24 | Vergiftete Taxis

Die Villa hatte sich in den sieben Jahren nicht viel verändert. Nur der Garten schien unter den pflegenden Händen von Montbards Mutter gewonnen zu haben. Wie gehabt, kniete sie vor einem Blumenbeet, stocherte in der Erde herum und machte mit Hut und Latzhose und breitem Rücken wie damals einen insgesamt sehr männlichen Eindruck. Man hätte meinen können, die gute Frau wollte auch noch in tausend Jahren Blumen zum Blühen verhelfen und damit ein Stück sinnlose Natur am Leben erhalten. Und genau wie an jenem 14. Juli vor sieben Jahren standen nun Lorenz Mohn und Claire Montbard auf der hölzernen, von zerbrechlich dünnen Stangen unterteilten Veranda und betrachteten den maskulinen Mutterrücken. Eine ganze Weile verharrten sie in dieser Beschaulichkeit, von Montbards Dienerbruder mit Kaffee und Wasser versorgt, dazu Cognac für Claire sowie Aquavit für Lorenz. – Der Einwand, für Alkohol sei es um zehn am Vormittag ein wenig früh, war in Wien eher ungebräuchlich. Warum auch, dachten die meisten Wiener, sollte sich ausgerechnet der für seine Eigenwilligkeit bekannte Alkohol an der bürgerlich-spießigen Festlegung tageszeitlicher Usancen halten. Der Alkohol war für viele der einzige kleine Freiraum, der immer und überall Bestand hatte und einem das Gefühl gab, nicht vollständig unter der Knute der im Grunde verhaßten sozialen Marktwirtschaft zu stehen, die so wenig sozial war wie die Gewöhnliche Lanzenotter gewöhnlich. Soziale Marktwirtschaft und Gewöhnliche Lanzenotter zeichneten sich vor allem durch eines aus: ihre hohe Giftigkeit.

»Ich darf festhalten«, eröffnete Claire Montbard, die ein sommerlich buntes Piet-Mondrian-Kostüm aus der berühmten Yves-Saint-Laurent-Serie trug und damit wie der Inbegriff der Moderne anmutete: sachlich und elegant und auf eine geometrische Weise erotisch. Sie sagte also, sie würde festhalten, daß er, Lorenz, nicht in der Lage sei, die zweihunderttausend Euro zurückzuzahlen.

»So ist es«, antwortete Lorenz und trank seinen Aquavit, der wie das meiste Schmalflüssige – im Unterschied zu breitflüssigen Getränken wie Cognac oder Kaffee – den Vorteil besaß, nicht in rechts oder links auseinanderzufallen, sondern nur in oben und unten.

»Sie wissen, was Sie mir schuldig sind«, sagte Montbard und zündete sich eine Zigarette an.

Lorenz nickte. »Ihr Bruder hat mich daran erinnert. Ich bin verpflichtet, ein Leben zu retten. Aber das ist ja wohl eher symbolisch gemeint.«

»Wie kommen Sie darauf? Es ist genau so gemeint, wie es gesagt ist.«

»Toll!« rief Lorenz aus. »Ich erlebe es nicht oft, daß das Gesagte auch das Gemeinte ist.« Er sprach im Ton einer schwindsüchtigen Ironie. Und fragte sodann, wen er wie retten solle. Um gleich darauf einzuwenden, daß er vor kurzem einen Infarkt erlitten hätte, im Zuge dessen etwas geschehen sei, was seine Umwelt offensichtlich als Beeinträchtigung ansehe.

