27

The Measure of a Man

Die Gruppe stand schweigend in der Dunkelheit und wünschte sich mit angehaltenem Atem, dass das Licht wieder anging. Schließlich sprach Sandoval die unangenehme, doch zutreffende Wahrheit aus.

»Jetzt sind wir noch mehr im Nachteil. Die Wiederbelebten sehen im Dunkeln ausgezeichnet. Wir aber nicht.«

»Was sollen wir machen?«, sagte Willy. »In den Korridoren ist es nun pechschwarz. Wir können die Zombies erst sehen, wenn wir sie am Hals haben.«

»Wenn der Strom ausfällt, schaltet sich automatisch die Notbeleuchtung ein«, sagte Jim. »Außerdem haben wir einige Taschenlampen, und unsere Taser sind mit LEDs ausgrüstet.«

»Wenn wir die einschalten, können wir auch gleich rufen ›Hier sind wir, kommt und fresst uns‹«, sagte Gary. »Es wird sie anziehen wie Motten. Wie große, nichtsnutzige, fleischfressende Motten.«

»Ich würde lieber bis zur Morgendämmerung warten«, sagte Leia. »Vielleicht treibt es sie ja dann wieder in ihre Löcher und Ritzen zurück.«

Jim schaute Sandoval an. Der schüttelte den Kopf.

»Bis dahin ist diese Gegend nur noch Asche«, sagte er.

»Dann müssen wir die Karten spielen, die man uns gegeben hat«, sagte Jim.

Er schaute auf seine Armbanduhr.

»Es ist halb fünf«, sagte er. »Lasst uns um fünf abmarschbereit sein. Noch Fragen?«

»Tja … ähm«, sagte Willy. »Wie kommen wir in den Keller?«

»Was sollen wir mitnehmen?«, fragte Rayna.

»Wer kriegt einen Taser und wer einen Säbel?«, fragte Gary.

Jim musterte die besorgten Mienen seiner Gefährten. Er war nicht zum ersten Mal in einer solchen Lage. Er wusste, wann die Menschen Rat, Führung und moralische Aufrüstung brauchten. Aber sie schauten den Falschen an.

»Hört mal, ich bin hier nur Page«, sagte er. »Ich kenne mich im Hotel aus und kann euch den Weg zur Garage zeigen. Aber ich verspreche nichts. Schaut mich also nicht so an, als wäre ich Arnold Schwarzenegger.«

Er verließ die Suite und ging wieder in Martocks Zimmer.

»Was war das denn?«, sagte Gary zu Rayna. »Ich dachte, dein Bruder geht ran wie Blücher.«

»Ich rede mal mit ihm«, sagte Rayna.

Sie folgte Jim in Martocks Suite. Er stand am Fenster.

»Was machst du?«, fragte sie.

Jim schaute zum Atriumboden hinab. Er konnte den Sessel, in dem er am Nachmittag zuvor eingeschlafen war, gerade noch erkennen. Die Zeitung lag sauber gefaltet daneben. Er fragte sich, ob all dies nur ein böser Traum war. Vielleicht war es einer dieser grässlichen Horrorfilme, in denen der Held in der letzten Szene aufgeweckt wurde, um zu erfahren, dass die vorhergehenden neunzig Minuten nur ein schrecklicher Alptraum gewesen waren.

»Nichts«, erwiderte er schließlich. »Ich überprüfe nur die Notbeleuchtung. Sie ist zwar nicht sehr hell, müsste für uns aber ausreichen.«

»Tja, wenn du die Leute nebenan demotivieren wolltest, ist es dir wirklich gut gelungen. Du hast sie echt dazu animiert, nur noch rumzusitzen und auf den Tod zu warten.«

»Vielleicht ist es ja auch so.«

»Was soll das heißen?«, fragte Rayna.

»Ohne Verluste werden wir den Keller nicht erreichen«, sagte Jim. »Einige von uns werden sterben. Vielleicht sogar alle.«

»Warum bist du so pessimistisch?«, fragte Rayna. »Wir gehen die Treppe runter, steigen ins Wohnmobil und hauen ab. Unternehmen abgeschlossen.«

»Du lässt etwas aus: Den Teil, in dem wir schneller sein müssen als die unzähligen kannibalischen Arschlöcher, die sich uns in den Weg stellen werden. Wenn es zu viele sind, könnte das Wohnmobil ebenso gut auf Ceti Alpha V geparkt sein.«

»Was also sollen wir tun?«

»Vielleicht nichts. Vielleicht sollten wir den Fusel aus allen Minibars holen und ’ne Party feiern. Wir saufen uns die Hucke voll, bevor man sie uns vollhaut. Dann täte es zumindest nicht mehr weh.«

»Das ist doch Irrsinn«, sagte Rayna.

