24

Wolf in the Fold

»Bist du in Ordnung?«, rief Jim durch die Tür.

»Es war Notwehr«, kam die Antwort. »Ich hab’s nicht absichtlich gemacht!«

Jim und Leia schauten sich stirnrunzelnd an.

»Ich bin nicht von der Polizei«, gab Jim laut bekannt. »Ich arbeite hier im Hotel. Es mir egal, was du angestellt oder nicht angestellt hast. Aber ich muss in dein Zimmer, okay?«

»In Ordnung.«

»Geh drei Schritte zurück. Ich habe einen Universalschlüssel. Ich mach die Tür jetzt auf.«

»In Ordnung«, wiederholte die Stimme, diesmal etwas leiser.

Jim ließ sich von Rayna den Schlüssel geben, öffnete die Tür und schob sie auf.

Vor ihm stand ein riesiger Klingone in voller Rüstung. Ein riesiger Klingone, der, urteilte man nach seinen roten Augen und feuchten Wangen, geweint hatte.

»Martock!«, sagte Jim.

Der Klingone schaute seine Retter an, dann brach er erneut in Tränen aus. »Es war Notwehr«, sagte er schluchzend. »Sie hätte mich sonst umgebracht. Sie hat sich aufgeführt wie ein Ungeheuer.«

Er nahm Jim in die Arme, legte den Kopf an seine rechte Schulter und heulte weiter.

Jim klopfte Martock auf den Rücken. Er ließ ihn eine Weile schluchzen, dann ergriff er wieder das Wort.

»Du meinst das Mädchen von deinem Stand, nicht wahr? Das auf dem Feldbett geschlafen hat.«

»Sie hieß Karen«, sagte Martock. »Ich hab ihr immer wieder gesagt, sie soll rauf in unser Zimmer gehen. Ihr war so übel. Aber sie hat sich nicht von der Stelle gerührt. Als der Händlerraum geschlossen war, hab ich meinen Kram zusammengepackt und meine Wertsachen weggebracht. Irgendwie ist sie mir dabei entwischt. Das Feldbett war leer. Ich hatte es eilig, weil ich noch was auf dem Klingonenfest abliefern musste …«

»Matts Bat’leth«, wandte Gary ein.

Jim brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. »Und was ist dann passiert?«

»Ich wollte gerade gehen, da hab ich hinter meinem Stand was gehört. Hinter der Trennwand kramte jemand rum. Ich hab die Trennwand beiseite gezogen und sah Karen auf allen vieren auf dem Boden. Zuerst konnte ich nicht fassen, was ich sah. Doch dann bemerkte ich, dass sie sich über jemanden beugte: Über eine Leiche! Eine Leiche mit aufgeschnittenem Bauch. Karens Hände waren voller Gedärme, und als ich ihr zuschaute, hob sie das ganze Zeug an ihren blutverschmierten Mund und biss hinein. Und dann … ging sie auf mich los.«

»Komm, wir setzen uns hin«, sagte Jim.

Er brachte Martock in den Wohnraum der Suite. Alle nahmen Platz.

»Ich hatte keine Ahnung, was los war«, fuhr Martock fort. »Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Na ja, wo steht denn auch geschrieben, was man normalerweise macht, wenn sich deine beste Freundin plötzlich in einen Kannibalen verwandelt?«

»Schätze, du bist abgehauen«, meinte Leia.

»Genau.« Martock nickte. »Ich hab ’n Rückzieher gemacht und wäre dabei fast über das verdammte Feldbett gefallen. Sie ist mir gefolgt. Sie hat gestöhnt. Es war grausig. Ich bin mit dem Bat’leth in der Hand abgehauen. Ich bin zur Herrentoilette getürmt, hab mich in einer Kabine versteckt und die Füße angezogen. Ein bis zwei Minuten später hörte ich die Tür aufgehen. Ich hab dann wie der Trottel vom Dienst gefragt: ›Wer ist da?‹ Als Antwort kam weiteres Gestöhn. Ich hab sie langsam durch den Raum tapsen hören. Ich hab auch ihre Füße vorbeigehen sehen. Sie waren blutig. Als sie an mir vorbei war, wollte ich die Tür aufmachen und abhauen. Als ich rauskam, sah ich sie sofort. Und sie sah mich. Und dann hab ich was gesehen, das tausendmal schlimmer war als das Blut oder ihr Gestöhn.«

»Das Auge«, sagte Jim. »Das rote Auge.«

»Genau«, sagte Martock. »Sie hatte plötzlich ’n riesiges Auge mitten auf der Stirn. Irgendwie wusste ich, dass es für das Geschehene verantwortlich war. Für das, was aus Karen geworden war. Das hat mich rasend wütend gemacht. Ich hab das Bat’leth geschwungen und …«

