22

The Siege

Aus der kurz zuvor aufgegebenen Nachbarsuite drangen nicht sehr entschlossen klingende Seufzer an Jims Ohren. Hin und wieder hörte man auch Kratz- oder Klopfgeräusche, doch im Moment waren sie hier wohl sicher.

Jim nutzte die Gelegenheit, um die Umgebung eingehend zu untersuchen. Nach so viel Blut und Chaos war die in diesem Raum herrschende Ordnung fast schon desorientierend. Links befand sich das Bad. Rechts führte eine Tür in einen Schlafraum. Vor ihnen befand sich eine Kochnische plus Tisch. Am anderen Ende des Zimmers: eine Sitzecke mit zwei Sesseln, Sofa und Tisch. Rayna und Willy saßen Leia und Jim gegenüber, während Gary ängstlich an der Tür herumlungerte. Welche Verletzungen er auch davongetragen hatte – in Gegenwart der Prinzessin spielten sie keine Rolle mehr. Er betrachtete sie geradezu ehrfürchtig.

»Darf ich Eurer Hoheit eine Flasche Wasser bringen?«, fragte er. »Ich wette, die Minibar ist voll davon.«

»Dann bring uns doch gleich allen was zu trinken«, sagte Jim. »Danke für das Angebot.«

Gary flitzte durch den Raum und kehrte mit fünf gekühlten Flaschen Aquafina zurück. Nachdem er sie verteilt hatte, nahm er Aufstellung neben der Prinzessin. Erwartete er weitere Instruktionen? Leia schaute ihn kurz an und drehte dann demonstrativ den Kopf. Schließlich stand Jim auf und flüsterte Gary ein einziges Wort ins Ohr: »Nüsse.«

Garys Gesicht nahm eine alarmierende Rottönung an. Er richtete blitzschnell seine Uniform.

»Verzeihung«, sagte er zu Leia.

Leia hob ihre Wasserflasche zu einem Trinkspruch. »Auf Gary«, sagte sie. »Weil er uns das Leben gerettet hat.«

»Ich?«, erwiderte Gary. »Was hab ich denn gemacht?«

»Als Jim und ich allein im Aufzug waren, glaubte ich schon, er wollte das Handtuch werfen. Aber du hast rausgekriegt, wie du uns erreichen konntest, und plötzlich wussten wir, dass wir nicht allein sind. Da haben wir uns eben zusammengerissen und uns einen Weg hierher gesucht.«

Gary schien sich ein wenig zu entspannen. Aber nur ein wenig.

»Na ja, ich hab vielleicht dazu beigetragen«, sagte er. »Jetzt sage ich mir, wieso bin ich Matt erst so spät auf die Schliche gekommen? Seit wir in der Suite waren, hat er sich komisch benommen. Aber dass er richtig einen an der Klatsche hat … darauf wäre ich nie gekommen.«

»Bevor er sich ins Schlafzimmer verzog, ist er nur auf und ab gelaufen und hat sich als Commodore bezeichnet«, fügte Rayna hinzu. »Der Unterschied zu früher war nur: Er schien wirklich zu glauben, dass er einer ist. Und er war euretwegen unglaublich stinkig und wütend. Besonders auf dich, Jim. Er hat fortwährend gesagt, wir könnten es uns nicht leisten, Passagiere mitzunehmen; es könnte nämlich die Kommandostruktur stören. Als ihr unterwegs wart, kam er heraus. Er hat kein Wort gesprochen. Er hat Gary einfach am Arm gepackt, ihn zweimal an die Wand geklatscht und ihn dann zu Boden geschleudert. Dann hat er mich von der Tür weggezerrt und sie zugemacht. Als ihr reinwolltet, hat er sie zugehalten. Ich hab gedacht, er ist verrückt geworden.

»Es ist kein Irrsinn«, sagte Jim. »Er hat eine Hand verloren und nicht mal Autsch gesagt. Er hat mir einen Kopfstoß verpasst, der mich durch den Raum geschleudert hat und eine Eisentür mit der Schulter aus den Angeln gehoben. Das ist kein Irrsinn.«

»Du glaubst nicht, was es alles gibt«, sagte Rayna. »Wir lernen dieses Zeug im Psychologieseminar. In Fällen extremer Aufgewühltheit oder bei Psychosen gelingen manchen Patienten unglaubliche Kraftakte.«

»Er kam mir aber gar nicht aufgewühlt vor«, sagte Leia. »Als er mich gewürgt hat, habe ich sein Gesicht gesehen. Es hat rein gar nichts ausgedrückt. Mich zu ermorden, war nur eine lästige Pflicht. Irgendwas, das auf seiner Liste noch zu erledigender Aufgaben stand.«

»Und seine Hand hat die Knarre betätigt, obwohl sie von seinem Körper getrennt war«, sagte Jim. »Was sagt dein Psychologieseminar dazu?«

»Na ja.« Rayna zuckte die Achseln. »Ich bin ja nur ’n Erstsemester.«

»Vielleicht ist er ein Läufer«, sagte Gary. »Einer dieser Super-Zombies aus 28 Days Later. Die bewegen sich wie bei einer Olympiade oder so. Wenn wir es mit Läufern zu tun haben, sind wir schon tot. Also, ich bin eigentlich jetzt schon tot. Ich bin kein großartiger Läufer. Ich … hab auch nicht die richtigen Schuhe an.«

Leia streckte die Füße auf dem Tisch aus und führte ihre riesigen Star Trek-Hausschuhe vor.

