Einige Anmerkungen

1) Kapitel 3 endet mit dem Hinweis auf die unglückliche, von einem Partnerinstitut herbeigeführte Ehe zwischen Fritz und Sheila, eine Ehe, welche mit dem Tod der Frau sowie der Bestrafung des Mannes dadurch, am Leben bleiben zu müssen, endet. Für all jene Leser, die an dieser Geschichte wie vielleicht überhaupt an der Horribilität der Ehe ein gewisses Interesse besitzen, möchte ich die Ereignisse im folgenden näher beschreiben, und zwar unter dem Titel:

 

Manche suchen das Glück und finden eine Bombe

Am Anfang ging es. Aber am Anfang geht es meistens. Das ist nicht eine Frage des Wirkens, sondern des Wollens. Man will eben, daß es geht. So wie man es wollen kann, statt der üblichen zehn Liegestütze mal fünfzehn zu machen, sechzehn, mit aller Kraft und hochrotem Kopf auch noch siebzehn. Danach ist man natürlich fix und fertig. Und fragt sich, was das eigentlich soll.

Fritz und Sheila fragten sich, warum sie geheiratet hatten. Nicht, daß sie laut fragten. Sie sahen sich nur auf diese bestimmte Weise an, wie man jemanden anguckt, dem Haare aus den Nasenlöchern wachsen oder bei dem die Augenbrauen in der Mitte zusammenstoßen. Nicht wirklich schlimm, aber schon komisch. Was nichts daran änderte – boshafte Natur! –, daß ein Kind auf die Welt kam, dann ein zweites. Ein Kindermädchen wurde engagiert, damit die Kleinen nicht ganz so ins Gewicht fielen. Fritz und Sheila mochten ihren Nachwuchs ganz gern, doch so richtig zu lieben fingen sie ihre Schätzchen erst an, als ein paar Jahre später das Wort Scheidung fiel.

Es ist ein unabänderbares Phänomen. Dieselben Kinder, die man bis dahin im Farbenmeer eines Kinderzimmers, verdeckt von irgendeiner Französisch sprechenden Aupairexistenz, kaum ausmachen konnte – man muß es gestehen, ein kleines Pelztier namens Alf wäre einem näher gestanden –, dieselben Kinder erstrahlen plötzlich in hellstem Glanz. Man sieht ihre Lieblichkeit, ihr feines Wesen, genießt ihre Zärtlichkeit, staunt über ihre Gescheitheit… Gott, von wem haben sie das? Doch nicht von dieser Kindermädchenzicke mit ihrem schmalzigen Getue und einem bretonischen Dialekt, den keiner versteht. Man kommt nicht umhin, sich diese Gescheitheit selbst anzurechnen. Ja, man schaut in diese Kinder wie in einen Spiegel hinein, der nun wirklich ein magischer Spiegel ist und einem nur Sachen zeigt, die man gerne gezeigt bekommt.

Darum ist eine Scheidung so wertvoll. Man beginnt Kinder zu lieben, die man sonst kaum wahrgenommen hätte, zumindest erst sehr viel später, wenn die Probleme losgehen: Drogen, Schulrausschmiß, Diebstahl, falscher Umgang, Schwangerschaft. So aber erlebt man das Wunder kleiner Engel. Und alles wäre so himmlisch, wäre da nicht der andere, der Gegenspieler, welcher ebenfalls darauf besteht, das Wunder kleiner Engel zu erleben. Plötzlich, dieses Arschloch!

Fritz und Sheila zogen in den Krieg, jeder mit dem Anspruch, die Kinder, fünf Jahre und vier Jahre, beide Mädchen – man hätte genausogut sagen können: die Grundstücke, 5 Ar und 4 Ar, beide mit Meerblick –, die Kinder also ganz für sich zu behalten. Weil der jeweils andere Elternteil jegliches Verantwortungsgefühl vermissen lasse, unverläßlich sei, eine Bedrohung, eine Gefahr für die Kinderpsyche, für die gesunde Entwicklung und so weiter.

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Dinge im Zuge solcher Scheidungskriege ans Tageslicht gezerrt werden. Als hätten sich die Kontrahenten von der ersten Sekunde ihrer Beziehung an auf diesen Kampf vorbereitet. Das macht die Sache ja so schwer für die Gerichte, die Fülle an erschreckenden Details. Doch die faktische Dreckwäsche allein ist es noch nicht. Zum Krieg gehört die Manipulation, die Tücke, die Tarnung, vor allem aber bedeutet Krieg eines: die Erfindung des Feindes. Ausgehend vom tatsächlichen Gegner wird ein Feind kreiert, wie er gar nicht existiert.

Es gibt freilich gute und schlechte Erfindungen. Es gibt neue Düsenantriebe, die funktionieren, und welche, die nicht funktionieren. Fritz’ Versuche, seine Frau anzuschwärzen, erwiesen sich als mangelhaft. Sheila war da wesentlich geschickter. Sie zog gleich mehrere Zeugen aus der Tasche, die davon berichteten, ihr Mann hätte sich zu Übergriffen gegen die beiden Töchter hinreißen lassen. Vor allem die Äußerungen des Kindermädchens wogen schwer, wie auch die von Sheilas Mutter sowie eines Nachbarn. Fritz war fassungslos. Wenn man ihm etwas vorhalten konnte, dann dasselbe wie Sheila: sich nicht um die Kinder gekümmert zu haben, sie bloß als Schauobjekte zu gewissen Veranstaltungen mitgeschleppt und sich im übrigen auf das Mitbringen von Geschenken, auf Gutenachtküsse und wochenendbedingte Kommunikationsminiaturen beschränkt zu haben. Wie hätte es überhaupt zu Übergriffen kommen können? Übergriffe, deren genaue Art ein wenig vage blieb. Die Vorwürfe reichten aber vollends aus. Das hier war kein Mordprozeß, wo man etwas beweisen mußte. Es galt, sich ein Bild zu machen von den beiden Elternteilen. Fritz’ Bild wurde – während sich sein von Sauriern leider verschont gebliebener Anwalt aufs Schulterzucken verlegte – zusehends dunkler. Geradezu ein Dorian Gray. Am Ende mußte er froh sein, die Mädchen unter strengen Auflagen überhaupt noch sehen zu dürfen. Sheila hatte sich als cleverer und kaltblütiger erwiesen. Sie lernte dann sehr bald einen neuen Mann kennen …

Fritz hatte verloren. Doch er wollte es genau wissen. Er heuerte einen Privatdetektiv an, der sich das ehemalige Kindermädchen vorknöpfte. Der Detektiv knöpfte sich eine Menge Leute vor. Und das Interessante war nun, daß es nicht Sheila gewesen war, die diese Leute samt ihrer Aussagen gekauft hatte, sondern Kreise aus der Unterwelt.

