18 | Urknall

»Du warst also mit Nix verheiratet. Und erwähnst es mit keinem Wort.«

»Findest du, das ist ein Grund«, fragte Sera, »daß du dich breitbeinig vor mich hinstellst und mich anschaust, als wäre ich das größte Aas?«

Nun, da hatte sie recht. Zumal eingedenk dessen, daß Lorenz gerade erst mit einem Gott, einem Dämon oder auch nur einer der größten Schubert-Sängerinnen aller Zeiten intim gewesen war. Darum nahm er sich ein wenig zurück, zog die Beine zusammen, verringerte die Vehemenz seines Blickes und meinte mit eingeweichter Stimme: »Aber du hättest doch davon sprechen können, daß du mit diesem Nix…«

»Wieso denn? Dachtest du, ich sei noch Jungfrau?«

»Hör bitte auf. Immerhin ist der Mann tot unter meinem Bett gelegen. Wie du dir vielleicht denken kannst, findet die Polizei das einigermaßen interessant.«

»He, du bist auf freiem Fuß. Warum auch solltest du Nix töten, wo du doch gar nicht wußtest, daß ich mit ihm verheiratet war? Hätte ich dir allerdings davon erzählt, ja, dann wärst du jetzt vielleicht verdächtig… Doch so. – Wirklich, Schatz. Ich fand es einfach nicht richtig, so früh davon zu sprechen. Es war eine schlechte Ehe mit diesem Mann. Ich rede nicht von Gewalt, ich rede von andauernden nervtötenden Debatten über jede Kleinigkeit. Eine nie endende Aufblähung von Nichtigem und Schwachsinnigem. Vielleicht ist das der Grund, daß ich meine kleine Eheberatung so erfolgreich führe, indem ich nämlich zusehe, Menschen zueinander zu führen, die nicht ständig jeden Furz durchdiskutieren. Die Leute aber, die auf so was einfach nicht verzichten können, denen lege ich nahe, ledig zu bleiben.«

»Manche wollen dennoch zu zweit unglücklich werden.«

»Mag sein. Nur nicht durch meine Vermittlung. Und schon gar nicht will ich diesen Fehler bei mir selbst wiederholen. – Ich dachte, wir könnten diese Dinge aussparen. Wenigstens weitgehend.«

Leider zeigte Lorenz nun nicht jenen Groß- und Gleichmut, der darin besteht, manches sein zu lassen, wie es ist. Er vertat diese Chance. Diese große Chance. Hätte er jetzt geschwiegen, er hätte Sera wirklich und endgültig erobert. Statt dessen veränderte er seine Körperhaltung wieder in Richtung Vorwurf und wollte unbedingt wissen, wie es Sera möglich gewesen sei, bis zuletzt mit ihrem »schrecklichen Exehemann« im gleichen Haus zu leben.

»Leben? Wie kommst du da drauf?« staunte Sera. »Er war hier der Bäcker. Ein wunderbarer Bäcker, wie ich schon mal erwähnt habe. Ich mochte seine Semmeln. Ich mochte vor allem seine Mehlspeisen. Wenn ich mit jemandem als Mann nicht zurechtkomme, heißt es noch lange nicht, nicht mit ihm als Bäcker zurechtzukommen. Er hat mir die Wohnung überlassen. Und dann zog auch meine Schwester ins Haus. Perfekt. Fabian hat mich in Frieden gelassen. Nicht zuletzt, weil er kapiert hat, daß es besser für ihn ist, ohne Partner zu sein. Wäre es anders gewesen, ich hätte ihm gerne eine Frau vermittelt. Aber anders war es eben nicht. Es gibt Leute, die sind vollends fürs Alleinsein geschaffen. – Bist du so einer, Lorenz?«

»Warum fragst du?«

»Weil ich den Eindruck bekomme, daß du mich loswerden möchtest.«

»Unsinn. Ich will mit dir zusammensein.«

»Dann verhalte dich danach und hör auf, eifersüchtig zu sein ohne Grund. Spar dir deine Kräfte für die Zeit, wo ich dir einen Grund wirklich gebe.«

»Wie? Du hast jetzt schon vor, mich einmal zu betrügen?«

»Muß man dich betrügen, um dich eifersüchtig zu machen?« wollte Sera wissen. Es war nun Winter in ihren herbstgrünen Augen. Schnee lag über dem Laub, und der See war zugefroren. Und da war niemand, der in der Lage gewesen wäre, eins von diesen Löchern ins Eis zu schlagen, aus denen man den frischen Winterfisch angelt.