»Mir geht’s nicht anders«, sagte sie. »Aber mach dir keine Sorgen. Alle Zombies, die wir gesehen haben, waren so langsam wie ein Gorn.«

Gary stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Außerdem haben wir noch einen Vorteil«, sagte Jim. »Nämlich das Licht. Wo die Zombies auch hingehen, schlagen sie die Lampen kaputt. Diese Etage ist dunkel. Im dritten Stock war es nicht anders. Das Atrium ist wahrscheinlich nur deswegen noch hell, weil sie dort nicht herankommen. Die Lampen hängen zu hoch.«

»Warum sollten sie etwas gegen Licht haben?«, erkundigte sich Rayna.

»Ich weiß nicht genau«, sagte Leia. »Aber habt ihr das dritte Auge der Zombies schon mal blinzeln sehen?«

»Ich war zu sehr beschäftigt, meinen Arsch zu retten, um das zu bemerken«, sagte Gary.

»Du hast Recht.« Rayna nickte. »Sie stieren einen nur an.«

»Es ist schön zu wissen«, sagte Gary. »Vielleicht kann man sie mit einer hellen Taschenlampe desorientieren oder zeitweilig blenden.«

»Ich wollte eigentlich damit sagen«, wandte Jim ein, »dass diese Zombies nachts am Besten funktionieren. Wenn wir also bis zum Morgengrauen durchhalten, haben wir eine viel bessere Chance, von hier zu verschwinden.«

»Wer sagt denn, dass wir verschwinden müssen?«, fragte Rayna. »Vielleicht hat Matt Recht. Vielleicht sollten wir uns nicht vom Fleck bewegen. Wenn die Leute in Zombie in einem Einkaufszentrum überleben konnten, könnte es uns außerhalb des Hotels doch viel schlimmer ergehen!«

Sie entwarf einen Plan mit mehreren sehr anziehend klingenden Möglichkeiten. Das Wichtigste war, sich in die Empfangshalle zu schleichen, um eine Möglichkeit zu finden, den Hauseingang wieder zu verschließen. Als Nächstes musste man sich von einem Raum zum nächsten bewegen und einen Zombie nach dem anderen ausschalten. Ihre Leichen könnte man mit dem Aufzug aufs Dach fahren und in die Tiefe werfen. Dann könnte man im gegenüberliegenden Flügel Quartier nehmen, irgendwo in der Nähe des Gweagal-Saals, denn von dort hatte man leichten Zugang zur Vorratskammer des Hotels, in der Nahrung und Getränke lagerten: genug, um drei Monate zu überstehen, vielleicht sogar ein halbes Jahr oder noch länger. Jedenfalls so lange, bis der Rest der Welt die Apokalypse eingedämmt hatte.

»Klingt nach einem guten Plan«, sagte Willy. »Wählen wir lieber das Übel, das wir schon kennen … Hier ist die Lage wenigstens einigermaßen übersichtlich.«

Jim schüttelte den Kopf. »Ihr wisst nicht, worüber ihr redet«, sagte er. »Um das Hotel zu übernehmen, müssten wir Hunderte von Untoten eliminieren, vielleicht sogar Tausende. Ich bezweifle, dass wir das mit einem ausgebildeten Zug von Einzelkämpfern hinkriegen würden. Und wenn doch, dann nur unter großen Verlusten.«

»Die Leute in Zombie haben es auch geschafft«, sagte Rayna.

»Das andere Problem«, sagte Jim, »ist die Annahme, dass es weiterhin Strom geben wird.«

»Ich nehme nichts an«, sagte Rayna. »Wenn das Licht ausgeht, nehmen wir eben Kerzen. Die Menschheit hat Jahrhunderte ohne Strom gelebt.«

»Jahrtausende«, sagte Jim. »Aber wenn der Strom ausgeht, gehen leider auch sämtliche elektronisch gesteuerten Türen auf. Die sind so programmiert – für den Brandfall. In einem Notfall möchte man natürlich niemanden im Gebäude einschließen. Wir könnten also eine Woche damit verbringen, deinem Plan nachzugehen, doch sobald der Strom ausfällt, ist im Botany Bay die Jagdsaison eröffnet – und zwar auf uns.«

Rayna ging zum Fenster hinüber und zog den Vorhang beiseite. Wie in Donnies Zimmer im dritten Stock konnte man auch hier nicht sehen, was hinter dem Parkhaus nebenan lag. »Wenn wir doch nur wüssten, was da draußen vor sich geht.«

»Ich würde ja gern sagen, dass mehrere Millionen Nationalgardisten die Zombies mit M-16-Knarren niedermähen, aber das ist höchst unwahrscheinlich.« Gary seufzte.