»Was für Kreise aus der Unterwelt?« fragte Fritz.

»Wollen Sie das wirklich wissen?« erkundigte sich der Detektiv, der die etwas merkwürdige Anschauung vertrat, daß das, was man unter Wahrheit verstand, seit den Siebzigerjahren sehr viel an Qualität eingebüßt habe. Die Wahrheit unserer Tage sei teuer, dafür schlecht.

Doch das kümmerte Fritz nicht. Er wollte diese Wahrheit erfahren. Und erfuhr sie. Hinter der ganzen Sache schien jener Mann zu stehen, den Sheila angeblich erst Monate nach ihrer Scheidung kennengelernt hatte und zu dem sie dann mit den Kindern gezogen war. Ein anerkannter Mediziner, welcher offiziell mit keinerlei Unterweltlern in Verbindung gebracht wurde…meine Güte, der Mann war eine Kapazität, ein Mann fürs Fernsehen, ein Mann für die Spendengala. Aber gerade Mediziner, zumindest die anerkannten, treibt es in die Unterwelt. Schwer zu sagen, warum das so ist. Vielleicht finden sie dort die besseren Patienten. Vielleicht finden sie dort Leute, die weniger jammern und mehr bezahlen. Vielleicht.

Jedenfalls war es dieser Chirurg gewesen, den die Kollegen so scherzhaft wie anerkennend das gute Messer nannten, welcher die Manipulationen in Auftrag gegeben hatte, denen es zu verdanken war, das Fritz als ein miserabler Vater erschien, als ein Choleriker, der möglicherweise sogar seine Kinder geschlagen hatte und welcher jetzt praktisch gar kein Vater mehr war, seine beiden Töchter wie hinter einem Sauerstoffzelt erlebte und ganz gut wußte, daß die Sache nur noch schlimmer werden würde. Keine Frage, Sheila würde alles unternehmen, aus ihrem neuen Mann auch den neuen Vater ihrer Kinder zu machen. Was offenkundig von diesem selbst seit langem geplant worden war.

Fritz war kein Mediziner. Er war zwar weder dumm noch arm, aber er war kein Mediziner. Er hatte keinen Kontakt zur Unterwelt. Er würde niemals in der Lage sein, einen Kerl wie diesen Arzt auszustechen, ein gutes Messer an die Wand zu spielen. Das wußte er. Das begriff er. Und es machte ihn weit wütender, als er ohnehin schon war. In einem Restaurant schlug er einen anderen Mann zusammen, irgendeinen Typen, wegen irgendeiner harmlosen Bemerkung. Fritz schlug ihn zusammen, weil er Sheila und ihren famosen Chirurgengatten nicht zusammenschlagen konnte.

Altes Gesetz. Wenn jemand mit Erfolg einer Tat oder Unart verdächtigt wird, die er gar nicht begangen hat, wird er später den Verdacht doch noch bestätigen, er wird die Lüge bewahrheiten. Fritz war also tatsächlich ein Mann geworden, der Prügel austeilte. Er erhielt eine Strafe auf Bewährung. Sein Leben zerbröckelte. Er war endlich so weit, sich umzubringen. Ganz im Sinne Sheilas. Allerdings war da ein kleiner Haken. Denn wie nicht wenige Menschen, griff Fritz statt zur Schlinge zum Alkohol. Das mochte einen Menschen zwar langfristig auch umbringen, aber eben nicht sofort. Und solange einer lebte, selbst wenn er trank, stellte er eine Gefahr dar. Eine minimale, doch in einer Welt der Zufälle und der Bestimmungen kommt es auf die Größe nicht an. Siehe Bakterien. Das wußte Sheila, und es war ihr ein wenig unbehaglich. Zu Recht.

Doch zunächst kam es wie erwartet. Fritz verlor den Kontakt zu seinen Kindern. Die Umstände der Zusammenkünfte waren beleidigend und deprimierend. Fritz fühlte sich wie ein Bluthund, den man unter strenger Kontrolle hielt, damit er keine Chance bekam, die eigene Brut zu verspeisen. Auf dieses entwürdigende Schauspiel konnte er verzichten. Er beschloß, die beiden Töchter nicht mehr zu sehen. Was Sheila nur lieb war, da sie meinte, es würde die Kinder stark verwirren, diesen offensichtlich angetrunkenen Menschen als ihren Erzeuger begreifen zu müssen. Sie seien durchaus in der Lage, Fritz zu vergessen und sich ihres wunderbaren, zärtlichen Stiefvaters als eigentlichen Elternteils bewußt zu werden. Auch Kinder hätten das Recht auf einen neuen Anfang. Und das stimmte ja.

Fritz ließ es geschehen. Er hatte Sorgen genug. Er mußte seine Werbeagentur verkaufen, seine Anteile am Haus, die Rotweinsammlung. Was ihm blieb, waren eine kleine Wohnung und – Höhepunkt der Ironie – ein Job als Assistent ausgerechnet jenes Detektivs, der die wahren Hintergründe aufgedeckt hatte. Und welcher Fritz dabei eine Menge Geld aus der Tasche gezogen hatte. Doch Fritz hielt diese Zusammenhänge, diese Koinzidenzen für unausweichlich. Eine Münze war eine Münze. So besaß das Unglück wenigstens eine scheinbare Struktur. Außerdem mochte er seinen neuen Beruf, lernte mit einer Kamera umzugehen, lernte ein wenig über Waffen und Sprengstoffe. Und lernte die Kunst unauffälligen Auftretens, wobei seine Trinkerei eher von Vorteil war. Er war ja weder stark verwahrlost, noch wankte er durch die Gegend, vielmehr schien er zu schweben, wirkte ein wenig abwesend, ein wenig verblödet, aber lieb verblödet, wie manchmal alte Menschen. Er war nicht jemand, dem man den Eintritt in ein Lokal verwehrte, er war nur jemand, den man nicht ernst nahm. Dem nichts anderes zugetraut wurde, als sich an der Theke einen kleinen Schnaps zu bestellen.

An seine Töchter dachte er selten. Er besaß in seinem Hirn ein paar Nischen, an die er selbst nicht herankam. Nischen, in denen er diese ganze traurige Geschichte verstaut hatte. Freilich sind Nischen keine Tresore, und das Hirn ist ganz grundsätzlich schwer unter Kontrolle zu halten.

Eines Tages ging er auf eine Party, die irgendein wichtiger Mensch gab. Eine Gartenparty. Sommersonne wie bestellt. Fritz hatte eine gefälschte Einladung. Kein ganz leichter Auftrag. Er sollte den Massenauflauf der Gäste dazu nutzen, um im Arbeitszimmer des Hausherrn nach bestimmten Unterlagen zu suchen. Als würden solche Unterlagen auf dem Schreibtisch herumliegen. Ein unmöglicher Job, der aber getan werden mußte, weil er bereits bezahlt worden war. Auch ein Scheitern muß erst mal in die Tat umgesetzt werden. So wie eine Versicherung nur für einen Schaden aufkommt, der wirklich eingetreten ist. Auf diese Weise betrachtet, ist ein Versicherungsbetrug bloß die erzwungene Einlösung des gesetzten Falls.