Lorenz verstand nicht. Was meinte sie denn? Andere Männer bewundern? Flirten? Er schüttelte den Kopf. Dann fiel ihm ein, daß er Sera gegenüber nie über jenen anonymen Drohbrief gesprochen hatte. Um sie nicht zu beunruhigen. Ein Schreiben, das nach Aussage der Polizei immerhin von Nix stammte.

Davon hätte Lorenz jetzt gerne berichtet. Vor allem, um Sera zu beweisen, daß er auch schweigen konnte. Daß er in der Lage war, etwas nicht zu erzählen. Doch so funktionierte das leider nicht. Er konnte nicht mit seinem Schweigen angeben, indem er es brach. Das ist ein häufiges Problem, daß manche Tugend nur dadurch besteht, daß sie unerkannt bleibt.

Die wenigsten Menschen wollen gut sein, wenn niemand hinsieht.

Lorenz kämpfte mit sich. Er preßte seine Lippen zusammen.

»Hör auf«, meinte Sera, »den Beleidigten zu spielen.«

Er wollte etwas sagen. Etwas Versöhnliches. Aber da klingelte es. In der Türe stand die »letzte Raucherin«, jene voluminöse Scherenschnittkünstlerin, die Lorenz im Verdacht gehabt hatte, den Drohbrief zu verantworten. Nun gut, das lag weiterhin im Bereich des Möglichen: daß nämlich Lou Bilten und Fabian Nix unter einer Decke gesteckt hatten. Lou, weil sie ihre Schwester vor einem »Sexmonster« beschützen wollte, und Nix, um weiter in seiner Werkstatt arbeiten zu können, die er offenkundig auch nach Schließung der Bäckerei und der Kündigung des Mietvertrags für sich in Anspruch genommen hatte.

»Ich gehe«, sagte Lorenz und marschierte an Lous barrikadisch im Weg stehender fleischiger Masse vorbei aus der Wohnung.

»Bis später«, rief ihm Sera gelassen nach. Winteraugen hin oder her, es schien ihr nicht einzufallen, auf Lorenz wirklich zu verzichten. Wahrscheinlich wollte sie ihn nur ein wenig zurechtbiegen. Das tun Frauen ganz selbstverständlich. Es entspricht ihrem Naturell, diese Zurechtbiegerei. Und zwar in jedem Bereich, weshalb bei Frauen häufig eine – vorsichtig gesprochen – esoterische Ader vorliegt. Die Natur, die Naturgesetze, das Naturgegebene werden nicht wirklich als unabänderlich akzeptiert, sondern eben samt einer gewissen Verbiegbarkeit und Zurechtbiegbarkeit wahrgenommen. Frauen geben sich große Mühe, so lange auf einen Gegenstand – was immer das sein mag – einzureden, bis der Gegenstand seine Form verändert. Minimal, mag sein. Aber es beweist ihre Überlegenheit gegenüber dem, was Männer gerne Fakten nennen. Wobei sich aus letzterem die Ansicht speist, Männer wären eher technisch veranlagt, Frauen hingegen stärker emotional. Doch was man »emotional« nennt, ist ein höchst funktionales Werkzeug, das in die Materie eindringt und die Atome verschiebt. Oder eben in die Seele und die Seelchen umschichtet.

So kann man es sehen. Und hat das nicht was für sich?

