrsinnig stierendes Auge mit scharlachroter Pupille.

Außerdem fiel ihm beiläufig auf, dass das sie umgebende Meer des Grauens sich immer höher aufzutürmen schien.

Die ungelenken Zombies, die zuerst bei ihnen gewesen waren, wankten schon und fielen unter dem Druck der neu eintreffenden Ungeheuer hin. Die Neuankömmlinge stiegen einfach auf die am Boden liegende erste Welle. Der Berg der Gefallenen wurde immer höher.

Jim ging davon aus, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie die Schutzhülle des Lifts überklettern und auf die Kabine steigen würden.

Und wenn sie erstmal auf ihr hockten, waren sie auch bald drin.

Jim schaute zur Deckenluke hinauf und überlegte, ob er sie öffnen und den Zombies weiterhelfen sollte. Es war vielleicht besser, wenn er unter den Händen kannibalischer Ghoule starb, als Rayna und Janice in seinen Alpträumen zu begegnen. Die würden nämlich jede Nacht nur eins tun: ihm vorwerfen, er hätte sie im Stich gelassen.

Leia hingegen sah die Dinge entschieden anders. Jim erkannte es in ihrem Gesicht – ihrem wunderschönen erschrockenen Gesicht. Sie redete noch immer auf ihn ein, und er hörte ihr ein Weilchen zu.

»… die Knöpfe reagieren nicht, weil Sie mit der Schlüsselkarte alles blockieren!«, schrie sie. »Nun machen Sie schon, bevor sie uns aufs Dach steigen und wir in der Falle sitzen!«

»Es ist hoffnungslos«, erwiderte Jim. »Sie sind überall. Was wir auch tun, sie bringen uns um.«

»Aber das müssen sie ja nicht gerade jetzt tun!«, schrie Leia. »Wir können uns irgendwo verstecken und einen Plan aushecken. Oder zu unseren eigenen Bedingungen sterben. Wäre das nicht besser, als in diesem Lift zu ersticken?«

Jim dachte darüber nach. Die Frau hatte was auf dem Kasten.

Der Zombieberg hatte die Plexiglas-Oberkante fast erreicht. Noch eine Minute, dann klatschte das erste Ungeheuer aufs Aufzugsdach.

»Fahren wir zum siebenten Stock rauf«, sagte Jim. »Da soll es schön sein.«

»Wohin, ist mir egal.« Leia richtete den Blick auf den Boden. »Überall ist es besser als hier.«

Jim gab den passenden Code ein, und die Zombies blieben unter ihnen zurück. Als sie an der zuckenden Masse vorbeifuhren, schüttelte Leia sich.

»Ich hab was gegen enge Räume«, sagte sie schließlich. »Besonders gegen Räume, die von Zombies belagert werden.«

Der Aufzug hielt im siebenten Stock, was er mit einem Ping bekanntgab. Jim hatte dafür gesorgt, dass die Tür sich nicht automatisch öffnete. Bald hörten sie auf der anderen Seite Klopf- und Stöhngeräusche.

»Klingt so, als wäre da ’ne Party«, sagte Jim.

»Party?«, wiederholte Leia, die noch immer bebte. »Wer benutzt denn heute noch dieses doofe Wort?«

»Sie wären überrascht.«

Jim schaute durch das blutverschmierte Glas, um die Umgebung zu erkunden. Da nichts ihren Appetit stimulierte, latschten die Zombies in der Empfangshalle apathisch hin und her. Jene in den Hotelzimmern – die ins Atrium hinunterglotzten – wirkten nun auch ruhiger. Das Geschmier auf den Glaswänden des Aufzugs verhinderte weitgehend, dass sie Jim und Leia sahen.

»Ich glaube, im Augenblick sind wir in Sicherheit«, sagte Jim. »Aber die Tür können wir auf keinen Fall öffnen.«

Er hob die Glock auf und holte das leere Magazin heraus. Er öffnete seinen Rucksack, entnahm ihm das volle Magazin und schob es hinein.