»Dann wird meine andere Idee dir schon mal gar nicht gefallen: Wir machen alle anderen blau, und dann verschwinden wir mit Leia im Parkhaus. Ohne die anderen sind unsere Chancen größer.«

»Das stimmt nicht«, sagte Rayna. »Hast du vergessen, dass Gary, als ihr in der Falle saßt, die Idee gekommen ist, wie man dich kontaktieren kann? Oder dass Willy die Zombies mit dem Aufzug abgelenkt hat? Ohne sie wärst du jetzt vielleicht nicht hier.«

»Dafür bin ich ihnen ja auch dankbar«, sagte Jim. »Aber für das, was vor uns liegt, fehlt ihnen einfach der Mumm. Sie werden uns behindern. Vielleicht werden wir ihretwegen sogar sterben.«

»Es gibt auch andere Arten von Stärke, Jim«, sagte Rayna.

»Yeah, yeah. Unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen.«

»Das hast du behalten?«

»Natürlich. Ich habe auch etwas behalten, das ich beim Militär gelernt habe: Beiß dich durch. Es bedeutet, heul nicht rum, wenn du ein Scheißblatt auf der Hand hast. Mach das Beste draus. Und zwar sofort.«

»Irgendwas an dir fühlt sich hier wohl«, sagte Rayna nun etwas lauter. »Du bist endlich wieder in deinem Element.«

Jim erdolchte seine Schwester mit einem Blick.

»Nichts von mir fühlt sich wohl«, sagte er. »Weil es für mich so aussieht als bestünde meine einzige Wahl darin, meine Schwester von einer Atomexplosion gebraten oder von Zombies zerrissen zu sehen.«

»Es muss noch eine andere Möglichkeit geben«, sagte Rayna. »Es gibt immer eine.«

»Wenn das hier eine Star Trek-Folge wäre, könnte es eine geben. Aber es ist keine. Dies ist ein Zombiefilm. Da gelten andere Regeln.«

»Dann kläre mich auf«, sagte Rayna.

»Bei Star Trek geht es darum, die edlen Ideale der Föderation in einer schwierigen Situation anzuwenden«, sagte Jim. »Egal wie schlimm die Lage auch wird, man ist gezwungen, nach den Schieß-nicht-zuerst-Misch-dich-nicht-in-Probleme-nicht-raumfahrender-Kulturen-ein-Verändere-nicht-den-Zeitablauf-Regeln zu spielen. Doch in einem Zombie-Universum geht es nur darum, all den Ballast über Bord zu werfen – Ethik, Mitgefühl, Schwächlinge –, der einen daran hindert, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben. Ganz gleich, wie makellos man sich auch aufführt: Man bringt die Gegenseite nie dazu, so zu denken, wie man selbst denkt. Weil sie gar nicht denkt. Sie tötet nur.«

»Man kann doch, nur weil man eine Krise erlebt, nicht alles beiseiteschieben, was einen menschlich macht«, sagte Rayna. »Wenn die einzige Möglichkeit, die Zombies zu schlagen, darin besteht, sie nachzuahmen, verdienen wir den Sieg gar nicht.«

»Wer sagt denn, dass wir siegen können? Hast du gesehen, was draußen vor sich geht? Angenommen, es sieht auf der ganzen Welt so aus?«

»Und wenn nicht? Es ist doch so: Wir wissen es nicht. Dem Rest des Planeten könnte es auch gutgehen. Das erfahren wir aber nur, wenn wir nachsehen. Und das passiert erst, wenn du aufhörst, ein fatalistisch eingestellter, selbstmitleidiger Arsch zu sein und angreifst.«

»Dann passiert es also nicht.«

»Tja, ich bleibe nicht hier. Du brauchst nur eine Wahl zu treffen: Du stehst mir bei oder nicht.«

Jim musterte das Gesicht seiner Schwester.

»Du würdest es wirklich versuchen, was?«, sagte er.

»Und ob.«

Jim schaute Rayna einen Moment länger an. Lange genug, um sich zu sagen, dass sie glaubwürdig wirkte.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Wir gehen zusammen. Ich schätze, so negativ hat sich meine finstere Laune auch nicht auf die Leute ausgewirkt.«

»Nee«, sagte Rayna. »Ich bin ein Trekkie. Unsereiner steht der Zukunft positiv gegenüber.«

Jim zog sie an sich und drückte sie.