Was jetzt aber wirklich wichtig war, das war die Beendigung der Renovierungsarbeiten von Plutos Liebe. Nachdem die Polizei den Fundort der Leiche wieder freigegeben hatte, gingen die Arbeiter daran, den Raum leerzuräumen. Die paläontologischen Habseligkeiten des kinderlosen Fabian Nix brachte man hinauf zu Sera, da sie nun mal die einzige »Verwandte« des Toten war, welcher außer ein paar Steinen nichts hinterlassen zu haben schien.

Lorenz ließ den Raum zumauern. Es widerstrebte ihm, ihn zu benutzen. Was Sera komisch fand. Einmal meinte sie: »Das ist, als wolltest du deine Erinnerung zumauern. Um nicht zu sagen, den Umstand meiner Ehe mit Nix.«

»Das ist wohl richtig«, hatte Lorenz geantwortet und weiter die Wand gestrichen, wo einst eine Metalltüre gewesen war.

Das war vier Tage nach der Rückkehr aus Solnhofen. Am fünften erschien Stirling. Er betrat den Laden, als Lorenz gerade dabei war, eine erste Lieferung von Wolle in das große Regalsystem einzuordnen, wie ein Maler, der erste Farbpunkte auf die von Linien unterteilte große Leinwand setzt.

»Geht es also los?« zeigte sich Stirling erfreut, Lorenz bei dieser Arbeit zu sehen.

»Ja, endlich. – Kommen Sie, um mich doch noch zu verhaften?«

»Wie könnte ich einen Mann verhaften, der ein Strickwarengeschäft eröffnet! Die Frauen würden mich lynchen. Nein, ich bin hier… Haben Sie ein wenig Zeit?«

Lorenz stieg von der Leiter, rief etwas nach hinten zu den Bodenlegern und lud Stirling mit einer Handbewegung ein, auf die Straße zu treten. Ein Gewitter lag über Wien, jedoch eins von der Güteklasse jener Hunde, die bellen, aber nicht beißen. Aus der Ferne ein wenig Donner, viel schwüle Luft, schwarzer Himmel, ein paar Tropfen, die wie bewußtlose Wasserträger auf den heißen Beton aufschlugen. Lorenz führte Stirling zu einem Café, das auf der Vorderseite der Kirche gelegen war. Man setzte sich in den kleinen überdachten Gastgarten, unter dem es so finster war, als sitze man hinter Rauchglas.

»Also, was ist geschehen?« fragte Lorenz.

»In Solnhofen wurde eingebrochen. Im Museum. Das ist einigermaßen erstaunlich, nicht wahr?«

»Geht es um den Vogel?«

»Nein, das nicht. Der Archaeopteryx blieb unangetastet. Es wurde ein vergleichsweise unbedeutendes Objekt geraubt, ein Fisch…fragen Sie mich nicht, was für einer. Oberes Jura. Jedenfalls kein Fisch, mit dem man viel Geld machen kann. Und das ist genau der Punkt, der mir zu denken gibt. Warum bricht jemand dort ein, um statt des Vogels einen Fisch zu rauben?«

»Jemand, der sich nicht auskennt«, spekulierte Lorenz.

»Jemand, der sich nicht auskennt, überfällt einen Tabakladen oder einen Juwelier, kein Sauriermuseum.«

»Da mögen Sie recht haben«, stimmte Lorenz zu und erklärte: »Vielleicht ist der Fisch ja nicht so unwichtig, wie wir glauben. Vielleicht liegt unter dem Fisch ein System aus Linien begraben.«

»Ja, die Linien«, seufzte Stirling und nahm das bestellte Stück Linzer Torte in Empfang, das dank des Staubzuckers aus der beträchtlichen Dunkelheit herausleuchtete wie ein Flecken Schnee in der Nacht. »Ich habe mit Rorschach telefoniert. Er ist mehr denn je überzeugt, daß das keine Fälschung ist, daß die Linien wirklich so alt sind.«

»Aber der Hinweis auf Pluto ist doch Unsinn«, meinte Lorenz.

