10

Dagger of the Mind

Janice saß im Erdgeschoss in Dexters Büro und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Sie musterte die Wanduhr und beobachtete den großen Zeiger, der sich von einer ereignislosen Minute zur nächsten quälte.

Das Intermezzo gab ihr Zeit zum Nachdenken. Was in ihrem gegenwärtigen Zustand das Gefährlichste war, was sie tun konnte.

Das Hotelpersonal war verschwunden. Dies galt auch für die meisten Gäste. Die Telefone funktionierten nicht mehr. In der Stadt gab es Krawalle – oder etwas, das Krawallen nahe kam. Und jetzt hatte Jim sie alleingelassen.

Sie schaute wieder auf die Uhr. Immer wenn der dünne rote Sekundenzeiger die oberste Position des Zifferblatts erreichte, sprang der Minutenzeiger mit einem deutlich hörbaren Klick einen Strich weiter. Früher war ihr das Geräusch nie aufgefallen. Wieso eigentlich?

Als Janice die Uhr musterte, traf ihr Unterbewusstsein eine Entscheidung. Statt zu versuchen, den Strudel der Ereignisse zu analysieren, schob sie sie einfach beiseite. Die sich verlängernde Liste des Grauens und der Geheimnisse dieses Abends sammelten sich in einer strammen Kugel und wurden in einer zerbrechlichen Schale des Verleugnens versiegelt.

Selbstverleugnung. Wahnvorstellung.

»Ich bin die Geschäftsführerin«, murmelte Janice vor sich hin, als fiele es ihr gerade ein. »Ich gehe diesem Beruf seit siebzehn Jahren nach. Ich muss ein Hotel leiten.«

Alles andere war gelöscht.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Lärm in der Empfangshalle. Da waren Leute, die wollten ins Haus. Zahlende Gäste. Wahrscheinlich waren sie wütend. Es war ihre Pflicht, den Leuten zu helfen. Zumindest musste sie ihnen erklären, was los war. Kommunikation war oft der Schlüssel, mit dem man unzufriedene Gäste besänftigen konnte. Die Menschen zeigten sich angesichts suboptimaler Bedienung oft überraschend versöhnlich, wenn sie die Gründe dafür kannten. Die beste Möglichkeit für ein Hotel, das sich in Reiseführern Qualitätssterne ergattern wollte, bestand darin, die Kundschaft von Problemen fernzuhalten.

Und doch saß sie, die Tagesmanagerin, untätig hier auf einem Stuhl herum, weil irgendein Halbwüchsiger gesagt hatte, sie solle sich nicht von der Stelle rühren.

So ein Quatsch. So konnte es doch nicht weitergehen.

Sie musste einfach nur die Verantwortung übernehmen.

Janice stand auf, atmete tief durch und riss sich zusammen.

»Es wird schon alles gutgehen«, redete sie sich ein. »Ich muss mich dem Problem nur stellen – mich mit ihm auseinandersetzen.«

Sie verließ Dexters Büro, schritt langsam durch das leere Verwaltungszentrum des Botany Bay und begab sich in die Empfangshalle. Ihr Erscheinen führte zu einem tumultösen Gestöhn und Geklopfe.

Janice begab sich an die gläserne Innentür. Sie ging so nahe heran, dass sie gute Aussicht auf die draußen wartende Menge hatte. Sie sah mehrere kostümierte Star Trek-Fans. Sie sahen aus, als hätten sie einen Unfall gehabt.

Ihre Laune besserte sich ein wenig, als sie Oscar erspähte.

»Oscar!«, rief sie über den Lärm hinweg. »Bist du in Ordnung? Wo warst du denn nur?«

Oscar, das sah sie nun, war nicht in Ordnung. Sein Gesicht war sehr blutig. Irgendetwas hatte seinen Brustkorb geöffnet, so dass seine Innereien im Freien baumelten. Er schleifte graues Gedärm wie einen Gartenschlauch hinter sich her.

Janice hatte den Eindruck, dass Oscar sich lieber von einem Arzt untersuchen lassen sollte, statt da draußen zu stehen und mit seinen muskulösen Armen gegen die Glastür zu schlagen.

Eins war klar: Es musste etwas geschehen.

Janice dachte an ihre Ausbildungszeit, an die Management-Seminare, an denen sie zweimal jährlich im Hauptquartier der Firma im Charleston teilnahm. Dann räusperte sie sich und fing an zu sprechen.

»Meine Damen und Herren«, sagte sie zu dem blutigen Grauen, das vor der Tür versammelt war, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Zimmer nicht zugänglich sind. Das Botany-Bay-Hotel- und Konferenzzentrum wurde in der Absicht gegründet, Gästen mit hervorragendem Service dienlich zu sein. Da mir bewusst geworden ist, dass wir dieses Versprechen momentan nicht erfüllen können, ersuche ich Sie, während wir uns bemühen, die Situation zu korrigieren, um Geduld und Nachsicht.«

Die Antwort, die Janice erhielt, bestand aus weiterem Gestöhn.

Und etwas anderem.

Ihre Ohren hörten es zwar nicht, aber ihr Verstand. Es waren keine Worte, sondern eher ein starkes Verlangen, und es sickerte aus den finsteren Regionen ihres Hirns hervor. Irgendetwas in ihr sagte ihr, was sie tun sollte, und pflanzte ihr das starke, fast urweltliche Verlangen ein, die Türen zu öffnen. Damit die armen, schrecklich mitgenommen aussehenden Gäste eintreten konnten.

Janice fragte sich, woher diese Anregung wohl kam. Sprach jemand aus der Menge zu ihr? Sie schaute von einem blutigen Gesicht zum anderen. Ein eigenartiges Geschwulst schien allen gemeinsam zu sein: Entweder wuchs es auf einem Gesicht, einer Schulter oder – in einem Fall – mitten auf einem Brustkorb. Die knolligen Dinger wirkten wie große weiße Augäpfel, mit einer scharlachroten Pupille in der Mitte.

Alle schätzungsweise hundert Menschen vor der Tür schienen dieses Auge aufzuweisen.

Und sämtliche Augäpfel starrten sie an.

Janice musterte eine Frau in einer roten Raumflottenuniform. Da die Menge sie gegen das Glas drückte, war sie ihr am nächsten. Auf der rechten Schulter der Frau wuchs ein Augapfel. Janice schaute ihn genau an. Sehr genau.

Sie stierte ihn eine ziemliche Weile an. Sie war wie hypnotisiert.

Der Augapfel wollte Kontakt mit ihr aufnehmen. Er wollte, dass sie etwas Bestimmtes tat, doch er rang noch um die richtigen Worte. Er durchwühlte das, was vom Verstand seines Wirts noch übrig war, bis er etwas fand, das seinen Wunsch artikulierte.

Wir wollen dir nichts Böses, flüsterte es in Janices zerbrechlichem Bewusstsein. Schalte nur deinen Schutzschirm ab.