Fritz stand im Freien, ein Glas in der Hand, und zählte die Gäste, als wollte er sich selbst in den Schlaf wiegen. Doch dann sah er sie: Sheila und ihren Mann und die beiden Mädchen. Fritz wußte nicht einmal, wie alt seine Kinder jetzt genau waren, vielleicht acht und neun. Hübsche Kinder, herausgeputzt und lieblich wie auf einem Foto von diesem Weichzeichnerkünstler… wie hieß der doch? Fritz hatte es nicht mit Namen. Ja, er mußte froh sein, sich an die Namen seiner Töchter, die nicht mehr seine Töchter waren, zu erinnern. Namen, die er nie aussprach.

Aus den Nischen seines Kopfes trat die alte Wut. Er konnte seinen Blick nicht losreißen von dieser Familienidylle aus Primararzt und Gattin und den lachenden Mädchen in ihren pfiffigen Sommerkleidchen. Das Lachen drang herüber, die Leichtigkeit des Lebens, der Beweis, wie gut es den Kindern ging. Alles war so ordentlich, so perfekt. Eine Perfektion, die nur möglich geworden war, weil man ihn, Fritz, zu einem Ohrfeigen austeilenden Monstrum gestempelt hatte. – Die heillose Wunde brach auf. Fritz sagte sich: Rache ist eine schlechte Sache. Gehört aber dazu. Ohne Rache wäre das alles nicht komplett.

Keine Frage, die Wut raubte ihm den Verstand. Einerseits. Andererseits machte ihn die Wut ruhig. Er hatte sich unter Kontrolle. Er beschloß, etwas Raffiniertes zu unternehmen. Fing also nicht etwa an, gleich hier und jetzt durchzudrehen. Statt dessen begab er sich auftragsgemäß in das Arbeitszimmer des Partygebers, stöberte ein wenig herum und machte Aufnahmen von einer Schatulle, die auffälligerweise in einem simplen Karton untergebracht war. Sie aber auch nur anzufassen unterließ Fritz. Nahm sich jedoch die Zeit, ein Blumenbild zu studieren, ein im Stil der alten Meister gefertigtes Gemälde, dem man allerdings ansah, daß es aus unserer Zeit stammte. Die Blüten und Blätter, das Getier, die Wassertropfen, das Glas der Vase, der Marmor des Tisches, das Dunkel des Hintergrunds, dies alles wirkte auf eine wunderbare Weise realistisch, noch duftiger, noch lebendiger als die Wirklichkeit. Kompakter, gedrängter, ein Übergewicht an Wirklichkeit, zwei Atome, wo üblicherweise nur eins war. Licht und Schatten besaßen eine massive, alles verschlingende Samtigkeit. Fritz fühlte, wie diese Samtigkeit schwer auf seinen Augen lag, ihn beglückte und anstrengte (was ja auch der Sinn von Kunst ist). Und dann…eine Wespe – eine Wespe, die er selbstverständlich für gemalt gehalten hatte – löste sich aus dem Bild, brachte ihre Flügel in Schwung und schwirrte in den Raum hinaus, querte das halbe Zimmer, drehte ein paar Runden um den Luster, stieß einige Male heftig gegen die Scheibe, sauste an der Bücherwand entlang, zog eine Kurve und setzte exakt wieder an der Stelle im Bild auf, wo sie zuvor gesessen hatte, auf dem Kronblatt einer geflammten, fleischigen Tulpe. Dort blieb sie regungslos sitzen, und es wäre Fritz unmöglich gewesen, zu sagen, ob sie echt oder gemalt war, hätte er es nicht gerade eben erfahren. Wobei ihm der Gedanke kam, wie praktisch es für ein Wesen sein müßte, für jedes Wesen, zwischen einem gemalten und einem lebendigen Zustand hin und her wechseln zu können, sich also in ein Bild zu flüchten, um sodann aus diesem Bild heraus erneut und überraschend ins Leben zu treten, aber in der Folge – des Lebens müde – sich wieder in diesem Bild auszuruhen, nur noch aus Schichten von Farbe zu bestehen, so gut wie unangreifbar zu sein. Wären da nicht diese Leute, die Bilder immer antatschen müssen.

Auch Fritz hätte in diesem Moment gerne nach der Wespe gegriffen. Um festzustellen, ob sie nicht tatsächlich… Aber wie gesagt, Gemälde faßt man nicht an. Und Wespen schon gar nicht.

Er verließ die Party, ohne Sheila unter die Augen getreten zu sein. Einige Wochen später jedoch erschien Fritz – bestens gekleidet, seriös bis zu den Manschettenknöpfen und einer schwarzen Hornbrille, geradezu mastroianniartig elegant –, erschien er also auf einem Bankett, welches anläßlich der Übergabe einiger wertvoller Graphiken eines Privatsammlers an den Staat abgehalten wurde. Es waren hohe Gäste zu Besuch, zwei, drei Minister, zwei, drei Botschafter, eine Operndiva und auch jener hochangesehene Chirurg, der mit Operndiven und Ministern genauso gut konnte wie mit den Granden aus der Unterwelt. Einer Unterwelt, die sicherlich ebenfalls vertreten war, ohne daß man sie – die Unterwelt – irgendwie hätte ausmachen können. Die Unterwelt kam ja nicht daher wie in einem Mafiafilm. Zumindest nicht hier, im Umfeld einiger wunderbar zarter Zeichnungen von Ingres, Toulouse-Lautrec und Modigliani. Das Patengetue kam bloß dann zur Anwendung, wenn es nicht anders ging, wenn gewissermaßen das Publikum danach verlangte. Doch in diesen Museumsräumen verlangte niemand danach. Alles und jeder erging sich in Würde und nobler Zurückhaltung, selbst noch die Minister, was ein kleines Wunder darstellte. Aber Ingres war einfach ein zu starkes Argument. Man flüsterte, man redete allen Ernstes über die ausgestellten Bilder, unterließ jeglichen Klatsch und griff nur zögernd nach den dargereichten, ausgesprochen kleinen Häppchen, die auf ihre Weise ebenfalls eine graphische Qualität besaßen: ein Hauch von Speise, Essen als Skizze…jawohl, so und so könnte es schmecken, wäre es ein ausgewachsenes Brötchen, ein ausgewachsenes Stück Sushi. Ist es aber nicht. Dazu Champagner in hohen Gläsern, an denen jedoch kaum genippt wurde. Eher sah es aus, als würden all diese Leute säulenförmige Aquarien durch die Gegend tragen. Als würde es demnächst kleine Fische regnen, nicht minder zart wie das Essen und die Zeichnungen.