»Ich sage nicht«, erklärte er, »daß ich einen Hau weghabe, aber es scheint doch so zu sein, daß ich mich für gewisse Dinge nicht mehr eigne. Ich glaube, Lebensrettung gehört dazu.«

»Ich weiß«, versicherte Montbard mit einem Lächeln von der Art eines fröhlich gemusterten Hautausschlags, »wie es um Sie bestellt ist. Ich lasse meine Schuldner nie aus den Augen. Ich habe von Ihrem Neglect erfahren. Und sehen Sie, genau das ist der Punkt. Ihr Neglect ist ideal.«

Nun, dies war ja eigentlich auch Lorenz’ eigene Meinung, nämlich über ein ideales Neglect zu verfügen. Aber Lebensrettung, insistierte er, sei etwas anderes als die behutsame Führung eines Strickwarenladens und das Leben im Kreise rücksichtsvoll immer auf der rechten Seite stehender lieber Menschen. Lebensrettung wäre für einen Neglectmenschen wie Tennis: unmöglich zu spielen, wenn der Gegner erst mal begriffen hatte, wie komfortabel es war, nur noch auf eine Seite zu schlagen.

Doch Montbard schüttelte den Kopf. Keine Frage, es war an ihr, der Kreditgeberin, zu beurteilen, was klappen würde und was nicht. Wenn sie darauf bestand, Lorenz solle Tennis spielen, so würde er es tun müssen.

Um Tennis freilich ging es nicht, sondern um etwas sehr viel Komplizierteres. Montbard legte dar, daß sie, als sie vor sieben Jahren Lorenz im Falle eines Schuldigbleibens des Geldes zur Rettung eines Lebens verpflichtet hatte, dabei an niemand Konkreten gedacht hatte. Diese Regelung war ihr spontan eingefallen. Einzig und allein, um einen Kontrapunkt zu setzen, wo doch ständig säumige Schuldner dazu erpreßt wurden, sich die Hände schmutzig zu machen, gezwungen waren, ihrerseits andere Schuldner unter Druck zu setzen, sich als Drogenkuriere oder Spitzel oder Sexualobjekte herzugeben und mitunter sogar einen Auftragsmord zu begehen. Warum nicht einmal das Gegenteil verlangen? Keine Tötung, sondern eine Rettung. Aber wie gesagt, weder war ihr eine bestimmte Art der Lebensrettung noch ein bestimmtes zu rettendes Leben durch den Kopf gegangen. Allein die Idee hatte ihr Freude bereitet. Auch hatte sie ja nicht ernsthaft erwartet gehabt, er, Lorenz, würde das Geld tatsächlich schuldig bleiben. Derartiges kam eigentlich nicht vor. Die Leute fürchteten sie, das war schließlich der Sinn der Übung. Eine indifferente Furcht zu verbreiten, abseits dümmlicher Zinsen und dümmlicher Drohungen.

»Wie schön«, sagte Montbard, »daß es einmal anders gekommen ist. Und zwar gerade zur rechten Zeit. Ich weiß jetzt nämlich, wessen Leben Sie retten sollen.«

»Und zwar?«

»Meines.«

»Ihr Leben?«

»Mein Leben, richtig«, betonte sie und ließ zum ersten Mal so etwas wie Gebrechlichkeit anklingen. Gebrechlichkeit im Sinne einer ganz grundsätzlichen Verwundbarkeit. Einer universellen Verwundbarkeit, der es zu verdanken war, daß schlußendlich auch die Sterne starben.

»Ach was!« meinte Lorenz. »Das ist aber ein wenig zuviel der Ehre. Abgesehen davon, daß Sie doch sicher über eine Menge starker, junger, hochmotivierter Burschen verfügen, die jederzeit bereit sind, eine Kugel für Sie abzufangen.«

»Stark und jung vielleicht, motiviert schon weniger. Und daß wirklich jemand – mit Absicht – sich in eine Flugbahn wirft, ist eher unwahrscheinlich. Wenn Bodyguards getroffen werden, ist dies eher der Unfähigkeit des Schützen geschuldet. Abgesehen davon ist das Problem mit Leibwächtern, daß man sie bereits auf hundert Metern als das erkennt, was sie sind. Tarnung sieht anders aus. Nein, ich benötige jemanden, der nicht wie ein Power Ranger daherwackelt. Jemanden, der einen anderen Blick für die Dinge besitzt. – Sie haben doch einen anderen Blick für die Dinge, nicht wahr?«

