31 | Alles wird gut

Keine Frage, für einen Neglectiker wie Lorenz Mohn war eine von Hektik und Rasanz dominierte Situation ein Horror. Dazu die vielen Menschen und die vielen Räume und Türen und Scheiben, diese gleichzeitig labyrinthische wie klaustrophobe Atmosphäre. Die Dinge waren in Bewegung geraten, was aber nicht so schlimm hätte zu sein brauchen, wäre nicht auch er selbst – notgedrungen – in Bewegung gewesen, sodaß die linke und die rechte Seite ständig tauschten und damit das Sichtbare mit dem Unsichtbaren.

Nicht daß es so war, daß Mohn von einem Augenblick auf den anderen völlig vergaß, was gerade noch geschehen war. Doch er erlebte die Vorgänge in einem Wechsel von stark verzögerter, dann wieder stark beschleunigter Zeit. Eben erst war ihm vorgekommen, über alles in Ruhe nachdenken zu können, während gleich darauf das Gefühl hochkam, ihm laufe die Zeit im wahrsten Sinne davon. Als würde er hinter der Gegenwart zurückliegen und also unfähig sein, sie irgendwie zu beeinflussen.

Aber die Gegenwart verhielt sich korrekt. Sie entfloh niemandem, sondern bewegte sich im Gegenteil auf die Personen zu. Sie erfüllte ihren Plan Punkt für Punkt. Vergangenheit und Zukunft mochten ungnädige Zicken sein, die Gegenwart hingegen war vollkommen eins mit der Zeit, unbestechlich und geradlinig wie eh und je. Auch wenn dem Betrachter die eine oder andere gerade Linie als Kurve oder Spirale erscheinen mochte.

Lorenz stürmte in den kleinen Vorraum und sah durch die jetzt offene Türe hinüber zu Claire Montbard und ihrer Herrenrunde. Obwohl er sich nur wenige Schritte von dem Killer entfernt befand, stand dieser nun außerhalb seines Wahrnehmungsfeldes, wenn auch nicht außerhalb seines Bewußtseins. Der Killer war somit in diesem Moment für Lorenz weniger eine reale denn eine fiktive Person, wie jemand aus einem Roman. – Wie ernst kann man Leute nehmen, die es nur im Roman gibt? Und wie ernst Pistolen, die in solchen Romanen eine Rolle spielen? Wer fürchtet sich schon vor Büchern?

Jedenfalls ergab sich aus dem Umstand, daß Lorenz den Killer nicht sehen und ihn auch bloß in einer skizzenhaften Weise spüren konnte, eine gewisse Leichtigkeit. Eben in der Art, wie man selbst bei einem spannenden Buch die nächste Seite relativ angstfrei umblättert.

Lorenz blätterte um. Und indem er das tat, erreichte er den Killer genau in dem Moment, als dieser abdrückte. Wobei Lorenz weder in den Flug der Kugel griff noch dem Clooney-Mann die Pistole aus der Hand schlug. Vielmehr führte er seinen oft vernachlässigten linken Arm in das unsichtbare Feld und streifte mit der ausgestreckten Hand die waffenführende Schulter des Schützen. Was zur Folge hatte, daß das Projektil nicht in der geplanten Weise in das Herz Claire Montbards eindrang (der Killer haßte Kopfschüsse, er war ein Mann der Herzschüsse), sondern in die dem Herzen benachbarte Schulter. Woraus sich wiederum eine sehr schöne und gerade Verbindungslinie zwischen der von Lorenz Mohn touchierten Schulter des Killers und der Schulter der getroffenen Claire Montbard ergab. – Sogar hier also: Das, was so verdreht und skurril und zufällig anmutete, war in Wirklichkeit eine saubere Gerade, die zwei Punkte verband.

Und auch das, was nun aus dieser Intervention eines seine Schuld begleichenden Neglectikers folgte, war trotz allen scheinbaren Durcheinanders eine disziplinierte Ansammlung von perspektivischen und verbindenden Linien. Nicht unähnlich den Kompositionsrastern, welche uns die Erhabenheit großer Gemälde nahebringen. – Unordnung ist bloß ein Eindruck derer, welche eine Komposition nicht verstanden haben.