»Noch siebzehn Schuss«, sagte er und schaute auf das Meer der Untoten hinab. »Ich glaube nicht, dass die paar Kugeln für alle reichen.«

»Was war da unten mit Ihnen los, verdammt?«, fragte Leia.

Jim schob sich neben der Aufzugsteuerung in eine Ecke. Er verschränkte die Arme vor der Brust und stierte in die mittlere Ferne.

»Ich habe einen Fehler gemacht, das war los. Ich habe eine Person in eine Situation gebracht, die sie eindeutig nicht bewältigen konnte. Und sie ist gestorben. Sie ist wegen meiner Dummheit gestorben.«

»Sparen Sie sich Ihre Sinnkrise für später auf«, sagte Leia. »Jetzt gilt für uns nur eins: überleben. Wir brauchen einen Plan B.«

»Echt?«, sagte Jim. »Ich wusste nicht mal, dass wir einen Plan A haben.«

»Wir hatten einen«, sagte Leia. »Sie haben ihn sich ausgedacht. Dass wir runterfahren, uns Sowieso schnappen und dann wieder rauffahren und Ihre Schwester suchen.«

»Sowieso hieß Janice Bohica«, sagte Jim. »Sie hat gern Golf gespielt. Sie hatte krankhafte Angst vor Spinnen und war aus irgendeinem Grund Anhängerin der Astros. Wir konnten uns nicht besonders leiden. Aber etwas wie dies hat sie allemal nicht verdient.«

»Das hier verdient niemand.« Leia deutete auf die verdreckten Aufzugfenster. »Aber die Frau ist jetzt tot, und nichts kann es rückgängig machen. Wenn Sie jetzt den Schwanz einziehen, hilft das weder uns noch Ihrer Schwester.«

»Rayna ist auch tot«, sagte Jim. »Ich habe auch sie alleingelassen. Und jetzt ist sie tot. Sie wurde in irgendeinem Korridor lebendig gefressen, weil ich nirgendwo in Sichtweite war. Weil es so nämlich abläuft.«

»Dafür haben wir keine Zeit«, sagte Leia ungeduldig.

Jim schaute sie echt zornig an.

»Was soll das für ein Plan B sein?«, sagte er. »Wie wäre es denn, wenn ich mir den Lauf meiner Pistole in den Mund schiebe und abdrücke? Dann können Sie die Schlüsselkarten und das Zeug im Rucksack nehmen und Ihren eigenen Weg gehen. Glauben Sie mir, dann leben Sie länger.«

Leia baute sich vor Jim auf und schaute ihm in die Augen.

»Sie ahnen ja gar nicht, wie gern ich meinen eigenen Weg gehen möchte«, sagte sie. »Aber allein schaffe ich es nicht. Sie kennen doch die Architektur dieser Absteige. Sie können mit Waffen umgehen und kämpfen. So ungern ich es auch eingestehe: Ich brauche Sie.«

»Wenn Sie bei mir bleiben, gehen Sie drauf«, sagte Jim.

»Das Risiko gehe ich ein«, erwiderte Leia. »Jetzt vergessen wir mal Ihren persönlichen Kram und versuchen in Erfahrung zu bringen, wie Kirk diese Angelegenheit meistern würde.«

»Wer?«, fragte Jim.

»James T. Kirk, der Kommandant der USS Enterprise.«

Jim schüttelte den Kopf.

»Jetzt verstehe ich«, sagte er. »Ich bin tot. Ich bin in der Hölle. Man hat mich bis in alle Ewigkeit mit einem weiblichen Star Trek-Spinner zusammengesperrt. Die nächsten tausend Jahre werden wir mit der Diskussion verbringen, ob General Telane in Wirklichkeit Q in Verkleidung war.«

»Immer langsam«, sagte Leia. »Denken Sie mal eine Weile darüber nach. Erinnern Sie sich an den Kobayashi-Maru-Test?«

»Der kam in Der Zorn des Khan vor, nicht?« Jim nickte. »Es ist ein Test, der immer mit dem Tod des Prüflings endet. Er offenbart die Reaktion eines Kadetten auf eine Situation, in der er niemals gewinnen kann.«