»Ich weiß«, sagte Jim. »Du hast sie enthauptet. Ich hab den Leichnam gesehen.«

»Ich hab das Bat’leth in der Toilette fallen lassen und bin abgehauen«, sagte Martock. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber wenn ihr hinter meinen Stand schaut, seht ihr, was sie angerichtet hat. Sie war wie ein Tier.«

»Soll das heißen, du warst die ganze Zeit hier oben und hast dich vor der Polizei versteckt?«, fragte Jim. »Du weißt überhaupt nicht, was hier los ist? Hast du denn den Krach aus der Empfangshalle nicht gehört?«

Martock zog einen blutigen MP3-Player aus der Tasche. »In den letzten Stunden war ich allein mit Jerry Goldsmith und James Horner, um meine letzten Stunden in Freiheit zu genießen.«

»Tja, es gibt gute und schlechte Nachrichten«, sagte Gary fröhlich. »Welche willst du zuerst hören?«

Martock wurde schnell über alles in Kenntnis gesetzt. Die gute Nachricht war: Er brauchte nicht ins Gefängnis zu gehen. Die schlechte Nachricht: Das Ende der Welt war da. Nachdem der Klingone darüber nachgedacht hatte, wirkte er erleichtert.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Daran arbeiten wir noch«, sagte Jim. »Ist sonst noch jemand in eurer Suite?«

»Nein, ich hab sie für Karen und mich gemietet. Auf solchen Conventionen pennen wir immer zusammen, um Geld zu sparen.«

»Hör mal, hieß die Karen etwa Karen Masterson?«, fragte Leia. »Die Kostümbildnerin?«

Martock nickte. »Dein Bikini kam mir gleich bekannt vor. Den hat Karen doch entworfen, nicht wahr?«

»Ich hab sie beauftragt, ihn für mich zu schneidern«, sagte Leia. »Aber wenn du nichts dagegen hast, tausch ich ihn gegen etwas anderes ein. Unter den gegenwärtigen Umständen ist er nicht gerade praktisch.«

»Mach nur«, sagte Martock. »Ich bin sicher, dass Karen nichts dagegen hätte.«

Leia klopfte ihm auf die Schulter und ging nach nebenan. Jim stellte Martock den Rest seiner Crew vor und weihte ihn in sein Vorhaben ein, sich zur Ecksuite durchzuschlagen.

»Mir ist etwas eingefallen, das du mir unten erzählt hast«, sagte Jim. »Als ich mir deine Waffen angeschaut habe, sagtest du, es wären auch noch ein paar scharfe Klingen in deinem Zimmer.«

»Mehr als ein paar«, sagte Martock.

Bevor er näher darauf eingehen konnte, kam Leia aus dem Nebenraum zurück. Gary schnappte nach Luft und packte Jims Unterarm. Sie hatte etwas angezogen, das dem ähnelte, was Prinzessin Leia in der Anfangssequenz von Krieg der Sterne getragen hatte – ein schneeweißes Gewand mit Kapuze, das an der Taille von einem silbernen Gürtel zusammengehalten wurde.

»Was haltet ihr davon?«, fragte sie. »Ich hab sogar die passenden Schuhe dazu.«

»Es ist sensationell«, keuchte Gary.

»Ich bin nur froh, dass ich etwas in meiner Größe gefunden habe«, sagte Leia achselzuckend. Sie warf einen kurzen Blick auf das Etikett, das an einem Ärmel baumelte. »Mr. Michael Bigalow aus Dallas wird sehr enttäuscht sein, wenn er erfährt, dass ich seine Bestellung entgegengenommen habe.«

Rayna lachte. »Michael Bigalow ist eine Transe. Er tritt in echt komischen Glitzershows auf. Unter anderem als der weibliche Time Lord Dr. Who-a und als der nymphomanische Borg Sechzig von Neun.«

»Tja, ich schätze, die Show von heute Abend ist abgesagt«, sagte Leia. Sie riss das Etikett ab und warf es weg.

»Halte es in Ehren«, sagte Martock.

»Mach ich«, sagte Leia. »Und ihr wartet, bis ihr das Zubehör seht.« Sie huschte nach nebenan und kehrte gleich darauf mit einem ein Meter zwanzig langen Stab zurück. Am einen Ende befand sich eine Keule, am anderen eine fächerförmige Klinge.

Jim schaute Martock an. »Sag bloß, die ist echt.«

»Eine Lirpa«, sagte Martock. »Eine zeremonielle Waffe der Vulkanier. War zum ersten Mal in der Star Trek-Episode Amok Time (Weltraumfieber) zu sehen.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen«, sagte Jim. »Hast du noch mehr davon?«

»Bedient euch einfach«, sagte Martock. »Es ist alles da. Aber seid vorsichtig. Die Waffen sind scharf.«

Jim, Leia, Willy und Gary gingen nach nebenan.