Indes gibt es freilich einfache und komplizierte Kompositionen. Im konkreten Fall war eine als einfach geplante unversehens in eine komplizierte umgeschlagen. Zwar nicht in der Art jener Breie, die viele Köche verderben, aber doch im Stil eines von mehreren Malern gemalten Bildes. Man denke an das von den Surrealisten entwickelte Prinzip des Cadavre exquis, bei der vier Künstler einen »köstlichen Leichnam« produzieren. Vier Künstler also: der namenlose Killer, der halbblinde Besitzer eines Strickwarengeschäfts, die in die Schulter getroffene Grande Dame der Wiener Unterwelt und nicht zuletzt ein afrikanischer Diplomat, welcher sich auch ohne Bodyguards als wehrhaft erwies und eine Pistole aus seinem Jackett zog. Der Umstand, daß der Killer ein wenig aus dem Konzept geraten war – da sich ihm die Notwendigkeit aufdrängte, erstens Lorenz Mohn außer Gefecht zu setzen und zweitens erneut auf Claire Montbard zu schießen –, nützte der Diplomat dazu, seinerseits einen Schuß abzugeben.

Viele Menschen gerieten in deutliche Bewegung. Parallel dazu gerieten auch viele Projektile in Bewegung. Und es hätte eben eines Standbildes und einer graphischen Erläuterung bedurft, um das klare, bauhausartige Muster von Reaktion und Gegenreaktion zu erkennen. Statt dessen herrschte das, was wir als Chaos mißverstehen. Sicherlich verstärkt durch die vielen Glasscheiben, deren Vorteil, ihre Transparenz, jetzt vom Nachteil, ihrer Fragilität, konterkariert wurde. Die Splitter flogen tausendfach durch den Raum. Man hätte meinen können, alles und jeder bestehe aus Glas, aus berstendem Glas.

Gerade in dieser Situation höchster Verwirrung war es ausgerechnet Lorenz Mohn, der eine gewisse Übersicht behielt. Denn während alle anderen im Rechts und Links der Räume und Handlungen gefangen waren, brauchte sich Lorenz nur auf eine Seite zu konzentrieren. Und auf selbiger befand sich weder der schießende Killer noch der zurückschießende afrikanische Diplomat, sehr wohl aber Claire Montbard, die Lorenz rasch erreicht hatte. Es mochten auch andere schießen, vielleicht einer der Kellner, vielleicht ein Gast, vielleicht ein Polizist, der sich unter den Gästen befand. Jedenfalls gelang es Lorenz, Claire aus dem scheinbaren Durcheinander einer kompositionslosen Eskalation nach draußen zu helfen, ohne daß eine weitere Kugel sie getroffen hätte. Dabei mußten beide über einen Mann steigen, der tot am Boden lag. Es war Soonwald. Er hatte die Rolle des »köstlichen Leichnams« übernommen. Und gewissermaßen hatte er damit auch die »verirrte Kugel« eingefangen, die ursprünglich von ihm selbst Claire zugedacht gewesen war. Dazu kam, daß roter Wein aus einer umgefallenen Flasche sich über Soonwalds Kopf und Oberkörper ergossen hatte und sich solcherart gleichfalls jener surrealistische Satz erfüllte, der da lautete: Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein.

»Wer ist das?« fragte Lorenz, als sei das jetzt wichtig.

Passend dazu antwortete Claire mit einer Stimme, als ströme auch aus dieser, wie aus ihrer Schulter, das Blut: »Niemand.«

Nun, das war ungerecht. Mit Soonwald war ein Mann gestorben, der wie kaum ein anderer unbekannte Poeten und Essayisten gefördert hatte und auf seltene Weise seiner Frau in Liebe zugetan gewesen war. Da gab es ja wohl andere, die den Tod viel eher verdient gehabt hätten. Aber wer bekam schon, was er verdiente? Gerechte Bezahlung war nicht gerade die Domäne dieser Welt. Und auf X ging es diesbezüglich auch nicht besser zu. Wer gerecht bezahlt werden wollte, mußte schon mehr als ein paar Dutzend astronomische Einheiten in Kauf nehmen, um fündig zu werden.