»Die meisten Leute meinen, ich würde nur eine Hälfte vom wirklichen Leben mitbekommen. Finden Sie das vertrauenerweckend? Bedenken Sie: Würde jemand Sie von links her erschießen, ich könnte es erst bemerken, wenn Sie tot am Boden liegen. Vorausgesetzt, Sie fallen auf die richtige Seite.«

Montbard vollzog ein breites Grinsen. Für einen Moment schien sie allein aus diesem Grinsen zu bestehen. Selbst die schwarzen Balken sowie die rote, gelbe und blaue Fläche ihres Kleides – Yves Saint Laurents Kostümhommage auf einen belgischen Naturverächter – verblaßten unter dem Eindruck der beiden makellos geschlossenen Reihen weißer Zähne, die im Rahmen der zwillingshaft gesichelten Lippenteile hell aufleuchteten.

Ganz im Stile jener Alice, die im Wunderland auf die Cheshire-Katze trifft, dachte sich Lorenz: »Ich habe ja schon viele Frauen ohne ein Grinsen gesehen, aber noch nie ein Grinsen ohne Frau.«

Sekunden später befand sich dieses Grinsen wieder im sichtbaren Gerüst der Person, die dieses Grinsen umgab. Claire Montbard machte nun klar, daß sie überzeugt sei, daß gerade die veränderte Weltsicht eines Neglectikers selbigen in die Lage versetze, eine Gefahr früher zu erkennen und sodann in einer Weise zu reagieren, auf welche ein Angreifer nicht gefaßt sein könne.

»Mag sein«, sagte sie, »daß ich das bloß denke, weil ich mich in einer gewissen Notlage befinde. Aber es ist nun mal so, daß ich hier die Befehle gebe und also auch bestimme, ob etwas Sinn besitzt oder nicht.«

»Das sehe ich ein«, äußerte Lorenz. »Sie sind die Chefin, ich der Schuldner. Nur was konkret soll ich tun? Ich kann doch nicht die ganze Zeit neben Ihnen stehen, oder?«

»Natürlich nicht. Es droht ja auch nicht ständig Gefahr. Menschen sind wie Tiere. Es gibt Jagdzeiten, und es gibt Ruhezeiten. Und es ist sicherlich Ausdruck einer dummen Ängstlichkeit und letztendlich einer Selbstüberschätzung, dauernd und überall eine Gefahr zu wittern. Den Fehler begehe ich nicht. Ich bin immer nur dann ängstlich, wenn es sich auch lohnt.«

»Und wann lohnt es sich?«

»Schon bald. Sie kennen sicher das Prinzipal

»Nur vom Hörensagen. Das ist keine Adresse für mich, wie Sie sich denken können.«

»Sicher. Doch heute abend werden Sie dort sein.«

»Um Sie zu retten?«

»Vielleicht. Es wird ein Treffen geben, später am Abend, mehrere wichtige Leute. Leute, die meinen, die Welt in ihren Händen zu halten. Und ein wenig tun sie das ja tatsächlich, wobei sie nicht begreifen, wie sehr sie dabei höheren Mächten dienen. Jedenfalls kommen diese Herrschaften ganz inoffiziell zusammen. Kein Staatsschutz, nur ein paar Leibwächter, mehr Dekoration als sonstwas.«

»Und was haben Sie mit denen zu tun?«

»Sie halten mich für ihre Muse«, erklärte Montbard und war jetzt so kalt und unbeugsam und schön wie immer. Ein abstraktes Bild, das lebt.