In diese bedacht-feierliche Stimmung und kunstsinnige Atmosphäre trat nun Fritz ein, der wieder einmal über eine gefälschte Einladung verfügte, aber diesmal, dank seiner Erscheinung, auch wirklich zu dieser Einladung paßte. Er wußte, daß Sheila und ihr Mann vor Ort sein würden, so wie er wußte, daß man die Töchter daheim gelassen hatte.

Nachdem alle Gäste von Bedeutung erschienen waren, wurden die Türen geschlossen. Man nahm Platz. Völlige Stille. Kein schepperndes Glas, kein schmatzender Ton, keine indisponierten Hörgeräte. Der Privatsammler, dem die Schenkung zu verdanken war, begab sich ruhigen Schrittes hinter das Rednerpult, schob seine Brille den Nasenrücken ein Stück abwärts und kramte ein Papier aus seiner Sakkotasche. Darauf war wohl die Rede notiert, doch es sah aus, als zaubere er – als Draufgabe auf die Schenkung – ein zerknülltes Stück Matisse hervor, welches er nun so sorgfältig wie liebevoll glättete, sich in der Folge mit einem Ausdruck distinguierter Verwirrtheit im Saal umsah, dann hinüber zu den Bildern blinzelte, als würde er sie ganz besonders willkommen heißen, und schließlich mit seiner Rede begann. Er war einer von diesen kleinen, hageren alten Männern, die einen immer rühren, gleich, was sie in ihrem Leben angestellt haben. Solche Männer wirken stets unschuldig, im Gegensatz zu den großen und dicken Männern, die noch so alt werden können, ohne uns jemals ein Gefühl der Ergriffenheit abzugewinnen.

Der Mann sprach über die Lust des Sammelns. Und über die Angst des Sammlers vor dem Tod, die größer sei als bei den anderen Menschen. Der Sammler verliere ja nicht nur sein Leben, sondern eben auch seine Sammlung, die man dummerweise nicht mit ins Grab nehmen könne. Denn im Unterschied etwa zu einem hinterbliebenen Ehegatten und längst erwachsenen Kindern, die auf sich selbst achten könnten, stehe mit dem Tod des Sammlers dessen Sammlung ungeschützt da. Natürlich versuche man, mittels Testamenten und Stiftungen und eigenen Museen einen Schutzwall zu errichten, aber der Sammler werde nie das Gefühl los, daß es der Sammlung nach seinem Tod in irgendeiner Weise an den Kragen gehe. Vielleicht, weil eine Sammlung ohne Sammler sinnlos anmute, als seien einem Körper plötzlich die Knochen abhanden gekommen, sodaß das Muskelfleisch, so kräftig es auch sein möge, völlig haltlos dastehe. Nein, diesem traurigen Gefühl, welches der Sammler im Angesicht eines heranrückenden Todes entwickle, sei durch keine Tricks, durch keinen noch so aufwendigen Selbstbetrugsversuch beizukommen.

»Darum«, sagte der Mann, legte seine Brille zur Seite und sah wie blind in die Menge, »habe ich es unterlassen, meine Sammlung in ihrer Ganzheit – und nur als Ganzes ist es auch eine Sammlung – zu erhalten. Es ist geradezu mein Prinzip geworden, die Teile auseinanderzureißen, die Strukturen der Sammlung zu ignorieren, die so lange verfolgten Schwerpunkte zu vergessen, man könnte sagen, eine Wohnungsauflösung vorzunehmen und die einzelnen Kunstwerke allein nach meinen Gefühlen und Launen zu verschenken. Also nicht etwa den idealen, den einzig richtigen Platz zu finden, nicht zu versuchen, irgendeine Lücke zu füllen oder mich von den Versprechungen der Museen leiten zu lassen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich streue die Objekte nicht einfach in den Wind. Wenn ich von Geschenken spreche, dann meine ich natürlich, daß ich nur Freunde beschenke, Häuser, denen meine Sympathie gilt und die ich gerne beschenke. Aber es kümmert mich nicht, ob dieser bestimmte Degas oder dieser bestimmte Manet wirklich hierher paßt, ob die Öffentlichkeit es zu schätzen weiß oder nicht…denn wenn etwas richtig ist, meine Damen und Herren, dann ist es richtig, selbst wenn niemand es bemerkt, und wenn etwas falsch ist, dann nützt auch der größte Applaus nichts. Ich denke, es ist richtig, was ich tue, ganz gleich, wie sehr einige Kritiker mein Handeln als verantwortungslos und beliebig verurteilen. Doch bedenken Sie bitte, daß ich mich jeglicher Anstrengung enthalte, meinen eigenen Namen bewahrt zu wissen, ich enthalte mich somit der Peinlichkeit, meine eigene Person mit den von mir gesammelten Werken zu verwechseln. Das Sammeln war mir eine Lust, und jetzt ist die Lust eben zu Ende, und andere sollen ihren Spaß haben. Und das Wichtigste an meinen Geschenken ist, sie kommen von Herzen und sind frei vom Anspruch auf Gegenleistung. Nein, ich wäre nicht einmal böse, wenn man sie weiterschenkt. Dies gehört ebenfalls dazu und muß nicht immer bedeuten, daß jemand zu faul ist, selbst ein Geschenk zu besorgen.«

Es gefiel Fritz, wie der alte Mann sprach. Er war ohne Pose, ohne Koketterie, er meinte, was er sagte. Man sah ihm an – obgleich er nichts Gebeugtes oder Kränkliches an sich hatte –, wie nahe er dem Tod stand. Es war diese gewisse Leichtigkeit, mit der er redete, als stände er bereits zu dreiviertel auf der anderen Seite. Es tat Fritz wirklich leid, daß er selbst, am Ende dieses schönen Vortrags, dem Abend eine unerwartete Wendung geben würde. Ja, er überlegte… Aber es war nicht zu ändern. Es mußte getan werden. Hier und jetzt. Seine Rache duldete keinen weiteren Aufschub. Außerdem: Diese Gefahr ergab sich sowieso immer, daß nämlich freundliche ältere Herren im Wege standen.