»Sind wir jetzt quitt?« fragte Lorenz Mohn, nachdem sie aus einer Gruppe ebenfalls flüchtender Restaurantgäste ausgebrochen und hinüber auf einen großen Platz geeilt waren, der in der Nacht explizit verlassen und explizit schwarzweiß dalag, fast wie einem Vorurteil der CIA entsprungen.

Lorenz Mohn bremste seinen Schritt ein, blieb mitten auf der Fläche stehen und fragte also Claire Montbard, ob man jetzt quitt sei.

»Sie haben es aber eilig«, antwortete sie.

Ja, er hatte es eilig. Nicht darum, weil da ein paar Gassen hinter ihnen noch immer der Kampf tobte oder vielleicht sogar der Killer die Verfolgung aufgenommen hatte. Nein, Lorenz’ Ungeduld ergab sich allein daraus, daß er so rasch als möglich zurück zu Plutos Liebe gelangen wollte – und damit überhaupt zur Liebe: der Liebe zu seiner Frau, seinem Geschäft, der Rosmalenstraße, der Liebe zu den vielen Frauen, die glücklich waren, einen wie ihn zu haben, welcher mit Charme und Eleganz und Ehrlichkeit wunderbare Wolle verkaufte. Zurück zu einem Leben, das nicht nur einfach in Ordnung war, sondern sogar sehr in Ordnung. Das man ruhig gottgefällig nennen durfte.

Nun, ein solches Leben hatte ja auch Klaus Soonwald im Sinn gehabt. Und jetzt lag er auf dem Boden eines dämlichen Nobelrestaurants, getroffen von einer Kugel, die man hinterher nicht einmal richtig würde zuordnen können, und hauchte sein Leben im Alter von nur sechshundertfünfzehn Jahren aus. Ihm wären noch gut vierhundert Jahre geblieben, zwar nicht alle mit seiner lieben Frau Maritta, aber einige schon. – Der Tod ist ein Skandal, hatte irgendein großer Denker gesagt. War es Canetti gewesen? Oder doch Koestler?

»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Claire Montbard, während sie sich eine Jacke gegen die blutende Wunde drückte und durch das gleichzeitige Heben ihres Ellbogens ein vorbeifahrendes Taxi anhielt.

Lorenz wußte nicht, was Montbard meinte. Er hatte seinen Job erledigt. Sie war am Leben. Was wollte sie mehr?

»Steigen Sie ein«, kommandierte sie.

»Wieso? Bringen Sie mich nach Hause?« fragte er und stieg zögerlich in den Wagen.

»Ja, wir holen Ihre Frau ab. Sie wollen doch nicht ohne sie sein, oder?«

»Nein, natürlich nicht… Wie soll ich das verstehen?«

In diesem Moment wandte sich der Taxifahrer um, gewahrte das viele Blut und wollte bereits nach seinem Funkgerät greifen. Dann aber erkannte er Claire Montbard. In der Art einer Königin sagte sie: »Fahren Sie endlich, Sie Depp! Rosmalenstraße.«

Der Depp fuhr los.

»Sie müssen zu einem Arzt«, mahnte Lorenz.

»Ich weiß. Doch zuerst zu Ihrer Frau«, erwiderte Claire Montbard und wies Lorenz an, Sera anzurufen. Sie möge schnell das Nötigste zusammenpacken und sich reisefertig machen.

»Ich begreife immer noch nicht«, beschwerte sich Lorenz.