»Ich kann mir schon denken«, sagte Lorenz, »wie es wirklich ist. Diese Typen sind bloß Gartenzwerge im Reich der Kapitalmärkte. Und Sie, Montbard, sind die sogenannte höhere Macht.«

»Ich vertrete sie nur, diese höhere Macht«, korrigierte die Hausherrin und griff nach einer Zigarette, wobei es aussah, als würde sie den Stengel aus einem Fach ziehen. Einem unsichtbaren Fach, das mitten in der Luft stand, an eine gleichermaßen unsichtbare Wand montiert.

Lorenz wandte ein, daß er dann nicht verstehen könne, inwieweit für Claire Montbard überhaupt eine Bedrohung bestehe, wo doch diese Männer, die da Weltball spielten, unter ihrer musenhaften Kuratel standen.

Claire Montbard blies einen schönen, geraden Streifen in die Luft, der sich nach einem Meter in eine liebliche wölkerne Ranke verwandelte, und meinte: »Das können Sie nicht verstehen. Dinge sind schiefgelaufen. Und für schiefgelaufene Dinge gibt es immer einen, der den Kopf hinhalten muß. Diesmal, fürchte ich, soll es mein Kopf sein.«

»Schade um einen solchen Kopf«, schmeichelte Lorenz.

»Das finde ich auch«, bestätigte die Kopfbesitzerin.

Lorenz erkundigte sich nun, wer mit den »höheren Mächten« eigentlich gemeint war, und ließ sich zu drei Vermutungen hinreißen: »Götter? Geister? Die CIA?«

»Ach nein«, lachte Montbard und blickte vielsagend zum Himmel hoch. »Sie dürfen höher durchaus wörtlich nehmen. Aber selbst das brauchen Sie nicht zu verstehen. Sie brauchen nur auf mich aufzupassen. Ich habe einen Tisch für Sie reservieren lassen. Kommen Sie um neun. Um passende Kleidung muß ich Sie ja nicht extra bitten. Sie wirken sogar in Ihrem Trainingsanzug noch bedeutend eleganter als all diese unförmigen Säcke in ihren maßgeschneiderten Jacketts. – Mein Gott, die bedauernswerten Schneidermeister! Denn wenn man es recht bedenkt, dann ist ein Herrenanzug nichts anderes als ein Fell. Eins, das der Gattung entspricht. Der Gattung Herr

Sie drückte ihre Zigarette in einer Weise aus, als klappe sie ein sehr kleines Buch zusammen, und postulierte: »Ein Tigerfell ist ein Tigerfell. Und jetzt stelle man sich vor, ein armes Schneiderlein wäre gezwungen, die perfekte Form eines Tigerfells für einen Braunbären oder einen Feuersalamander oder für einen im Raum schwebenden Arsch umzuschneidern. So sieht das dann aus: Tiger, die keine sind.«

»Ich bin auch kein Tiger.«

»Aber Sie scheinen immer das richtige Fell zu tragen und wirken nicht wie eine Fälschung.«

Den letzten Satz hatte Lorenz nicht mehr mitbekommen. Er dachte, Montbard habe unvermutet die Veranda verlassen und sei nach drinnen gegangen, um was auch immer zu erledigen. Tatsächlich jedoch war er selbst von irgendeinem Geräusch im Haus abgelenkt worden und hatte dabei eine kleine Drehung vollzogen, derart, daß Claire Montbard aus seinem Wahrnehmungsfeld herausgerutscht war. Gleichgültig, was die Hausherrin jetzt sagte oder tat, für Lorenz fand es nicht statt. Als sie aber einen Moment später wieder ihre Position wechselte, geriet sie erneut in jene Sphäre, in der sie von Lorenz gehört und gesehen wurde, so, als sei sie gerade eben zurückgekehrt. Und in der Neglectwelt war sie das ja auch. Zurück aus dem blinden Raum.

»Haben Sie begriffen?« fragte sie.