»Verehrte Anwesende«, schloß der Sammler, der zum Schenker geworden war, seine Rede, »ein Kunstwerk wird dadurch wichtig, daß wir es als wichtig erkennen. Das ist eine große Aufgabe und eine große Verantwortung. Und um noch ein allerletztes Mal auf den Begriff der Sammlung zu sprechen zu kommen: Wie gut eine Sammlung ist, sieht man erst, wenn sie aufgelöst wird. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Entsprechend der Stimmung des Abends folgte ein herzlicher, in seiner Lautstärke jedoch moderater Applaus, keine von den wüsten Klatschereien, bei denen unzählige Luftgeister zu Schaden kamen, keine Orgie der Ovation, die weniger dem zu bejubelnden Objekt galt als der eigenen Fähigkeit zur Leidenschaft. Applaus ist in der Regel nichts anderes als Sex, Gruppensex, freilich autoerotischer Gruppensex. Das mochte auch hier der Fall sein, aber eben sehr viel kontrollierter und würdiger als üblich.

Der alte Mann trat hinter seinem Rednerpult hervor und ließ sich von einem Minister in den Arm nehmen. Dann von der Operndiva. Dann wieder von einem Minister.

»Entschuldigung!« Fritz hatte sehr laut gesprochen. Und weil bisher alles in einem gedämpften Ton abgelaufen war, schreckten sämtliche Anwesenden zusammen. Das war gut so, denn Fritz hatte sofort die Aufmerksamkeit, die er brauchte. Und welche noch zunahm, indem er aus der vergrößerten Innentasche seines Jacketts einen Gegenstand hervorholte, ihn für alle sichtbar in die Höhe hielt und etwas erklärte, was sich die Leute angesichts der verschiedenfarbigen Drähte und des blinkenden Lichts und der seitlich fixierten zigarrenartigen Stäbe auch von selbst denken konnten, es nämlich mit einer Bombe zu tun zu haben, zumindest mit einem Gegenstand, der das Bild einer Bombe in exemplarischer Weise erfüllte. Sofort näherten sich mehrere der anwesenden Sicherheitsleute.

»Was soll das?« fragte Fritz sehr ruhig. »Wollen Sie, daß es sofort vorbei ist?«

Nun, das wollte niemand. Die Securityleute erstarrten. Jedermann erstarrte. Aber der Schrecken und das Staunen von jedermann war bestimmt nichts im Vergleich zu dem Schrecken und dem Staunen, von dem Sheila und ihr Primargatte erfaßt worden waren. Schließlich hatten die beiden augenblicklich erkannt, wer das war, der hier stand und die illustre Gesellschaft mit einer Bombe bedrohte, einer Bombe, die zwar etwas Selbstgebasteltes an sich hatte, aber nicht so, daß man ein Spielzeug hätte vermuten können. Sheila und der Mann, den alle das gute Messer nannten, dachten keine Sekunde an einen Zufall.

Und genau das war es ja, was Fritz wollte. Sheila und dieser Kerl sollten verstehen. Sie sollten begreifen, daß die ganze Aktion sich einzig und allein auf sie bezog. Dazu war es nicht mal nötig, ihnen auch nur einen Blick, auch nur ein Zeichen des Erkennens zuzuwerfen. Was für eine Macht!

Die anderen hingegen dachten, daß dieser Auftritt einem der Minister oder einem der Botschafter galt. Möglicherweise sogar der Operndiva, die schon so manchen Verehrer um den Verstand gebracht hatte. Nicht zuletzt bestand die Möglichkeit, der Attentäter hätte es auf die Kunstwerke abgesehen. Das war sicher die günstigste Interpretation, daß es sich um einen frustrierten Künstler handelte, der sich zusammen mit Meisterwerken der klassischen Moderne ins Nirwana bomben wollte. Zuvor aber hoffentlich seine Geiseln freiließ.

»Was verlangen Sie?« fragte jemand. Und jemand anderer forderte: »Lassen Sie uns gehen!«

»Geduld, Herrschaften«, antwortete Fritz.

Es war nun einer der Minister, der sich bedächtig auf Fritz zubewegte und im jovialen Ton seiner Klasse und Herkunft meinte: »Das läßt sich sicher irgendwie regeln, oder? Ohne daß hier jemand zu Schaden kommen muß. Ich sehe doch, daß Sie ein vernünftiger Mensch sind.«

»Wieso sehen Sie das? Ich habe eine Bombe in der Hand, und Sie halten mich für einen vernünftigen Menschen?!«

Der Minister lächelte in einer Weise, als drücke ein Männchen im Inneren seiner Mundhöhle einen Expander auseinander. In sein Lächeln hinein sprach er: »Ich wollte meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daß man mit Ihnen reden kann. Erklären Sie mir, worum es geht, und ich werde mich bemühen, Ihnen zu helfen.«

»Sie helfen sich selbst, indem Sie mir nicht zu nahe kommen.«

»Gott behüte!« sagte der Minister und hob entschuldigend die Hände. »Aber Sie verstehen, ich will nicht schreien, wenn ich mich mit Ihnen unterhalte.«

Die Tür ging auf. Einige Leute flüchteten nach draußen.

»Stopp!« rief Fritz, hielt die Bombe ein Stück höher und legte seinen Finger auf einen Knopf. »Tür zu. Sofort. Das hier ist keine Theatervorstellung, wo jeder gehen kann, wenn ihm das Stück nicht gefällt.«

Der Minister gab einem seiner Leute ein Zeichen. Dieser ging an die Türe, schloß sie und stellte sich breitbeinig davor.

»So«, sagte der Minister. »Geht es um Geld? Geht es um Kunst? Ich hoffe, es geht nicht um Politik.«

»Tut es nicht.«

»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Über Geld und Kunst kann man reden, nicht über Politik. Im kleinen Wirtshaus um die Ecke sowenig wie im internationalen Geschäft.«

»Aber Sie machen doch Politik, dachte ich.«

»Das Machen ist kein Problem, darüber reden, das ist die Schwierigkeit. – Sagen Sie, ist das eigentlich eine echte Bombe? Ich will Sie nicht beleidigen, aber…«

»Ich weiß, daß man das perfekter hinkriegen kann, allerdings dürfen Sie mir glauben, das Ding funktioniert.«

»Also gut. Wie lauten Ihre Forderungen?«

»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es geht um nichts, was Sie begreifen könnten«, sagte Fritz und senkte die Bombe wieder, weil erstens jeder sie gesehen hatte und ihm zweitens langsam der Arm weh tat. Er sagte: »Ich bin überzeugt, Sie waren noch nie in einem Zustand solcher Verzweiflung und Wut, wie ich es gerade bin. Das gilt für alle Attentäter, ob sie politische oder private Gründe haben, ob sie als Gotteskrieger oder Krieger in eigener Sache unterwegs sind. Es sind immer die Verzweiflung und die Wut. Es ist immer ein Zustand, in dem man nichts zu verlieren hat.«

»Sie haben wenigstens Ihre Ehre«, meinte der Politiker. »Zumindest, wenn Sie jetzt die Bombe beiseite legen und sich ergeben. Ich werde berichten, daß Sie ein höflicher, intelligenter Mensch sind. Und daß Sie nie ernsthaft vorhatten, jemanden zu verletzen.«