»Fröhliche Weihnachten, Leute«, sagte Leia.

»Und ein frohes neues Jahr«, erwiderte Jim und begutachtete den Inhalt des Raumes.

Der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses wurde von zwei langen fahrbaren Gestellen voller Kleiderhüllen eingenommen. Doch Jim interessierte sich mehr für den auf dem Tisch ausgebreiteten technischen Kram.

Er sah vier bösartig aussehende Säbel, die er als Yane – klingonische Zeremonialwaffen – identifizierte. Er nahm eine in die Hand, prüfte die Klinge und schwang sie versuchsweise herum. Gary und Willy bewaffneten sich mit den gleichen Dingern und führten ein Scheingefecht.

»Dass bloß niemand meine Lirpa begrabscht«, sagte Leia.

»Das würde mir nie einfallen«, sagte Jim. »Jedenfalls nicht, bevor wir dreimal ausgegangen sind.«

Gary lachte, doch Leia wirkte beunruhigt.

»So geht das also?«, fragte sie.

»Wie geht was?« Jim prüfte die Waffe weiterhin.

»Wir stürzen in ein Zimmer und machen eine ganze Zombiefamilie kalt, die vor nicht allzu langer Zeit noch aus Menschen bestand. Und wenige Minuten später blödeln wir schon mit Säbeln und Schwertern herum, und ich sage euch, niemand soll meine Lirpa anfassen. So geht es also?«

»Man könnte es so sagen«, sagte Jim. »Man schiebt das Passierte beiseite, um Platz für das zu schaffen, was noch kommt.«

»Ach so«, sagte Leia. »Und wie fest kann man schieben, bevor das Geschobene zurückschiebt?«

»Diese Frage kannst du einem Therapeuten stellen«, sagte Jim. »Vorausgesetzt, dass die Welt sich wieder normalisiert und es dann noch Therapeuten gibt.«

»Ich möchte ein Bat’leth«, sagte Gary. »Kann ich ein Bat’leth haben?«

»Nein«, erwiderte Jim. »Niemand kriegt eine Waffe, ohne dass er Gelegenheit hatte, mit ihr zu üben. Das gilt auch für dich, Mister.«

Gary setzte eine finstere Miene auf und ließ seinen Säbel sinken.

»Die Prinzessin hat auch ’ne Waffe«, sagte er. »Die hat auch nicht geübt.«

»Sie kriegt einen Bonus, weil sie schon Erfahrungen in der wirklichen Welt gemacht hat«, erwiderte Jim. »Was euch betrifft, kriegt niemand auch nur eine Nagelfeile, bevor er nichts über die Grundlagen ihrer Bedienung weiß. Wenn es euch beruhigt: Wir bleiben, wenn wir in die Ecksuite gehen, bei unseren Tasern.«

»Noch immer?«, fragte Leia.

»Wir sind nur eine Tür entfernt. Wir wären verrückt, wenn wir diese Chance nicht nutzen würden.«

Gary ging zur Zwischentür, die in die Ecksuite führte und drückte ein Ohr daran.

»Ich höre nichts«, sagte er.

»Vielleicht ist das gut«, sagte Jim. »Vielleicht aber auch nicht. Diese Biester wirken ziemlich lethargisch, wenn es nichts zu fressen gibt. Da drüben könnte ein Dutzend von denen rumlungern. Die warten vielleicht nur darauf, dass der Etagenkellner kommt.«

Gary schüttelte den Kopf. »Mann, dir fallen aber auch immer nur die allerschlimmsten Möglichkeiten ein.«

»Wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, wird man manchmal angenehm überrascht«, sagte Jim. »Und jetzt setzen wir unser Pokergesicht auf und ziehen die Sache durch.«

Er zog seinen Taser und nickte Leia zu, die sich hinter ihm aufstellte. Dann schloss er die Tür so leise wie möglich auf, öffnete sie einige Zentimeter weit und trat über die Schwelle.

Die Lampen waren eingeschaltet. Alles wirkte ordentlich. An der Wand gegenüber sah Jim verhängte Fenster.

Er schaute nach links. Ein Mann saß mit einem Laptop auf den Knien in einem dicken Polstersessel. Er klappte den Rechner zu und gaffte Jim mit offenem Mund an.

Jim gaffte zurück.

»Sagen Sie etwas«, sagte der Mann schließlich.

Jim lächelte. »Dr. Sandoval, nehme ich an?«

Der Mann atmete sichtlich erleichtert aus. »Stets zu Diensten.«