»Warum sagen Sie das? Wegen Ihres Ladens?«

»Ein saublöder Zufall. Mein Geschäft und der Stein haben nichts miteinander zu tun.«

»Da ist aber noch was«, bemerkte Stirling. »Der Name Nix. So heißt ja nicht nur unser Toter, sondern auch einer von den Plutomonden, die man erst vor kurzem entdeckt hat.«

Lorenz blickte mürrisch. Er mochte diese Überschneidungen nicht. Er sagte: »Erinnern Sie sich, daß wir einmal darüber sprachen, daß jeder von uns möglicherweise bloß eine Figur in einem Roman sei und…«

»…man sich fragen kann«, vollendete Stirling, »ob man da durch einen guten oder schlechten Roman marschieren muß.«

»Genau. Stellen wir uns mal vor, der Typ, der diesen Roman hier schreibt, hat einen Plutotick. Eine dümmliche Manie. Die Manie, in alles und jedes diesen einen Planeten einzubauen. Und neben dem Plutotick hat er noch einen Fossilientick. Doch es bedeutet nichts. Die Verbindungen, die Stränge sind mutwillig. Alles ist erfunden.«

»Ja, aber wir leben dann in und mit dieser Erfindung. Und müssen begreifen, was den Schöpfer dieser Erfindung antreibt.«

»Sie wollen den Typen verstehen?«

Stirling senkte ein wenig seinen Kopf und zerteilte das Weiß seiner Linzer Torte. »Ich frage mich«, sagte er, »ob es uns als Romanfiguren möglich ist, den Autor und sein Schreiben zu beeinflussen. Denn wenn man sich schon nicht aussuchen kann, ob man in einem guten oder schlechten Roman steckt, dann vielleicht wenigstens, ob es ein gutes oder schlechtes Ende geben wird. Zudem können wir der ganzen Geschichte einen Sinn verleihen. Einen Sinn, an den der Autor gar nicht dachte. Er schreibt ja bloß, aber wir leben. Wir wollen nicht ohne Sinn sein.«

»Das klingt für mich, als wollten Sie Zusammenhänge herstellen, wo keine sind.«

»Was verlangen Sie?« fragte Stirling. »Ich bin Kriminalist. Ich lebe von Zusammenhängen. Ich kann nicht vor die Leute hintreten und sagen, das alles sei nur geschehen, weil jemand ein Faible für die äußeren Planeten hat. Und daß wir alle an den Fäden reiner Willkür hängen. Nein, ich suche ein Motiv. Ich suche es, weil ich daran glaube. In einer Welt ohne Motive hätte ein Polizist keinen Platz.«

»Nichts gegen ein Motiv«, sagte Lorenz. »Ich meinte ja nur, daß der Planet Pluto bei alldem keine wirkliche Rolle spielt. Er ist pure Zierde. Ein sich wiederholendes Thema. Wie in einem Musikstück.«

»Ja, aber die Wiederholung hat eine Funktion«, erwiderte Stirling. »Nicht nur eine ästhetische. Wir sollen an etwas erinnert werden. Das verbindet Komponisten und Autoren mit Mördern. Dieses willentliche Auslegen von Spuren.«

»Eine Spur ergibt noch keinen Sinn«, fand Lorenz.

»Sie ist der Sinn. Sie führt uns zum Täter. Sie führt uns zu den Umständen der Tat. Selbstredend gibt es Zufälle. Gibt es Überlappungen, die nichts bedeuten. Aber ich bitte Sie, wie oft muß der Name Pluto denn noch auftauchen?«

»Ihr Job sind die Spuren. Und meiner die Wolle.«

»Und das ist auch gut so«, bestätigte Stirling. »Ich wollte Sie keineswegs dazu animieren, sich als Hobbykriminalist zu betätigen.«

Und so verspeisten sie ihre Tortenstücke, tranken Kaffee und Tee, sprachen noch ein wenig – wie um eine männliche Normalität herzustellen – über Fußball und gingen schließlich auseinander.