»Vorsichtig«, sagte sie. »Verschmier nicht mein Make-up.«

»Sehr witzig. Wem ist dieser Scheiß denn jetzt noch wichtig?«

»Mir«, sagte Rayna. »Diese Schminkerei hat sehr lange gedauert. Und bis Montagmorgen, wenn die Convention offiziell vorbei ist, bin ich eine Andorianerin.«

»Wenn du mich fragst, ist die Veranstaltung schon jetzt vorbei.«

»Nein, ist sie nicht«, erwiderte Rayna und fasste ihren Bruder fest ins Auge. »Jedenfalls nicht für mich.«

Jim stand einen Augenblick im Dunkeln und schaute seiner sich in die Ecksuite zurückziehenden Schwester nach. Er verstand plötzlich, dass das blaue Make-up mehr als nur eine dünne Pigmentschicht war. Es war ein Abwehrschirm, der das Rayna umgebende Grauen in Schach hielt. Eine Warpblase der Selbstverleugnung, die sie funktionieren ließ, während viele andere – auch er selbst – ins Stocken gerieten.

Wenn es ihr gelang, gelang es den anderen vielleicht auch. Vielleicht war ein Appell an ihre Trekkie-Mentalität genau das, was sie brauchten, um etwas aus ihnen zu machen, das einer Kampfeinheit nahekam. Oder zumindest einer geschlossenen Einheit, die eine Chance hatte, dem Botany-Bay-Hotel und dem Schlachthof lebend zu entkommen.

Gefragt war nun eine Methode, um den Verstand der Leute zu fokussieren.

Jim ging zu dem Gestell mit den neuen Kostümen und öffnete die Kleiderhüllen. Er zückte den Phaser, betätigte den Abzug und untersuchte die Klamotten in seinem warmen roten Licht. Als er die sechste Hülle geöffnet hatte, ohne etwas Brauchbares zu sehen, kam er sich allmählich blöd vor. In der siebenten fand er schließlich, was er suchte.

Genau das, was er suchte.

Er zog seine Dienstkleidung aus, warf alles auf den Boden und zog sich um. Er war fast fertig, als Leia den Raum betrat.

»Was machst du da?«, fragte sie.

»Ich schlüpfe in meine Rolle. Und was machst du?«

»Ich habe dich gesucht. Vielleicht sind wir jetzt zum letzten Mal allein zusammen.«

Leia trat vor ihn. Jim war inzwischen bis auf das Hemd angezogen.

»Ich stelle mir seit geraumer Zeit eine Frage«, sagte Leia. »Was hältst du eigentlich von serienübergreifenden Beziehungen?«

Jim brauchte einen Moment, bis er kapierte, was sie da fragte. Dann lächelte er. »Ich will ganz ehrlich sein«, sagte er. »Nach allem, was man so hört, ist es ziemlich schwierig, sie so hinzukriegen, dass sie klappen. Du möchtest den Hund vielleicht Wicket nennen, aber ich bestehe auf Worf. Wie, glaubst du, kann man da zu einem Kompromiss gelangen?«

»Vielleicht so«, sagte sie, beugte sich vor und küsste ihn. Jim zog sie an sich. Der Augenblick hatte es verdient, genossen zu werden. Erneut, einen kurzen Augenblick lang, fühlte er sich nicht so, als spiele er in einem Zombiefilm mit. Sie waren auch keine Figuren aus einem Videospiel oder einer Star Trek-Folge. Sie waren etwas weitaus Besseres, weitaus Wirklicheres – doch es dauerte nur einen Moment, dann löste Leia sich aus seiner Umarmung.

»Vielleicht klappt es doch«, sagte Jim. »Aber genau wissen wir es erst, wenn wir abhauen. Und dazu müssen wir die Leute nebenan richtig motivieren.«

»Und wie?«

»Indem wir ihnen das geben, was sie brauchen: einen Captain!«

»Endlich!«, rief Leia.

»Deswegen hab ich beschlossen, mich von meiner Hoteluniform zu trennen.«

»Das war doch keine Uniform«, sagte Leia. »Es war ein Kostüm! In ihm hast du so getan, als wärst du jemand, der du gar nicht bist.«

Jim zog das Hemd an. Es war ein Oberteil jener Art, wie Captain Kirk es immer getragen hatte.

»Sehe ich so besser aus?«, fragte er.

Leias Hände fuhren über seinen Brustkorb.

»Es sitzt perfekt«, sagte sie.

Jim warf einen kurzen Blick auf die Tür zur Ecksuite.

»Wird Zeit, unsere Galaxis zu retten«, sagte er.

»Du brauchst es ja nicht allein zu machen«, sagte Leia. »Du rettest uns, und vielleicht retten wir dich dann auch mal.«