»Na, wenn Sie sich da mal nicht irren! Eines aber stimmt, daß nämlich die meisten Attentäter höflich sind. Sehr viel höflicher als reguläre Soldaten, welche marodierend durch ein Land ziehen. – Doch lassen wir das. Sie sollen nicht glauben, ich wäre ein Weltverbesserer. Gehen Sie jetzt. Verlassen Sie den Saal, und nehmen Sie den netten alten Mann mit, dem wir diese schönen Kunstwerke verdanken.«

»Ich würde aber gerne hierbleiben«, ersuchte der Minister. Er war schon ein Minister der besonderen Art. Er spürte, daß er dank dieser Situation berühmt werden konnte, sehr viel berühmter, als der politische Alltag es zuließ. Berühmt und geachtet, ja legendär. Nicht bloß eine Witzfigur neben anderen Witzfiguren. Hier ergab sich die Chance, ein Format zu entwickeln, eine Grandezza, die etwa der Kanzler dieses verwunschenen Landes nicht mal in Ansätzen besaß.

Fritz ahnte, was dieser Mann vorhatte. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Tut mir leid.«

»Sie wissen, was Sie mir damit antun?«

»Ja, ich weiß«, antwortete Fritz.

Der Minister senkte den Kopf, wandte sich um, nahm den alten Mann am Arm, bewegte sich durch die zur Seite weichende Menge und verließ den Raum.

Auch wenn dies nun wirklich nicht der Wahrheit entsprach, so würde man diesem Minister später nachsagen, er sei als erster geflüchtet. Gleich einem Schiffskapitän, welcher noch vor den Kindern und Frauen im Rettungsboot sitzt. Man würde nicht einmal die Ausrede gelten lassen, es sei dem Minister nur darum gegangen, jenen hochbetagten, hochverehrten Kunstsammler als Kunstschenker aus dem Raum zu geleiten und in Sicherheit zu bringen. Als hätte der alte Mann das nicht auch alleine geschafft. Nein, an diesem Minister würden der Verdacht der Feigheit und der Verdacht irgendeiner Vorteilnahme auf ewig hängenbleiben. Statt Grandezza das übliche Bild hasenfüßiger Sonderstellung.

In dieser Art ging es weiter. Anstatt also Forderungen zu stellen und mit diesem und jenem zu drohen, entließ Fritz in kleinen Gruppen nach und nach seine Geiseln. Es machte ihm eine gewisse Freude, sich vorzustellen, wie die, die noch immer hier waren, sich verzweifelt überlegten, nach welchem System er eigentlich vorging. Während Sheila und ihr Mann bestens darum wußten, daß der Zweck in nichts anderem bestehen konnte, als daß schlußendlich sie beide übrigbleiben würden. Indem jedoch Fritz sich in keiner Weise an die zwei wandte, sondern so tat, als seien auch sie bloß ganz normale Zufallsopfer, schuf er ein Unbehagen, welches weit größer war, als wenn er rasch und direkt vorgegangen wäre.

Alsbald befanden sich nur noch fünf Leute im Saal, Fritz mit seiner Bombe, die er jetzt auf Nabelhöhe beidhändig umklammert hielt, Sheila und ihr Arzt sowie zwei Kunsthistoriker, welche den Umstand, zu den letzten zu gehören, als Indiz dafür werteten, der Attentäter sei ein Kunsthasser. Dementsprechend nervös waren sie. (Das ist ganz typisch: Kunsthistoriker fühlen sich immer persönlich angesprochen, weil sie denken, man würde sie erkennen, man würde wissen, wer sie sind und was sie tun. Was so gut wie nie der Fall ist.)

Es versteht sich, daß hinter der Türe eine Spezialeinheit darauf wartete, den Raum zu stürmen. Oder wenigstens darauf wartete, daß der Attentäter mitteilte, worin eigentlich sein Anliegen bestand. Wenn er so weitermachte, würde ein verwirrender Zustand der Sinnlosigkeit entstehen. Oder glaubte er vielleicht, es könnte genügen, einen Picasso, einen Cézanne, eine wunderbar feinnervige, verträumte Skizze von Balthus als Geiseln zu halten?

Man mußte davon ausgehen, daß es dem Attentäter in keiner Sekunde darum gegangen war, irgend etwas zu erreichen. Daß der Zweck dieser Bombe nicht darin bestand, den Staat einzuschüchtern und am Ende mit einem Packen Geld zum Flughafen eskortiert zu werden. Sondern einzig darin, auch gezündet zu werden. Und die entscheidende Frage für die Einsatzkräfte war nun die, ob der Attentäter damit warten würde, bis er mit den Kunstwerken alleine war, oder ob er schon vorher die Nerven verlor. Man ging davon aus, daß Fritz demnächst jenen bekannten Primar und seine Gattin freiließ, um in der Folge nur noch die beiden Kunsthistoriker zu bedrohen. Denn auch die Polizei vermutete hinter dem Ganzen irgendeine Form biographisch motivierten Kunsthasses und daß, wenn der Attentäter mit anderen zusammen sterben wollte, dann sicher mit zwei Menschen, denen es vergönnt war, der Kunst in Liebe verbunden zu sein.

Umsomehr war man erstaunt, als Fritz nun auch die beiden Kunstgeschichtler des Saales verwies und jetzt bloß noch der Arzt und seine Frau zurückblieben. Die Polizei ahnte Schlimmes. Man mußte sich entscheiden, etwas zu unternehmen. Aber was?

Währenddessen näherte sich Fritz dem Paar, grinste Sheila an, dann ihren Mann und fragte: »Amüsiert ihr euch?«

»Was soll der Unsinn?« fragte der Arzt zurück. Und ergänzte: »Denken Sie denn nicht an die Mädchen?«

»An die Mädchen!?« höhnte Fritz. »Glauben Sie wirklich, ein Scheusal wie ich, einer, der die eigenen Kinder schlägt, daß so einer Rücksicht nimmt? Doch wohl kaum.«

»Also gut.« Der Primar seufzte, als sei ihm das alles nur lästig. »Was meinen Sie, das geschehen soll? Möchten Sie, daß ich eine Erklärung abgebe? Eine Erklärung, Sie hereingelegt zu haben? Falsche Aussagen gekauft zu haben? – Vergessen Sie es, das würde ich nie und nimmer tun. Meinen guten Namen opfern. Für einen Schwachkopf wie Sie. Zünden Sie halt Ihre blöde Bombe.«

»Aber Martin…« Sheila wandte sich erschrocken zu ihrem Mann hin.

