5

Errand of Mercy

Der Frachtaufzug war groß und jämmerlich beleuchtet. Einige Hotelangestellte benutzten ihn für die Zigarettenpause, weswegen er normalerweise nach Nikotin stank. Heute jedoch konnte Jim nur Gary riechen. Beziehungsweise den schwarzen Sabber auf seinem T-Shirt.

Die Aufzugtür ging zu. Langsam rumpelten sie dem siebenten Stock entgegen.

»Verzeih meine Frage«, sagte Jim, »aber was zum Henker ist dir passiert?«

»Ganz verrückte Scheiße ist mir passiert«, erwiderte Gary. »Wir fuhren die 249 runter und waren gerade auf dem Beltway 8, als der Commodore zum Tanken anhielt. Wer da an die Pumpe gehen musste, kannst du dir bestimmt vorstellen.«

Jim deutete auf Gary.

»Bestätige. An der Tanke stand nur ein Wagen, und zwar ein Volvo-Kombi. Während ich also dastehe und darauf warte, dass der Bustank sich füllt, sehe ich, dass die Volvo-Fahrerin sich überhaupt nicht rührt. Sie liegt auf dem Lenkrad. Ihr Fenster ist etwa fünfzehn Zentimeter weit runtergelassen. Der Gestank, der aus ihrer Karre kam, war unglaublich.«

»Was hast du gemacht?«, fragte Jim.

»Ich hab an die Scheibe geklopft, aber sie hat sich nicht gerührt. Ich denk also, sie ist tot. Ich ruf nach Matt, dass er rauskommen und gucken soll. Und genau in der halben Sekunde greift die Schnalle plötzlich nach mir. Sie streckt ihre Hand im Nu durch das offene Fenster und glotzt mich an wie ’ne Irre. Ihr Gesicht klebt förmlich an der Scheibe; ihr Maul schnappt nach mir wie das von ’nem Krokodil. Mehr weiß ich nicht mehr. Matt sagt, ich hätte einen irren mädchenhaft aussehenden Tanz aufgeführt, bevor sie mich losgelassen hat.«

»Er ist nicht ausgestiegen, um dir zu helfen?«

»Nee. Er hat gesagt, er hätte sich verpflichtet gefühlt, sich da rauszuhalten. Er hat nämlich im Radio gehört, man soll sich nicht in den Rhythmus der Natur einmischen. Also hat er sich meinen Abwehrkampf gegen das verrückte Luder nur angeschaut.«

»Aber das Zeug auf deinem Shirt …«

Gary nickte.

»Sie hatte es überall an den Händen. Irgendwie könnte ich aber schwören, dass es aus ihren Händen kam. Wie Blasen oder Hautabschürfungen oder so. Sie hatte es auch überall im Gesicht.«

Jim musterte kurz Garys Gesicht. Dann stieß er einen langen Seufzer aus.

»Es klingt nach Im Morgengrauen der ausgeflippten Leichen«, sagte er. »Und du nimmst mich bestimmt nicht auf den Arm?«

Nun musterte Gary Jim.

»Hast mich erwischt«, sagte er. »War alles nur ’n Scherz. Ich hab mich mit ’nem Tierkadaver über den Boden gewälzt, bloß um dir ’ne Geschichte über ’ne irrsinnige Tante zu verkaufen, die in ’nem Volvo saß. Obwohl wir uns gerade erst begegnet sind, habe ich nichts anderes im Kopf als dich auf den Arm zu nehmen. Ich habe überhaupt keine anderen Fantasien.«

Der Lift bimmelte, als er den siebenten Stock erreichte. Die Tür ging auf. Jim ging zuerst hinaus, um sich zu versichern, dass der Gang frei war.

»Na schön«, sagte er. »Gehen wir.«

»Mach dir keine Sorgen, dass ich irgendwelche Gäste erschrecken könnte«, meinte Gary, als er den Aufzug verließ und Jim durch den Korridor folgte. »Auf einer Zusammenrottung von Star Trek-Fans werde ich nicht der schlimmste Anblick sein.«

»Vielleicht nicht.« Jim blieb vor Zimmer 744 stehen. »Aber keiner riecht so wie du.«

Er zog die Schlüsselkarte durch den Schlitz und öffnete die Tür. Die Einrichtung bestand aus zwei großen Betten, einem kleinen Bad und Fenstern, die ins riesige Atrium des Botany Bay hinabschauten. Über jedem Bett hing ein Gemälde. Man fand sie in fast allen Zimmern. Eins stellte Captain Cooks erste Landung an der australischen Küste dar, an einer Stelle, die er später Botany Bay getauft hatte. Das andere Gemälde zeigte sein Segelschiff, die HMS Endeavour, auf sturmumtoster See. Die Gemälde waren der offensichtlichste – und eigentlich auch einzige – Versuch des Hotels, den Gästen seinen Namen zu erklären.