»Was begriffen?«

»Was ich Ihnen über die Waffe gesagt habe.«

»O nein! Ich kann mit so was wirklich nicht umgehen. Ehrlich!« flehte Lorenz. Er bemerkte jetzt, daß auf dem Marmortisch, wo sein Kaffee und sein Cognac standen, auch eine Pistole lag. Neben dem Tisch wiederum wartete Montbards angeblicher Bruder. Er nahm die Waffe und erklärte ihre Bedienung. Lorenz hörte zu, ohne zuzuhören, obgleich der Vortrag ja durchaus in seinem Wahrnehmungsfeld erfolgte. Doch für Lorenz stand fest, daß er dieses Mordsding in keinem Fall benutzen würde. Lebensrettung war eine Sache, doch die Wahl der Waffen, die dazu notwendig wären, war noch immer seine eigene Angelegenheit. Darum auch verweigerte er die Pistole, die der Dienerbruder ihm nun hinhielt, und erklärte, an Montbard gerichtet: »Wie ich Sie rette, ist meine Sache.«

Er hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, als wäre seine Ablehnung einer Pistolenbenutzung getragen vom Wissen um eine probate Alternative. Als sei er so eine Art Samurai. Was er ganz sicher nicht war. Seine prinzipielle Sportlichkeit bestand ohne die Kenntnis von Selbstverteidigungsmethoden oder Kampfsportvarianten. Eher gehörte er zu denen, deren Vorteil in Auseinandersetzungen sich daraus ergab, schneller rennen zu können als der Gegner. Ja im Extremfall einem Schlag, vielleicht sogar einem Projektil geschickt auszuweichen. Die physische Überlegenheit des Projektils im wahrsten Sinne unterlaufend.

Wie auch immer, Montbard akzeptierte Lorenz’ Wunsch, ohne Pistole auszukommen. Allerdings machte sie ihm deutlich klar, daß es nicht reichen würde, bloß anwesend zu sein und sich einzig und allein darauf zu konzentrieren, anstatt der fremden Haut die eigene zu retten. Dabei blickte sie hinüber zu ihrem Bruder, welcher wiederum Lorenz mittels einer mimischen Geste zu verstehen gab, daß dieser sich aus seiner Verpflichtung nicht würde herausschwindeln können.

Ja, das wußte Lorenz. Er begriff, daß gerade dann, wenn er seine Idylle – sein Leben mit Sera, sein Leben mit Strickwaren, sein biedermeierlich sanftes Rosmalendasein –, wenn er all das bewahren wollte, er diesen Auftrag zur Lebensrettung in einer ernsthaften, letztlich das eigene Leben riskierenden Weise würde erfüllen müssen. Das war der Preis. Jedes Glück hatte einen solchen Preis. Nur die, die ganz ohne Glück waren, ohne Liebe, ohne Kind, ohne Tier, ohne ein Blumenbeet, in das jemand versehentlich oder absichtlich treten konnte, nur die waren auch frei davon, irgendeinen Preis zu bezahlen.

»Können Sie mir wenigstens andeuten«, fragte Lorenz, »was heute abend geschehen wird?«

»Vielleicht gar nichts«, sagte Claire. »Vielleicht aber explodiert das ganze Restaurant.«

»Wie?« staunte Lorenz. »Und Sie meinen, ich sei der Mann, der eine Explosion verhindern könnte? Indem ich etwa das richtige Kabel durchtrenne? Bedenken Sie, in meinem Fall ist immer nur der rechte Draht auch der richtige.«

»Wenn Gott es so will«, sagte Montbard, »dann wird es so sein.«

Dieser Standpunkt überraschte Lorenz. Sosehr es im Grunde sein eigener war. Daß nämlich alle Individuen im göttlichen Begehren wie im Inneren einer versiegelten Marmelade gefangen waren und die einzige freie Entscheidung darin bestand, ob man dabei heulte und jammerte und selbst noch die Süße der Marmelade beklagte. Oder aber die Dinge trotz aller Klebrigkeit mit Würde und Haltung ertrug.