»Kommt nicht in Frage«, sagte der, »mich von diesem Kretin hier in den Schmutz ziehen zu lassen. Er ist bloß ein schlechter Verlierer. – Ja, mein Lieber, ein schlechter Verlierer sind Sie. Jämmerlich ist das, Bomben basteln und damit den Leuten einen Schrecken einjagen. Sie sollten sich schämen.«

»Schäm du dich.« Es war Sheila, die das gesagt hatte. Dabei machte sie einen Schritt weg von ihrem Primargatten. Als hätte sie soeben erkannt, er sei eine bloße Fälschung. Ganz in der Art dieser Kinderzeichnungen.

»Was soll das?« fragte der Mann, der Herbert war.

»Es war nicht richtig, was wir getan haben«, sagte Sheila. »Ich weiß das jetzt. Wir haben Fritz in einer Weise verleumdet, wie man das nicht tun darf. Schummeln und tricksen und anschuldigen, okay, aber nicht so. Jetzt kriegen wir die Rechnung serviert. Und leider stimmt die Rechnung.«

Fritz betrachtete seine geschiedene Frau. Er war sich unsicher. War das schon wieder eins ihrer üblichen listigen Manöver? Versuchte sie ihn, Fritz, einzulullen?

»Gehen Sie raus!« befahl Fritz und sah dabei Sheilas Mann an.

Der verstand nicht gleich.

»Hauen Sie ab, Sie Superdoktor«, verstärkte Fritz die Anordnung. »Und seien Sie meinen Töchtern ein guter Vater. Wenn Sie schon so ein rattenschlechter Mensch sind.«

Und das kommt ja tatsächlich vor, daß rattenschlechte Menschen sich als liebevolle, engagierte Väter erweisen. Das ist nicht nur eine Nazispezialität.

Der Mann ging. Noch einmal sah er sich nach seiner Frau um.

»Mach schon!« sagte sie. In ihrem Blick lag echter Widerwillen.

Als er draußen war, meinte Fritz: »Soll ich dir wirklich glauben, daß du so ganz plötzlich deine Meinung änderst?«

»Du denkst sicher«, erwiderte Sheila, »ich will bloß mein Leben retten.«

»Die Idee könnte einem kommen.«

»Ich hatte Zeit nachzudenken. Ich meine, in dieser letzten Stunde, während du die Leute nach und nach hast rauslassen. Ich habe überlegt, wie das für dich gewesen sein muß, damals, während der Verhandlung. Und wie es dich kaputt gemacht hat, derart, daß du jetzt mit einer Bombe vor mir stehst. Martin hat unrecht. Nicht die Bombe ist jämmerlich, sondern das Leben. Der Krieg um die Kinder ist jämmerlich, die Justiz, der Alltag, die Kunst. Männer wie Martin.«

Fritz drückte den Sprengkörper fester an sich und meinte: »Vielleicht meinst du wirklich, was du sagst. Vielleicht schwindelst du mich an wie eh und je. Aber es ist egal. Weil es ohnedies zu spät ist. Ich kann jetzt nicht aufhören.«

»Natürlich nicht«, sagte Sheila. Etwas Echtes war in ihrem Blick, eine große Geduld. Ja, die Geduld derer, die längst tot sind. Oder meinen, längst tot zu sein.

Doch wenn Fritz sagte, er könne jetzt nicht aufhören, dann bezog er dies keineswegs darauf, Sheila in den Tod mitreißen zu wollen. Das hatte er nie vorgehabt. Seine Idee war es gewesen, ihren verdammten Primargatten in die Knie zu zwingen, ihn um sein Leben winseln zu lassen, vielleicht sogar, die Bombe in dessen Gegenwart zu zünden. Der gute Martin hätte daran glauben sollen. Leider besaß der gute Martin eine Arroganz, die unantastbar war, die man nicht wegsprengen konnte. Den Martins dieser Welt war nicht beizukommen. Jämmerlich oder nicht, sie waren unverwundbar. Daran würden nicht einmal geklonte Raubsaurier etwas ändern können.

In dem Moment nun, da Fritz Sheila auffordern wollte, ebenfalls nach draußen zu gehen und ihn alleine zu lassen, bemerkte er von der Seite her eine Bewegung. Was auch immer es war – möglicherweise hatte man eine Waffe durch eine Öffnung in der Wand geführt –, es löste bei Fritz einen ungewollten Reflex aus. Er drückte den Knopf der Bombe, keinen eigentlichen Zündknopf, sondern einen Auslöser, der bis zur eigentlichen Detonation drei Sekunden verstreichen ließ.

Drei Sekunden, das war eine blöde Zeit, in der man nicht wirklich etwas tun konnte. Vor allem, weil das Hirn viel zu langsam arbeitete. Zudem fehlte die Möglichkeit, in diesen drei Sekunden den Befehl zur Zündung rückgängig zu machen. Diese drei Sekunden waren eher symbolischer Natur. Man konnte darin ein letztes kurzes Gebet unterbringen. Oder einen letzten Aufschrei des Zorns. Oder man konnte sich sachlich geben und einen kleinen Countdown aufsagen.

Fritz jedoch hatte die Bombe ja noch gar nicht zünden wollen. Es widerstrebte ihm, Sheila zu töten. Unglücklicherweise stand sie viel zu nahe. Weshalb er sich augenblicklich nach hinten in Bewegung setzte und mit einer Drehbewegung versuchte, mit seinem Oberkörper den demnächst explodierenden Sprengsatz gegen Sheila hin abzudecken.

Es war nun aber in der Tat so, daß ein Scharfschütze jener Elitetruppe der Polizei seinen Gewehrlauf durch eine mühsam und lautlos fabrizierte Öffnung in einer Wand des Festsaales geschoben und Fritz mittels modernster Zieltechnik ins Visier genommen hatte. Eine Sekunde später, und Fritz wäre per Kopfschuß tot gewesen, ohne den Auslöser der Bombe auch nur berührt zu haben. Was ihm selbst natürlich sehr viel lieber gewesen wäre. Doch seine Hellhörigkeit und sein Reflex – seine Folge von Reflexen – führten nun dazu, daß sich aus der geplanten Ordnung der Dinge eine ungeplante Ordnung der Zufälle ergab. Wie dies meistens geschieht, wenn Zeit fehlt. Zeit, die wir uns leider nicht woanders abschneiden können. Das Ungleichgewicht der Zeit ist überhaupt das Problem des Menschen, da die Zeit immer dort ist, wo wir sie nicht brauchen können. Wie Fett an den Hüften. Zeit ist eine Problemzone.