Warum sich allerdings ein Hotel in Houston nach den Abenteuern eines britischen Kapitäns des 18. Jahrhunderts benannte, wusste Jim nicht.

»Surak sei Dank!«, rief Gary. »Ich will mir nur eben die Klamotten vom Leib reißen, mich duschen und für ’ne Weile aufs Ohr hauen!«

»Die ersten beiden Wünsche seien dir gewährt, der dritte jedoch nicht.« Jim warf den großen grünen Matchbeutel des jungen Mannes auf eins der Betten. »Man erwartet uns unten zum Klingonenfest.«

Gary schaute Jim müde an, dann öffnete er den Reißverschluss des Beutels, entnahm ihm eine riesige Shirt-Pappschachtel und Rasierzeug und verschwand mit allem im Bad. Kurz darauf ging die Toilettenspülung. Dann sprang die Dusche an.

Jim ließ sich am Fenster in einen winzigen Polstersessel fallen. Er machte sich die geistige Notiz, Gary zu bitten, seine muffigen Klamotten in eine Plastiktüte zu stopfen, damit sie das Zimmer nicht verpesteten. Er überlegte sogar, ob er nicht in den Korridor hinausgehen und aus einem der Haushaltskarren einen Müllsack klauen sollte.

Er vergaß die Idee. Was ging es ihn an, wenn ein Hotelzimmer müffelte? Oder wann eine Torte angeliefert wurde, die wie ein klingonischer Schlachtkreuzer aussah? Ob das Büfettpersonal seine Arbeit vernachlässigte?

Davon ging die Welt nicht unter.

Aber die Sache mit der Frau im Volvo … Dabei war es vielleicht doch um Leben und Tod gegangen. Garys Geschichte trug zu Jims allgemeinem Unbehagen noch bei: Menschen, die gebissen wurden. Menschen, die erkrankten. Eine Frau, die ächzte, biss und nach Tod stank, wie in Zombie.

Gary kam aus dem Bad. Er trug einen grauenhaft schlecht sitzenden blauschwarzen Overall. Sein Anblick brachte Jims Gedankenkette heftig ins Stolpern.

»Erste Staffel von Nächste Generation«, sagte Gary. »Hat meine Mutter geschneidert. Was hältst du davon?«

Für Jim sah es so aus, als nähmen die Musterungsoffiziere der Raumflotte nun schon jeden Abschaum, aber er versuchte, seine Geringschätzung diplomatischer zu äußern. »Da fragst du wahrscheinlich den Falschen. Ich glaube, ich bin schon vor ein paar Jahren der Serie entwachsen.« Er deutete auf Garys Schritt. »Aber deine Nüsse sind gut zu sehen.«

Gary zog fest am Innensaum seines Anzugs.

»Besser?«, fragte er.

»Das solltest du lieber alle paar Minuten machen. Nur, damit du ganz sicher sein kannst.«

Gary nahm auf der Ecke eines Bettes Platz.

»Ich bin völlig kaputt«, sagte er.

»Vielleicht hat die Zombietussi dich infiziert«, meinte Jim.

»Ich hab nie gesagt, dass sie ’n Zombie war, Alter. Das hast du gesagt.«

»Aber denk doch mal nach«, sagte Jim. »Sie wollte dich beißen. Sie war eindeutig nicht bei Sinnen. Und zumindest ist ein Teil von dem Schleim auf deinem Shirt Blut. Ich hab genug Blut gesehen, um zu wissen, wie es aussieht. Außerdem weiß ich, wie es riecht.«

»Du machst mir allmählich Angst«, sagte Gary.