Lorenz Mohn nickte Claire Montbard zu, verbeugte sich leicht – und zwar in Richtung des Gartens, so, wie sich einst der Dichter Jakob van Hoddis im Angesicht vorbeilaufender Hunde verbeugt hatte – und verließ die Veranda und das Haus. Draußen wartete einer von Montbards Leuten in einer Limousine, allerdings auf der falschen Seite, weshalb er zunächst Lorenz hinterherfahren und ihn überholen mußte, um überhaupt erst einmal in dessen Wahrnehmungsfeld zu geraten. Sodann war er auch noch gezwungen, mehrmals zu versichern, kein Taxifahrer zu sein. Lorenz’ Taxihaß war fundamental und pathologisch. Und selbstredend gerechtfertigt. Denn Taxis waren bekanntermaßen vergiftet. Daß so viele Menschen sich trotzdem in Taxis setzten, war wohl dem gleichen Phänomen zu verdanken, das sie auch dazu verführte, auf Berge zu steigen, die ganz offenkundig nicht bestiegen werden wollten.

Als Lorenz ins Geschäft zurückkam, befand sich Sera gerade im Gespräch mit einer Kundin. Ihr eigenes kleines Unternehmen, ihr Heiratsinstitut, öffnete immer erst mittags. Vorher waren die wenigsten Menschen ernsthaft in der Lage, Dinge, die ihnen halfen, von Dingen, die ihnen schadeten, zu unterscheiden. Nachmittags tendierten zwar fast alle zur Müdigkeit, zur Melancholie oder zu sentimentaler Tagträumerei, aber dennoch konnten sie dann eher ein Glück von einem Unglück auseinanderhalten und vor allem einen tatsächlich geeigneten Partner von einem bloß anziehenden. Jedenfalls begann Sera ihre Beratung immer erst zwischen eins und zwei und war somit in der Lage, in den Vormittagsstunden ihrem Mann im Geschäft zu helfen, nachdem dessen Angestellte, Frau Kurtlan oder Courths-Maler oder wie auch immer sie hieß (ihr Name war in all den Jahren im Nebel ewiger Nuschelei verblieben), in Pension gegangen war. Seras Anwesenheit veranlaßte natürlich einige Kundinnen, erst nachmittags in Plutos Liebe aufzutauchen, wobei jedoch alle wußten, daß Lorenz absolut treu war und es völlig sinnlos gewesen wäre, ihn aus dieser Treue herauslocken zu wollen. Andererseits muß gesagt werden, daß eine solche absolute Treue ohnehin das Attraktivste an einem Mann war, was sich Frauen vorstellen konnten. Obgleich ihnen ein derartiger Mann lebenslänglich versperrt blieb, gab es nichts Schöneres und Edleres, nichts, was sie so sehr betörte. Hätten sie freilich solch einen Mann ins Bett bekommen, wäre alle Magie zerstört gewesen. Denn ein Prinz, der sich als verzauberte Kröte herausstellt, ist selbstverständlich eine Enttäuschung.

»Alles okay mit dir?« rief Sera, wobei sie abgewartet hatte, bis Lorenz hinter die Theke gegangen war und dabei eine Drehung vollzogen hatte, dank derer sie selbst nun rechts von ihm stand.

Er sah zu ihr, als hätte er sie eben entdeckt, was ja genau der Fall war, und meinte: »Ich hatte eine alte Geschichte zu erledigen.«

Mehr sagte er nicht. Und Sera unterließ es nachzuhaken. Vertiefte sich wieder in das Gespräch mit einer Kundin, einer alten blinden Dame, die im ganzen Viertel für ihre handgeknüpften Teppiche berühmt war. Währenddessen stellte Lorenz eine Schale unter den Kaffeeautomaten und bat die Maschine mit sanftem Fingerdruck um einen doppelten Espresso.