»Was denken Sie eigentlich?« fragte Claire und wandte sich ihm in einer altmeisterlichen Pose zu. Statt Mann mit Glas nun Frau mit Blut. »Sie können mich nicht einfach retten und jetzt meinen, alles wäre in Ordnung. Man wird Ihnen das übelnehmen. Man wird Sie jagen.«

»Was? Die Wiener Polizei wird mich jagen?«

»Ach ja, das wäre freilich schön, hätten wir nur die Wiener Polizei am Hals«, spottete Montbard. »Leider ist es sehr viel schlimmer. Aber das werden Sie kaum begreifen. Es reicht auch fürs erste, wenn Sie mir einfach glauben.«

»Ich hätte Ihnen niemals geholfen, wenn…«

»Hören Sie mit der Heulerei auf. Seien Sie froh, daß ich mich um Sie kümmere. Seien Sie froh, daß ich nicht sage: Okay, wir sind quitt.«

»Ich war doch bloß ein Gast in diesem Restaurant. Keiner wird sich überhaupt an mich erinnern.«

»Das ist ein grandioser Irrtum«, versicherte Montbard. »Glauben Sie mir. Es ist naiv, zu meinen, man könnte einem Killer seinen Job versauen und es sich danach wieder im Strickwarengewerbe gemütlich machen. – Rufen Sie Ihre Frau an! Das ist so ziemlich der beste Rat, den ich Ihnen geben kann.«

Lorenz überlegte einen Moment. Er griff zum Handy und wählte eine Nummer. Als sich Sera meldete, sagte er: »Pack das Wichtigste zusammen und nimm unsere beiden Pässe. Ich bin in zehn Minuten da und hol dich ab. Wir fahren in den Urlaub, noch heute nacht.«

Sera antwortete im Ton zusammengebissener Lippen: »Ich wußte, daß so etwas passieren wird.«

Mehr sagte sie nicht. Denn Sera gehörte zu den Menschen, die sich ihre Fragen für später aufsparten, wenn wirklich Zeit dafür war. An manchen Tagen flehte die Zeit geradezu nach Fragen, an denen es dann aber mangelte, weil sie längst – und zwar unnötigerweise im größten Streß – beantwortet worden waren. Nein, diese Dummheit beging Sera nicht. Sie legte auf, bat ihre Schwester, sie alleine zu lassen, und begann zu packen.

»Ich habe dich immer vor diesem Mann gewarnt«, sagte Lou Bilten, die von einigen Bewunderern, mehr noch von den Neidern, die Schere Gottes genannt wurde.

Doch was nützt es, eine Schere zu sein, wenn sich das Gegenüber gerade als Stein erweist? – Sera nickte und packte weiter.

Eine viertel Stunde später setzte sie sich vorne in das Taxi, in welchem hinten ihr geliebter Mann und eine ihre unbekannte blutende Frau saßen. Selbst jetzt noch stellte sie keine Fragen. Claire Montbard dachte: »Gute Frau, kann bleiben.«

Kurz darauf hielt man vor einem Haus, in welchem bereits der von Claire benachrichtigte Dr. Schubert wartete, ihr Hausarzt. Er hieß nicht nur Schubert, sondern sah auch so aus. Genial und syphilitisch und gedrungen und ein wenig verträumt und depressiv und selbstredend herzensgut. Er tat, was zu tun war, entfernte mit seinen weder für die Chirurgie noch die Klavierspielerei wirklich geeigneten Händen das Projektil aus Claires Schulter und legte einen Verband an, mit dem er zwar keine Verbandmeisterschaft gewonnen hätte – aber es genügte.

Zu dritt stieg man wieder in den Wagen des wartenden Taxifahrers – der sich ganz seinem Schicksal ergeben hatte – und fuhr hinaus nach Schwechat. Nicht jedoch, um noch einen Flieger zu erreichen, sondern um in einen Wagen zu wechseln, hinter dessen Steuer Claires Dienerbruder wartete.

Es wäre nun überflüssig, die einzelnen Punkte der Flucht dieser vier Personen aufzuzählen. Faktum ist, daß sie am folgenden Tag in einem Flugzeug saßen, welches sie von Budapest nach Oslo brachte. So wie es ein Faktum ist, daß auf der Passagierliste weder der Name Montbard noch jener eines Herrn und einer Frau Mohn auftauchten.