Keine Frage, vom Standpunkt eines der üblichen Polizisten hätte Lorenz Mohn noch immer als Hauptverdächtiger gelten müssen. Er war von Nix bedroht worden. Er liebte die Frau, mit der Nix verheiratet gewesen war. Er war in einem Raum mit der Leiche gewesen, war im Blut herumgestapft und, und, und. Aber erstens war Stirling keiner von den üblichen Polizisten, und zweitens hatte der Mord an dem Bäcker und Paläontologen kaum mediale Wellen geschlagen. Das war umso erstaunlicher, wenn man die Sexvergangenheit des involvierten Lorenz Mohn bedachte. Doch entweder hatte die Presse von den Hintergründen wirklich keine Ahnung, oder sie hielt sich zurück. Das konnte sie mindestens so gut. Denn entgegen dem Klischee einer vorauspreschenden und jeden Schwachsinn ausposaunenden Journaille bestand ihre eigentliche Fähigkeit darin, Dinge zu verschweigen. Wer auch immer das jeweilige Schweigen anordnete. Jedenfalls ergab sich aus selbigem Umstand ein geringerer Druck auf die Ermittler. Sie mußten nicht übereilt handeln und sich durch dramatische Auftritte in Szene setzen. (Intern unterscheidet man bei der Polizei – wie man das sonst aus der Kunst kennt – die Fälle in E und U. Das E steht für Verbrechen, für deren Aufklärung man sich exakt jene Zeit nimmt, die schlichtweg vonnöten ist, um die Wahrheit ans Tageslicht zu befördern. Bei U-Fällen hingegen geht es vor allem darum, der Öffentlichkeit eine glaubwürdige Lösung anzubieten und schnelle Verhaftungen vorzunehmen, die mitunter zu ebenso schnellen Freilassungen führen. Aber das macht nichts. Der U-Bereich lebt davon, ein Bild der Rasanz zu liefern, eine Überlegenheit des Staates im Widerstreit mit dem Verbrechen, eine souveräne Hektik, zu der eben auch die Freilassung von Verdächtigen gehört, denen man nichts nachweisen kann beziehungsweise noch nichts nachweisen kann. – Der Nix-Fall war ein E-Fall. Gott sei Dank!)

Eineinhalb Wochen später eröffnete Plutos Liebe. Und man darf sagen, es wurde ein gesellschaftliches Ereignis. Freilich nicht eins von denen, über die in den Klatschspalten berichtet wird. Darum brauchten auch keine Männer aus dem Sicherheitsgewerbe mit ihren häßlichen Ohrstöpseln durch die Gegend zu laufen und den Eindruck des Überfallwürdigen vorzutäuschen. Zudem fehlten die notorischen Bezirksgrößen. Dafür war Claire Montbard erschienen, ohne deren zinsfreien Kredit das alles ja gar nicht denkbar gewesen wäre. In ihrem Schlepptau erschienen einige Persönlichkeiten aus der Kultur. Zudem ein berühmter Schriftsteller, der sich als leidenschaftlicher Teppichknüpfer entpuppte. Sogar irgendein Hollywoodregisseur, der gerade in Wien war. Diese prominenten Figuren vermischten sich mit den Menschen aus der Rosmalenstraße und der Umgebung zu einem attraktiven Haufen. Und zu guter Letzt gab sich die Polizei in Gestalt von Stirling und seinem Vorgesetzten Boris Spann die Ehre. Hätte nur noch gefehlt, Rorschach und Mai Hillsand wären aufgetaucht. Doch es waren auch so genügend schöne Frauen anwesend. Ja, man kann sagen, daß an diesem Eröffnungsabend jede Frau vor dem Hintergrund einer breitwandigen Farbskala elegant und anmutig wirkte. Die Männer verblaßten daneben. Aber es gibt schließlich auch ein wohliges Verblassen.