»Ich hab selbst Angst«, sagte Jim. »Weil ich von zwei Leuten weiß, die heute gebissen wurden. Eine der beiden hat plötzlich einen echt komischen Ausschlag auf der Schulter. Viele meiner Arbeitskollegen haben sich außerdem telefonisch krankgemeldet. Geht es in Zombiefilmen nicht immer so los? Mit vielen kleinen Zwischenfällen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben?«

»Deine Theorie krankt nur an einem Problem«, sagte Gary. »Es gibt keine Zombies! Es gibt sie nur in Science-Fiction-Filmen.«

»Ich weiß«, sagte Jim. »Aber alle Daten führen zum gleichen Schluss.«

»Zum gleichen höchst unlogischen Schluss«, stellte Gary klar. »Da ich ein fest in der Realität verankerter Mensch bin, sollte ich dir vielleicht den Rat geben, dich mal für ’ne Weile aus allem auszuklinken und dir eine Diagnose stellen zu lassen. Falls du verstehst, was ich meine.«

Ich bin nicht der, der einen figurbetonten Overall trägt, dachte Jim. Aber es brachte wohl nichts, das Thema weiter zu diskutieren. Er glaubte eigentlich nicht, dass die Welt von wandelnden Toten überrannt wurde – er wusste nur, dass seine Instinkte beschäftigt waren und er den Grund dafür gern gekannt hätte.

Doch jetzt mussten sie an einer Festlichkeit teilnehmen.

Jim und Gary verließen das Zimmer und begaben sich durch den Korridor zu den Aufzügen. Als Gary merkte, dass es fast 19:00 Uhr war, beschleunigte er seinen Schritt. »Ich will mir von Matt keinen Scheiß anhören, wenn ich zu spät komme«, sagte er.

»Reg dich ab«, sagte Jim. »Warum lässt du dir eigentlich von dem alles gefallen?«

»Matt kann ein echter Arsch sein, aber in der Spielebranche ist er schon ’ne Legende. Du wirst es morgen sehen, wenn er Autogrammstunde hat. Die Fans stellen sich stundenlang bei ihm an. Schätze, dass einem so was irgendwann zu Kopfe steigt.«

Der Aufzug kam. Sie stiegen ein. »Begabung ist aber keine Entschuldigung dafür, seine Angestellten wie Hundescheiße zu behandeln«, sagte Jim.

Gary seufzte. »Eigentlich ist er mein Angestellter. Ich bin sein Boss.«

»Im Ernst?«

»Es ist so«, sagte Gary. »Es ist verdammt schwierig, sich ein neues Spiel auszudenken, das auch bei den Leuten ankommt. Es zu gestalten, ist noch schwieriger. Matt hat sich ein Spiel ausgedacht und es gestaltet. Das bedeutet, dass er einen Wert darstellt und toleriert werden muss. Meine Aufgabe – einer meiner wichtigsten Aufgaben – besteht darin, die Begabten in meiner Firma glücklich zu machen.«

Der Aufzug fuhr glatt und schnell nach unten. Seine Glaswände boten den Passagieren gute Aussicht auf die riesige Empfangshalle des Botany Bay.

»Du bist Sandsack von Beruf«, sagte Jim.

»Ein äußerst gut bezahlter Sandsack«, sagte Gary. »Aber eins muss ich Matt zugutehalten: Er ist kein Heuchler. Er sagt, dass ich dick bin, und ich bin es ja auch. Er sagt, dass ich nie ’ne Braut abschleppen werde, und er hat Recht damit. Er sagt, dass ich bei meiner Mama wohne, und auch das stimmt.«

»Wenn du so gut bezahlt wirst, warum hast du dann kein eigenes Zuhause?«

Garys Miene wurde plötzlich ernst.

»Tja, weißt du … Mama ist siebenundsechzig Jahre alt und sitzt, seit ich in die Highschool kam, im Rollstuhl. Seit dem Tag … des Unfalls. Sie sagt mir alle nasenlang, dass ich mir ein eigenes Zuhause schaffen und mein eigenes Leben führen soll, aber ich kann sie doch nicht in einem Pflegeheim abladen und mich dünnemachen. Ich möchte mich um sie kümmern, weil sie sich früher um mich gekümmert hat. Verstehst du?«

»Yeah«, sagte Jim. »Ja, klar.«

»Irre«, sagte Gary. »Weil ich mir den ganzen Scheiß nur ausgedacht habe. Meine Alte ist so gesund wie nur was. Ich wohne nur bei ihr, weil ich ’ne absolute Null bin.«

Jim lächelte.

»Und ich dachte, Matt ist ’n Wichser«, sagte er.

Der Aufzug machte Ping und gab bekannt, dass sie das Erdgeschoss erreicht hatten. Gary wollte hinausgehen, doch Jim verstellte ihm den Weg, indem er einen Arm über seinen Brustkorb legte.

»Deine Nüsse«, sagte er.

Gary justierte noch einmal sein Gewand, dann setzten sie den Weg fort.