Der Scharfschütze mußte rasch reagieren. Er hatte jetzt keinen unbewegten Mann, sondern einen bewegten Mann zu treffen. Er schoß. Aber die Kugel traf nicht Fritz, sie traf die Bombe. Ohne diese jedoch vorzeitig, also vor Ablauf der drei Sekunden, zur Explosion zu bringen. Statt dessen wurde die Bombe aus Fritz’ Händen herausgerissen, ja der Scharfschütze schoß sie ihm quasi unter dem Oberkörper hervor. Ein Zyniker könnte sagen, daß die Bombe solcherart wieder im Spiel war. Denn als sie eine dreiviertel Sekunde später – noch immer in der Luft – detonierte, tat sie dies nicht nur in nächster Nähe zu Sheila, sondern war zudem gegen deren Vorderseite gerichtet, während sich Fritz in diesem Moment mit dem Rücken zur Bombe befand und dank seiner ganz anders intendierten Bewegung mit dem Gesicht voran auf den Boden fiel.

Um das Schreckliche kurz zu machen: Sheila war augenblicklich tot. Fritz hingegen, auf dem Parkett liegend und etwas weiter von der Bombe entfernt, wurde vor allem an den Beinen schwer verletzt, verlor jedoch keines davon. Allerdings drang ein Splitter so unglücklich in seinen Rückenmarkstrang ein, daß dies eine vollständige Lähmung seiner Arme und Beine nach sich zog. Fritz landete im Rollstuhl, und er landete im Gefängnis. Wurde aber nach richterlichem Beschluß in den geschlossenen Bereich einer psychiatrischen Klinik überführt. Obgleich er während des Prozesses immer wieder auf seiner geistigen Gesundheit bestanden hatte. Zumindest darauf, das Gefängnis zu verdienen. Doch man nahm ihm seine geistige Gesundheit nicht ab. So entließ ihn die Justiz zwar nicht in die Freiheit, aber an ein durchaus idyllisches Plätzchen, wo er umgeben war von Natur, auch umgeben von Krankenschwestern, für die er ein Star war, ein Mann mit Prinzipien (es ist ein großes Geheimnis darum, weshalb so viele Frauen für Männer schwärmen, die eine Frau umgebracht haben). Man dichtete ihm alles mögliche Heldische und Poetische an. Er ließ es geschehen, fühlte sich zu schwach, um sich gegen den Mythos zu wehren, der ihn eindeckte, ihn begrub, ganz in der Art von Gesteinsbrocken, die auf die Skulptur zurückfallen, von der sie heruntergeschlagen wurden. Am Ende war er nicht nur einfach gelähmt, sondern völlig eingeschlossen in einen mächtigen, hohen, schweren Stein.

Das also passiert, wenn man ein Eheinstitut aufsucht.

 

2) Manche Leser mögen sich vielleicht wundern, daß ich für die weit entfernte Heimat jenes außerirdischen Herausgebers des »Schwäbischen Bürgerblatts für Verstand, Herz und gute Laune« mir keinen originelleren Namen als Planet X habe einfallen lassen. Nun, ich kann nichts dafür, er heißt ganz einfach so. Zwischen Anfang der Neunzehnhundertdreißiger- und Mitte der Neunzehnhundertachtzigerjahre wurde ein bestimmter hypothetischer Planet mit diesem Namen bezeichnet. Bekannt auch als Transpluto, derselbe, welcher demnächst – so, wie in diesem Roman beschrieben – auf Grund der Bahnstörungen einiger Raumsonden erneut in unser Bewußtsein rücken könnte (und dies auch ganz sicher tun wird). Was in der Folge wohl zu einer Namensänderung führen dürfte. Schon allein darum, weil sich das »X« auch auf die Zahl 10 bezieht, also einen zehnten Planeten meint. Wollte man diesen Namen also nochmals ins Spiel bringen, wäre es nötig, Pluto seinen Planetenstatus zurückzugeben. Was zweifellos die allerbeste Lösung darstellen würde.

 

 

3) Auch ein Krankheitsbild namens Neglect existiert in der Tat. Auf der Suche nach einem »Defekt«, den ich meiner Hauptfigur am Ende des Romans praktisch zugestehen wollte, stieß ich auf die neurologische Erscheinung des Neglectpatienten. Ich war sofort von der Form dieser sogenannten Aufmerksamkeitsstörung fasziniert, vom Umstand selbstverständlicher Einseitigkeit.

Der entscheidende Punkt, den Neglect in meine Geschichte einzubauen (Lorenz damit auszustatten), ergab sich aus einer Formulierung, auf die ich in der einschlägigen Literatur immer wieder stieß, nämlich die von der »mangelnden Störungseinsicht«. Dies unterscheidet ja den Neglectpatienten ganz wesentlich von anderen Kranken, welche im Bewußtsein ihrer Erkrankung, ihres Makels oder ihrer Behinderung leben und folglich um eine Heilung bemüht sind.

Wobei es mir ganz sicher nicht darum ging, eine Schädigung des Gehirns schönzureden. Sondern vielmehr in Frage zu stellen, was wir eigentlich unter Gesundheit verstehen.

So wie ein anderer meiner Haupthelden, der Detektiv Cheng, erst dadurch komplett wird, daß er seinen Arm verliert, erreicht die Figur des Lorenz Mohn ihre Vollendung mittels des Verlustes der linken Weltseite. Nur auf diese Weise kann er die Welt sehen, wie sie wirklich ist.

 

4) Es wird dem einen oder anderen Leser aufgefallen sein, daß in diesem Roman ein 13. Kapitel fehlt. Dies hat den gleichen banalen Grund, aus dem heraus in Flugzeugen – bei denen es sich ja um ausgesprochen funktionale Erzeugnisse ausgesprochen esoterikfreier Wirtschaftsunternehmen handelt – eine dreizehnte Sitzreihe fehlt. Wenn also Flugzeughersteller und Airlines sich bemüßigt fühlen, die Gefahr der Zahl 13 durch schlichtes Weglassen zu bannen, so sollte dies in einem guten Roman ebenso der Fall sein. Und sei es nur, um dem Aberglauben des einen oder anderen Lesers gerecht zu werden.

 

5) W. H. Auden – der Engländer als Amerikaner als Niederösterreicher, Autor von »The Age of Anxiety« – hat genauso wie Arthur Koestler – der Ungar als Österreicher als Engländer, Autor von »Das Gespenst in der Maschine« – auf seiten der Republikaner am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen. Aber nur einer von ihnen war sowohl schwul als auch einmal mit Erika Mann verheiratet gewesen, nämlich der famose Auden. Wobei es nicht ganz stimmt, wenn Lorenz Mohn dachte, Erika Mann habe Auden geheiratet, um Deutschland verlassen zu können, vielmehr hatte sie da ja bereits in der Schweiz gelebt, war allerdings von den Nazis ausgebürgert worden. Und war darum gezwungen gewesen, über einen englischen Mann an einen englischen Paß zu kommen.

So hart es klingen mag, doch im Grunde ist ein Mann, jeder Mann, für eine Frau nichts anderes als die gerade Linie auf dem Weg zu einem Bedürfnis.