»Korrekt«, sagte Leia. »Aber was hat Kirk über Situationen gesagt, in denen man nie gewinnen kann?«

»Dass er nicht glaubt, dass es sie gibt.«

»Dann sehen sie hoffentlich die Relevanz. Um Kirk frei zu zitieren: Selbst wenn man glaubt, dass die Sache hoffnungslos ist, ist sie es nicht. Man hat nur etwas übersehen.«

Jim sah keinen Nachteil darin, ein Minütchen mitzuspielen.

»Okay, dann beschreiben wir mal die Lage: Wir sitzen in einem Aufzug in einem Hotel fest, das von kannibalischen Zombies wimmelt. Da die Polizei sich absolut nicht zeigt, können wir davon ausgehen, dass die ganze Stadt auf ähnliche Weise betroffen ist, vielleicht sogar das ganze Land. Wir sind waffentechnisch minimal ausgerüstet, haben keinen Proviant und kein Wasser und keine Möglichkeit, diese Tür zu öffnen, ohne sofort von einem Feind attackiert zu werden, der uns mit seiner zahlenmäßigen Überlegenheit zerschmettern kann. Stimmt das so?«

»Richtig«, sagte Leia.

»Also was habe ich übersehen?«

»Abgesehen von einer Vielzahl anderer Dinge haben Sie die Tatsache übersehen, dass Zombies Schwachköpfe sind. Sie wollen das Handtuch werfen, obwohl die Kreaturen, denen wir gegenüberstehen, gripsmäßig von jeder Türklinke übertroffen werden.«

»Stimmt auch wieder«, sagte Jim.

»Außerdem sind sie nicht unbesiegbar. Wir kennen mittlerweile schon drei Möglichkeiten, sie aufzuhalten: eine Kugel in den Kopf, eine Kugel ins dritte Auge und ein Taserschuss.«

»Positiv«, sagte Jim.

»Und jetzt kommt das Wichtigste: Sie sind schwerfällig. Sie sind langsam. Und Sie wirken auch nicht so, als hätten Sie viel auf dem Kasten.«

»Richtig«, sagte Jim. »Moment mal, meinen Sie mich?«

»Was ich damit sagen will: Wir sind nichts Besonderes. Wenn wir es schon bis hierher geschafft haben, kann es auch anderen gelungen sein. Sie sind hier irgendwo, und Ihre Schwester ist vielleicht dabei. Erfahren werden wir es natürlich erst, wenn wir was unternehmen.«

Jim ließ die Arme sinken, stieß sich von der Aufzugecke ab und stand auf eigenen Beinen.

»Ich glaube immer noch, dass Sie besser dran sind, wenn Sie abhauen«, sagte er.

»Sie sind derjenige, der abhauen möchte«, erwiderte Leia. »Aber dazu wird es nicht kommen. Die Menschen brauchen Sie, und daran wird sich auch nichts ändern, bloß weil Sie es lieber hätten, wenn es anders wäre.«

»Tja, ich werde versuchen, niemanden zu enttäuschen.«

»Enttäuschen Sie uns oder nicht«, sagte Leia. »Der Versuch allein bringt es nicht.«

Jim legte eine Hand auf ihre nackte Schulter.

»Was hab ich vorhin zum Thema TV-Seriendialoge gesagt?«

Leia schob seine Hand beiseite.

»Ich mache hier nicht einen auf Seriendialoge. Ich versuche, uns aus dieser Lage rauszuholen, aber Sie sind derjenige, der immer wieder …«

Das Nottelefon im Aufzug läutete.

Beide schauten es an. Sie waren zu erschrocken, um sich zu rühren. Als es erneut läutete, griff Leia zum Hörer und drückte ihn ans Ohr.

»Hallo?«, fragte sie atemlos.

Sie lauschte nur einen Moment, dann reichte sie Jim mit zitternder Hand das Telefon.

»Ist für Sie.«