27 | Clooney und Auden

Lorenz Mohn sah sie bereits, als sie noch auf der Straße standen und sich dort eine Weile unterhielten. Eine Gruppe von Männern, alle in schwarzen Anzügen, wobei einige wegen ihrer dunklen Haut und der schwachen Straßenbeleuchtung nur aus ihren weißen Hemdkragen zu bestehen schienen. Eine Mannsbildgruppe also, in deren Mitte Claire Montbard in einem hellen Sommerkleid thronte und diese apostolische Versammlung quasi von ihrem Zentrum her umfaßte. Durchaus spinnenartig, aber auf eine dekorative Weise spinnenartig. Ohnehin sind Spinnen der Höhepunkt der Schönheit wie auch der Grausamkeit. Geradeso, als würde das zusammengehören.

Die Gäste betraten nun das Lokal. Claire Montbard gab den Kellnern ein Zeichen, welche mittels einiger tänzerischer Bewegungen einen Durchgang schufen, wo vorher keiner gewesen war. Jedenfalls gelangten die nicht nur dünnen Freunde Afrikas ungehindert in den hinten gelegenen, separierten Raum. Sofort wurden Flaschen des berühmten Hausweines aufgetragen, eines Weins, dessen Anziehungskraft nicht zuletzt vom Fehlen der Etiketten bestimmt war. Selbiger Mangel suggerierte eine magische Bedeutung. (Das Magische rührt naturgemäß nicht vom Wissen, sondern vom Nichtwissen her, nicht vom Sichtbaren, sondern vom Unsichtbaren. So wie man auch die ganze Claire Montbard als eine zwar sichtbare, aber im Grunde etwas Unsichtbares verkörpernde Frau bezeichnen könnte. In der Art unsichtbarer Superhelden, die eine Maske tragen, wenn sie von den anderen gesehen werden wollen.)

Lorenz hatte einen guten Blick auf die exklusive Gesellschaft, da er genau neben der aus vielen Scheiben zusammengesetzten Trennwand saß. Beziehungsweise diese Wand günstigerweise zu seiner rechten Seite gelegen war. Verstehen allerdings vermochte er so gut wie nichts, nicht zuletzt, da der Lärmpegel im Hauptraum beträchtlich ausfiel. Sehr viel enger und gedrängter ging es gar nicht mehr. Und eigentlich war Lorenz der einzige, der in seiner einzelgängerischen Eckposition über ein wenig Platz verfügte.

In einem kurzen Moment trafen sich Lorenz’ Augen durch eine der A4-großen Scheiben hindurch mit jenen Claire Montbards, wobei Lorenz’ Blick eine gewisse Verzweiflung bekundete. Wie um Himmels willen sollte er hier, von seinem runden Tischchen aus – seinem Inselchen –, irgend etwas verhindern können? Doch Montbards Ausdruck wiederum war so fordernd und bestimmend wie eh und je.

Lorenz ließ seinen Kopf unter der Begleitung eines leisen Seufzers sinken und stierte auf den hellbraunen Halbkreis, der tief unten in seiner Kaffeetasse einen See bildete, welcher matt und trostlos dalag. Als er seinen Kopf wieder anhob, schaute er in das Gesicht eines Mannes, welcher sich erkundigte, ob an diesem Tisch noch ein Platz frei sei.

Unfähig, sich den Grund für eine Ablehnung auszudenken, nickte Lorenz und wies einladend auf den einen freien Stuhl. Der Mann dankte und setzte sich. Er mochte um die Vierzig sein, athletisch, kantig, elegant, so ein George-Clooney-Typ, sodaß nun also erneut – ein wenig wie damals, als Stavros Stirling den Fall übernommen hatte – zwei ausgesprochen gutaussehende Männer sich gegenübersaßen.

Für eine am Optischen orientierte Frau wäre es schwer gewesen, sich für einen von den beiden zu entscheiden, wobei freilich der Clooney-Typ eher als ein Mann für gewisse Stunden und Lorenz eher als ein Mann fürs ganze Leben gelten konnte. Lorenz besaß – zumindest, seitdem er über sein Neglect verfügte – einen Zug in seinem Gesicht, der, bei aller Liebe zum Leben, eine Todessehnsucht verriet. Solche Männer taten nie etwas Halbes. Im Falle Lorenz’ konnte man sagen: auch wenn er nur eine Seite des Lebens wahrnahm, die aber ganz.

Der Clooney-Mann bestellte ein Bier und zündete sich in der Folge eine Zigarette an. Er rauchte so entspannt wie hingebungsvoll. Dabei blätterte er in einem Büchlein, überflog die eine oder andere Stelle, als sei er mit dem Inhalt bestens bekannt, als suche er bloß Rat im Vertrauten. Gesprochen wurde nichts. Lorenz wäre nie auf die Idee gekommen, diesen Mann beim Lesen stören zu wollen. Umsomehr, als dieser seine Lektüre auch dann nicht beendete, als das Bier kam. Er las und trank. Erst nachdem er sein Glas halb geleert hatte, legte er den offenen Band auf den Tisch, erhob sich und zwängte sich an den Sitzenden vorbei hinüber zu den Toilettenräumen.

Lorenz war nun doch etwas neugierig geworden. Das Lesen eines Buches in einem solchen Lokal war so ungewöhnlich wie das Alleinsein. Und Lesen wiederum durfte ja wohl als die extremste Form des Alleinseins bezeichnet werden. Denn wen, bitte schön, konnte ein Leser auf die Reise in ein Buch, eine Geschichte mitnehmen? Nicht einmal sein Haustier. Nein, in einem Buch war der Leser ganz auf sich selbst gestellt.

Lorenz griff nach dem Band und hob ihn vorsichtig hoch, ohne die Seiten zu verblättern. Er konnte jetzt den Titel auf dem Schutzumschlag erkennen. Es handelte sich um eine Sammlung von Gedichten W. H. Audens.

Aha! Lorenz hob anerkennend seine Brauen. Der Clooney-Typ sah so gar nicht nach Auden aus. Umso schöner, daß er ihn trotzdem las. Ohnehin sollten Gedichte nur von Leuten gelesen werden, die nicht nach Gedichten ausschauen. So wie ja auch dicke Leute keine dicken Autos fahren sollten, weil die Verdoppelung des Dicken einfach zuviel des Guten ist. Das ist übrigens das Problem von Charon, dem Mond des Zwergplaneten Pluto. Charon ist im Verhältnis zu Pluto viel zu groß, um ein richtig schöner Mond zu sein. Zwergplanet und Riesenmond, das schaut einfach blöd aus.

Auden-Gedichte also! Lorenz ließ den Buchdeckel wieder los und rückte den aufgeschlagenen Band in die alte Position. Dann sah er pflichtbewußt hinüber ins Nebenzimmer. Noch war alles in Ordnung. Na, möglicherweise würde ja auch gar nichts geschehen. Ja, vielleicht…

Ja, vielleicht würden die Amerikaner auf die Idee kommen, Alaska an Rußland zurückzugeben.