»Es gibt nur eine sichere Möglichkeit, es in Erfahrung zu bringen«, sagte Jim. »Wenn wir es bis in eine Ecksuite schaffen, haben wir eine bombige Aussicht auf die Innenstadt. Dort sieht man alles, was sich draußen tut. Da sieht man auch die Nachbargebäude. Vielleicht können wir jemandem winken und Zeichen geben, dass wir Hilfe brauchen. Am wichtigsten ist, dass wir die Zombies sehen, wenn es hell wird, damit wir wissen, wie sie auf die Sonne reagieren. Wenn sie sich aus dem Hellen zurückziehen, sollten wir vielleicht unsere Chance nutzen und verschwinden, solange es noch geht.«

»Klingt ganz gut«, sagte Rayna. »Aber wie kommen wir in eine Ecksuite?«

»Durch die Verbindungstüren. Zwischen unserer gegenwärtigen Position und unserem Ziel liegen drei Räume. Selbst wenn sie alle mit Zombies belegt sind, haben wir genug Munition, um uns eine Gasse zu bahnen.«

»Wer ist wir?«, fragte Gary.

»Leia und ich«, sagte Jim. »Jedenfalls hab ich es so geplant.«

Jim drehte sich zu Leia um.

»Machst du mit?«, fragte er.

»Nur ungern«, sagte sie. »Aber ich bin dabei.«

»Ich geh zuerst rüber, dann kommt Leia«, sagte Jim. »Rayna wartet an der Tür. Wenn es schiefgeht, lässt du uns wieder rein. Verstanden?«

»Verstanden.« Rayna nickte.

»Und wir?«, fragten Gary und Willy.

»Ihr wartet, bis ihr hört, dass die Luft rein ist, dann stoßt ihr zu uns. Später gebe ich euch vielleicht ein paar Tipps. Im Moment habe ich keine Zeit, euch beizubringen, wie man ein Gebäude von feindlichen Kräften säubert. Bleibt also hinten. Alles klar?«

»Kein Problem«, sagte Gary.

»Was für ein gerissener Plan«, sagte Willy zustimmend. »Normalerweise stehen die Rothemden immer vorn, und wir wissen ja alle, wohin das führt.«

Leia nahm ihren Waffengurt und schnallte ihn um. Jim überprüfte den Taser und überzeugte sich, dass er durchgeladen war. Eine Sekunde später prüfte er ihn noch einmal.

»Wie ist denn deine Stimmung, Soldat?«, fragte Rayna.

»Nervös«, sagte Jim. »Kannst du’s mir verübeln?«

Er schaute Leia zu, die ihr Ersatzmagazin in den Taser schob.

»Vielleicht haben wir nochmal Schwein«, sagte Rayna. »Vielleicht sind ja alle drei Zimmer leer.«

»Diese Etage ist belegt«, erwiderte Jim. »Ich hab es an der Rezeption gesehen. Es ist also wahrscheinlich, dass wir einigen sehr unzufriedenen Gästen begegnen werden.«

Wie zur Bestätigung seiner Befürchtungen kam ein kratzendes Geräusch durch die Wand.

»Was ist das?«, fragte Gary.

»Ich bin mir sicher, dass es nicht die Hausdame ist«, sagte Jim.

Dann hörten sie ein gedämpftes Ächzen. Es wiederholte sich. Zwei Stimmen waren zu erkennen, die eine tief und männlich, die andere höher. Jim lauschte konzentriert.

»Klingt so, als wären es wenigstens zwei«, sagte er. »Sie sind rechts von uns. Nach der Stelle zu urteilen, an der sie kratzen, wollen sie wohl ins Schlafzimmer oder ins Bad oder aus einem von beidem raus.«

»Ob sie hinter jemandem her sind?«, fragte Leia. »Vielleicht hat nebenan jemand überlebt.«

»Das werden wir gleich wissen«, sagte Jim.

Er schloss die Zwischentür lautlos auf und ließ die Schlüsselkarte für Rayna stecken.

»Viel Glück, Leute«, sagte Gary. »Ich hab zwar in meinem Leben ’ne Menge interessanter Ballerspiele gespielt, aber das hier ist ein höherer Level.«

»Weil’s hier keinen Reset-Knopf gibt«, meinte Jim.

Er brachte seine Gefährten mit einer Geste zum Schweigen, öffnete die Tür einige Zentimeter weit und blickte in den Nebenraum.