Kurz darauf betraten zwei weitere Stammkundinnen das Geschäft, marschierten routinemäßig nach links und kamen somit ebenfalls auf der von Lorenz gesehen rechten Seite zu stehen. – Wenn man bedachte, daß laut wissenschaftlichen Untersuchungen Frauen in verblüffender Mehrzahl dazu tendierten, beim Betreten eines Warenhauses sogleich nach rechts zu schwenken, so kann man sagen, daß die Welt sich in Plutos Liebe als eine verdrehte erwies. (Im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Klischee, können Frauen überaus flexibel sein, sie müssen nur einen guten Grund dafür haben. Männer dagegen sind in der Lage, die Richtung zu wechseln, ohne zu wissen, warum oder weshalb. Der Richtungswechsel an sich bereitet ihnen Freude. Flexibilität als Sport. Schön, aber blöd.)

Nachdem alle Kundschaft bedient war und Lorenz und Sera wieder alleine waren, half Sera ihrem Mann in den linken Ärmel seines Jacketts, welcher in scheinbar lässiger Weise seit dem Morgen über seinem Rücken gebaumelt hatte. Auch dies gehörte zu ihren Aufgaben als Ehefrau: der linken Körperseite ihres Mannes jene Aufmerksamkeit zu schenken, die Lorenz selbst dieser Körperseite nicht geben konnte. Etwa darauf zu achten, daß die linke Wange rasiert, der linke Schnürschuh gebunden war, hin und wieder die Nägel der linken Hand geschnitten wurden und etwa im Falle einer linksseitigen Verletzung eine Reinigung der Wunde erfolgte. Nicht, daß Lorenz überhaupt nichts von alldem bemerkte, was auf seiner eigenen linken Flanke geschah, er empfand dies jedoch eher wie eine Einbildung, etwas, auf das ein in der Normalität des Neglects lebender Mensch nicht wirklich reagieren konnte. Hätte er es getan, wäre ihm das vorgekommen, als unterhalte er sich mit einem unsichtbaren, zwei Meter großen Hasen zu seiner linken Seite. Der Hase mochte ja da sein, aber mit ihm auch zu reden, das wäre dann schon Ausdruck einer ziemlichen Verrücktheit gewesen.

Ob dies alles freilich so weit ging, daß Lorenz entgegen der üblichen Nasenatmung (weil ja der Homo sapiens im Viertelstundentakt automatisch die Nasenlochseite wechselt) ausschließlich durch sein rechtes Nasenloch atmete, blieb unbekannt. Hingegen war es eine Tatsache, daß er nur in seiner rechten, nie in seiner linken Achsel richtig schwitzte. Wie auch, wenn links nichts geschah, was ihn hätte aufregen oder anstrengen können?

»Heute abend«, begann Sera und legte ihr Kinn in einer kosenden Weise auf Lorenz’ rechter Schulter ab, »ist Lou zum Essen hier. Sie kommt direkt aus Paris. Du weißt, die Eröffnung. Es soll schrecklich gewesen sein. Der Staatspräsident hat sie auf den Mund geküßt.«

»Pervers, der Kerl«, kommentierte Lorenz.

»Wobei Lou wirklich einen schönen Mund hat«, meinte Sera, die, entgegen ihrer zumeist sehr realistischen Sicht des Lebens, die eigene Schwester gerne in einem rosigen Licht betrachtete. Aber es war schon richtig, daß Lou wegen ihrer Berühmtheit häufig von Politikern zumindest in die Arme genommen wurde. Sie galt als ein Genie. Und ein Genie wurde nun mal mit Vorliebe berührt. Als wäre Genialität ein Bakterium.

Darum sagte Lorenz jetzt auch: »Wahrscheinlich hat der depperte Franzos’ es nötig, die Lou abzuschmusen.«

»Wie meinst du das?« fragte Sera unter der dunklen Wolke eines strengen Blicks.

Doch Lorenz wich aus, drehte sich kurz weg, kam wieder zurück und erklärte, daß er leider am Abend beschäftigt sei.