Nur einer verblaßte nicht: Lorenz Mohn. Er war glücklich und zufrieden. Und dieser gewisse Ausdruck der Erschöpfung – als sei er auf dem Weg zu Plutos Liebe durch ein Tal der Schmerzen gegangen – machte ihn natürlich nur noch anziehender. Er war jetzt ein kompletter Mann. Ein Mann mit Geschäft, so wie man vielleicht sagt, ein König mit Reich oder ein Astronaut mit Rakete oder ein Reiter mit Pferd.

Sera spürte diese Ganzwerdung des Mannes, der ihr so verfallen war. Das beeindruckte sie. Wie gut dieser Mann und dieses Geschäft zusammenpaßten! So wie sie selbst ja ebenfalls bestens mit ihrem Heiratsinstitut harmonierte. Sie fühlte sich nun endlich restlos angezogen von Lorenz Mohn, auch wenn er bezüglich der Geschichte mit Nix sich dümmlich verhalten hatte. Aber das würde sie schon noch hinbekommen.

Lorenz hatte ihr am Tag zuvor – geradezu panikartig, als sei er im Sterben begriffen oder als sei Sera im Sterben begriffen – einen Heiratsantrag gemacht. Gerade in dem Augenblick, als die Ikebanagestecke gekommen waren, mit denen Teile des Lokals geschmückt wurden. Es war ganz klar, daß Lorenz zwar geplant hatte, etwas Derartiges zu unternehmen, denn er hatte bereits den Ring in der Tasche gehabt, doch der konkrete Moment war außerhalb des Plans gestanden. – Man kann sagen: Der Moment übermannte den Mann. Lorenz faßte die soeben mit ein paar »lebendigen Blumen« vorbeieilende Sera am Arm, nahm ihr das Arrangement aus der Hand, holte den Ring aus der Tasche und deutete etwas an, was man als theoretisches Niederknien bezeichnen konnte. Und dann offenbarte er, ihr dabei eindringlich in die Augen sehend (nun also endlich ein Loch ins Eis schlagend, um darin zu angeln): »Ich will dich heiraten. Ich habe das noch nie jemandem gesagt, und ich werde es ganz sicher auch nie wieder jemandem sagen. Es gibt nur einen Urknall.«

Na, so ganz sicher war das eigentlich nicht. Wenn man bedenkt, daß manche Wissenschaftler von einer unendlichen Zahl singulärer Ausgangspunkte sprechen, aus denen dann eine Vielzahl von parallelen Universen entstanden sind. Aber Sera wußte natürlich, wie Lorenz es meinte. Und weil sie zu denen gehörte, die einsahen, daß, wenn ein Weg sich nach rechts und links gabelt, man nicht einfach weiter gerade gehen kann, sagte sie: »Ja. Heirate mich.«

Im Bewußtsein einer solchen Zukunft standen sie nun nebeneinander, Hand in Hand, die zierliche, aber in ihrer Zierlichkeit unzerbrechliche Blauhaarige und der Meister der Wolle. Daß dieser Meister noch immer recht wenig Ahnung vom Stricken und Knüpfen und Nähen hatte, störte dabei nicht. Seine zukünftigen Kundinnen würden ja selbst bestens wissen, was sie brauchten und wollten. Zudem hatte Lorenz eine Verkäuferin eingestellt, eine Dame kurz vor der Pensionierung, der einige Versicherungsjahre fehlten und welche mit Freude den Job angenommen hatte. Daß es sich bei ihr weder um eine elegante noch irgendwie gutaussehende Person handelte, sondern um eine pure Expertin, eine in der Kunst des Strickens vollends aufgehende Fachfrau, war absolut ein Vorteil. Sie paßte perfekt zu Lorenz. Wenn der schöne Lorenz Mohn für den Namen seines Geschäfts stand, also für den Namen Pluto, dann mußte man seine Mitarbeiterin und eigentliche Kapazität mit Charon gleichsetzen, also dem nahen Trabanten des Plutos und in der griechischen Mythologie als der greise Fährmann bekannt, der die Toten über den Fluß Styx führt. Zumindest dann, wenn diese Toten auch bezahlt haben und eine Münze unter ihrer Zunge mitführen.