»Wieso beschäftigt?« zeigte sich Sera überrascht. Sie war einen in auswärtigen Dingen engagierten Ehemann einfach nicht gewohnt.

»Das hat mit heute morgen zu tun«, antwortete er. »Die alte Geschichte, von der ich sprach. Sei nicht bös, aber ich will dich damit nicht belasten.«

»Muß ich Angst um dich haben?«

»Nein«, log Lorenz. »Es ist eine Verpflichtung. Nichts Aufregendes.« Und dann sagte er doch tatsächlich: »Nichts, was einen umbringt. Mach dir einen netten Abend mit Lou, und morgen ist dann alles wieder beim alten.«

Sera spürte, nein sie wußte, daß Lorenz nicht die Wahrheit sagte. Daß etwas ihn bedrückte und durchaus Grund zur Sorge bestand. Aber sie war viel zu klug, eine Angelegenheit, die wahrscheinlich durch nichts leichter werden würde, mittels Drängen noch schwerer zu machen. Also gab sie Lorenz einen Kuß auf die Wange und begab sich nach hinten ins Lager, wo eine neue Lieferung außerirdisch schöner israelischer Zwirne wartete.

Nachmittags war Lorenz dann wie gewohnt alleine im Geschäft, bediente in der bekannt ruhigen, freundlichen, den Charme in vernünftigen Dosen versprühenden Weise seine Kundschaft, empfing einen Vertreter für Nähmaschinen, telefonierte wegen einer Weinlieferung (das Ausschenken von Wein an die Stammkundinnen stellte ein von diesen Kundinnen so streng gehütetes wie offenes Geheimnis dar) und schloß wie immer um achtzehn Uhr seinen Laden. Eine spätere Stunde wäre ihm unchristlich erschienen, maßlos und unwürdig gegen den Rhythmus von Tag und Nacht, Arbeit und Ruhe, Handeln und Denken.

Ja, die Abende waren eigentlich dem Denken gewidmet. Schade, daß es diesmal anders sein würde. Er ging nach oben in die Wohnung, duschte, schlief eine halbe Stunde und erwachte mit dem schrecklichen Gefühl, eine Prüfung vor sich zu haben, deren einziger Sinn und Zweck darin bestehen sollte, sich ein »nicht genügend« abzuholen. Er wechselte hinüber ins Badezimmer, wo er erstens ein seine Nerven beruhigendes Medikament schluckte und zweitens die rechte Backe und den rechten Hals mit einem Eau de Cologne benetzte. Beides zusammen, Wunderwasser und Wundertablette, halfen ihm, seine gerade Haltung wiederzufinden. Er zog sich an. Wenn nötig, bekam er das auch ohne Sera vollständig hin. Er bediente die linke Seite wie im Traum. Als träumte er sein altes Leben. Nur den einen Manschettenknopf vergaß er.

Lorenz verließ das Haus früher als nötig, solcherart Sera ausweichend. Er wollte ihr jetzt nicht über den Weg laufen. Er wollte nicht das Gefühl haben müssen, sich auf ewig von ihr zu verabschieden. Ein letzter Kuß, eine letzte Berührung, ein letztes Hinterherschauen. Und dann: Vorhang! Er mochte Vorhänge so wenig wie Taxis. Auch Vorhänge waren in der Regel vergiftet.

Also spazierte er durch die Gegend, seine Gegend, die Rosmalengegend, in der er sich nie verirrte, weil er praktisch sämtliche Teile, einschließlich der jeweils linken, von ihrer rechten Seite her kannte und auf diese Weise die Topographie dieses Orts in ein neglectisches Modell verwandelt hatte.

Erst als seine Uhr eine halbe Stunde vor neun zeigte, stieg er, eine vorbereitete Wegzeichnung in der Hand, hinunter zur U-Bahn und bewegte sich somit aus seiner Idylle hinaus.

Trotz Kölnischwasser und Glückspille dachte er: »So, jetzt gehe ich sterben.«