Was nun Lorenz nicht ahnen konnte, war der Umstand, daß diese Frau (deren Name merkwürdig verschwommen blieb oder immer wieder mit kleinen oder auch größeren Änderungen ausgesprochen wurde: Kurzmann, Kurzmaier, Kurtlan, Kurtaner, vielleicht sogar Courths-Mahler), daß diese Frau also in Wirklichkeit in Diensten von Claire Montbard stand, obgleich es das Arbeitsamt gewesen war, welches sie an Lorenz vermittelt hatte. Aber das Arbeitsamt war ja auch nur eine an Weisungen gebundene Behörde. Und man kann sagen, daß, wenn Lorenz der Meister der Wolle war, dann war Claire Montbard ganz sicher die Meisterin der Weisungen.

Nur einmal an diesem Abend kamen die beiden, der Kreditnehmer und seine Kreditgeberin, ins Gespräch. Claire Montbard bestätigte Lorenz, daß Plutos Liebe ein zauberhafter Laden geworden sei, der sicher auch alle Nichtstrickerinnen und Nichtstricker animieren würde einzutreten. Doch mit keinem Wort erwähnte sie den Toten, der hier gefunden worden war. Allerdings machte sie eine Bemerkung bezüglich der Anwesenheit von Boris Spann, den sie gut zu kennen schien. Sie sagte zu Lorenz: »Ich find es clever von Ihnen, sich mit der Polizei anzufreunden.«

»Anfreunden wäre zuviel gesagt.«

»Wie auch immer. Sie machen es jedenfalls richtig.« Und: »Wie finden Sie Stirling?«

»Er weiß, was er tut.«

»Bei einem Griechen grenzt das an ein Wunder«, äußerte Montbard, die wie die meisten Wiener null Probleme hatte, ein Vorurteil auszusprechen.

»Na, er ist ja immerhin ein wenig ein Engländer.«

»Was man ihm Gott sei Dank nicht ansieht«, setzte Montbard ihre Stänkerei fort. »Ich weiß nicht, warum das so ist, aber Engländer sind tendenziell häßlich. Sie sehen alle aus, als hätten sie zu lange in einer Waschmaschine gesteckt. Doch nicht dieser Junge. Er wirkt eher antik. Eher wie die Skulptur dessen, was er sein könnte, wäre er nicht Polizist.«

»Und was wäre das?« fragte Lorenz.

»So eine Art Speerwerfer.«

Lorenz nickte. Montbard hatte recht. In der Tat hätte man Stirling für einen angezogenen Speerwerfer halten können.

»14. Juli. Nicht vergessen«, erinnerte Montbard, während sie bereits in eine andere Gesprächsrunde hinüberglitt.

»Ich vergesse gar nichts«, sagte Lorenz. In Wirklichkeit wäre er auf die Schnelle nicht mal in der Lage gewesen, sicher sagen zu können, ob die Rückzahlung im Juli 2014 oder 2015 zu erfolgen hatte.

Es muß hier in aller Deutlichkeit gesagt werden: Lorenz Mohn war ein vergeßlicher Mann.

Freilich nicht so vergeßlich, daß er vergaß, einen Heiratsantrag gemacht zu haben. Einige Wochen später ging er mit Sera Bilten den Bund fürs Leben ein. Was ein Teil der Damenwelt, die in die Rosmalenstraße kam, um sich mit Wolle und Nähzeug einzudecken, sehr bedauerte. Gleichzeitig stieg Lorenz in deren Achtung. Bei aller Attraktivität und Komplettheit war ihm bis dahin dennoch ein gewisser Makel angehangen. Wenn nämlich gesagt worden war, ein Mann mit Geschäft sei wie ein Astronaut mit Rakete oder ein Reiter mit Pferd, dann hatten dennoch der Treibstoff und der Hafer noch gefehlt.

Jetzt aber, glücklich verheiratet, war er perfekt.