| Ein Dschungel auf Pluto

Drei Tage später stand er mit einem unfreundlichen Menschen im leeren Verkaufsraum der ehemaligen Bäckerei Nix. Der unfreundliche Mensch war Makler und vertrat die Gesellschaft, der dieses Haus gehörte. So unfreundlich dieser Mensch auch war – er blickte ständig an Lorenz vorbei –, unterließ er es jedoch, große Umstände zu machen und irgendwelche Geschichten von anderen Interessenten aufzutischen. Statt dessen unterbreitete er einen realistischen Mietpreis. Zudem verzichtete er auf eine dieser rätselhaften Investitionsablösen, wie sie gang und gäbe waren, ohne daß je ein Mieter begriffen hätte, von welchen Investitionen da eigentlich gesprochen wurde. Etwa jene Porsches vor der Türe, welche Montbard erwähnt hatte?

Dieser Makler hingegen – und das ist kein Witz – war mit der Straßenbahn gekommen. Was hatte das zu bedeuten? War das eine besondere Art von Gerissenheit? War das einfach ein weiterer Beweis für die magische oder dämonische Bedeutung der bisherigen Fügungen? Ein Porsche vor der Türe ist schlimm, aber wenn jemand, der Makler ist, mit der Straßenbahn kommt, sollte man lieber drei Kreuze schlagen und das Weite suchen.

Anstatt genau das zu tun, war Lorenz einfach froh, daß der unfreundliche Mensch jegliches Theater unterließ und sich die finanzielle Seite simpel gestaltete. Der relativ geringe Mietpreis entsprach der Lage des Geschäfts. So nett dieses Gäßlein war, war es dennoch ein verlassenes Gäßlein, fern von der Innenstadt, fern der nächsten größeren Einkaufsstraße, ein Geheimtip eben. Aber exakt das wollte Lorenz ja auch mit seinem Laden erreichen, ein Geheimtip zu werden, eine Schatztruhe, ein anziehendes Ende der Welt. Der Name dieses Weltendes lautete: Rosmalenstraße.

»Ich zeige Ihnen jetzt das Übrige«, sagte der Makler, blickte an Lorenz vorbei und bewegte seinen für Straßenbahnfahrten viel zu massigen Körper durch eine kleine Türe in einen Hinterraum. Lorenz folgte ihm und geriet solcherart in eine beträchtliche Dunkelheit.

»Da sollte irgendwo ein Licht sein«, meinte der Makler.

Normalerweise befanden sich Lichtschalter natürlich nahe der Türstöcke. Doch auch Lorenz entdeckte nichts dergleichen. Er ließ es bleiben und begab sich tiefer in die räumliche Nacht. Wobei sich versteht, daß aus dem Hauptraum Tageslicht hereindrang, aber dieses Licht verlor rasch seine Kraft, wirkte nur mehr als kümmerliche, diffuse Strahlung, wie ausgequetscht, gewürgtes Licht, eher tot als lebendig, jedenfalls kaum noch in der Lage, die Ausmaße dieses Raums, seine Tiefe, deutlich zu machen.

»Ich nehme an«, sagte der Makler, der nahe der Türe verblieben war und im Zwielicht an eine impressionistische Verschleierung erinnerte – Paris bei Nebel –, »daß irgendwo da hinten die Toilette ist. Und eine kleine Küche.«

»Keine Fenster?« wunderte sich Lorenz.

»Keine Fenster. Aber eine Türe, die hinaus ins Treppenhaus führt. Leider fehlt der Schlüssel. Und außerdem…wir bräuchten eine Taschenlampe. Haben Sie eine Taschenlampe dabei?«

Nun, wenn überhaupt, dann wäre es eigentlich die Aufgabe des Maklers gewesen, auf eine solche Weise ausgerüstet zu sein. Nämlich die Möglichkeit von Immobilien bedenkend, die ohne Strom oder zumindest ohne Glühlampen waren. Wenn man schon mit dem Fehlen von Lichtschaltern nicht rechnete.

»Nein, ich habe nie eine Taschenlampe bei mir«, erklärte Lorenz. »Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Ich nehme das Objekt in jedem Fall.«

»Sie müssen wissen, was Sie tun«, sagte der Makler, so wie man sagt: Erschießen können Sie sich immer noch.

Es war in der Tat ungewöhnlich, daß Lorenz in keiner Weise darauf bestand, den hinteren Raum, der sowohl als Lager als auch Büro fungieren würde, bei Licht zu betrachten. Und ihn also nicht bloß als ein schwarzes Loch wahrzunehmen, in dem alles mögliche stecken konnte, etwa Schimmelbildung. Doch es war nun mal nicht die Aufgabe des Maklers, die Dummheit von Kunden zu hinterfragen. Er sagte: »Ich lasse den Vertrag aufsetzen.« Zudem versprach er, einen Elektriker zu beauftragen, sich an einem der nächsten Tage um das Licht zu kümmern.

»Tja«, meinte der Makler abschließend, als könne er auch nichts dafür, daß die Welt so war, wie sie war. Dann bat er Lorenz, am Folgetag zur Vertragsunterzeichnung in seinem Büro zu erscheinen.

Die zwei Männer traten aus dem Laden, beide ein wenig irritiert ob der Helligkeit, die man tief in der Schwärze des rückwärtigen Raums nicht für möglich gehalten hätte, gaben sich die Hand und gingen auseinander. Also, der Makler ging, während Lorenz bloß ein paar Schritte machte, stehenblieb, kurz überlegte und in der Folge durch das offene Tor des rosafarbenen Hauses eintrat.

Er war überrascht. Das Innere des Gebäudes wirkte sehr viel älter als seine Fassade, welche Lorenz den neunzehnhundertfünfziger Jahren zugeordnet hatte, während der schmale, steinerne, mit einem Wasserbecken und leichten Wandvertiefungen ausgestattete Flur einen Blick ins späte neunzehnte Jahrhundert gewährte. Die Treppe besaß ein schmiedeeisernes Geländer mit mannigfaltiger Verzierung – Ranken, Trauben, Blumen, Tierköpfe. Geradezu prachtvoll, sehr viel prachtvoller als der Rest des Stiegenhauses. Lorenz tat einige Schritte die Stufen hoch und betrachtete eingehend die schwarz lackierte Eisenarbeit. Er erkannte kleine Figuren, die zwischen den Ornamenten kopfüber hingen. So eine Art Höllensturz, wenn man die tiefergelegenen Formationen als loderndes Feuer interpretierte. Schon ungewöhnlich für ein Geländer. Auch entdeckte er gebeugte Gestalten mit Werkzeugen, einen Gekreuzigten, einen Mann mit Peitsche, Kinder im Kreis, dies alles aber nicht im Stil einer fortlaufenden und Zusammenhänge herstellenden Geschichte, sondern eingebettet in das Meer aus sinnlos herumwirbelnden Schmückungen. Als wäre die Geschichte der Welt bloß das Nebenprodukt einer alles dominierenden, fundamentalen Dekoration ihrer selbst. Das Ornament somit der Ursprung, der Auslöser, der eigentliche Zweck.

Die Welt als Geländer. Warum nicht?

Lorenz war mittels seiner Geländerbetrachtung zwei Stockwerke nach oben geraten. Er vernahm Geräusche und Stimmen. Wahrscheinlich aus einem Fernsehgerät. Er stieg wieder hinunter ins Parterre, wo ihn ein vom Windzug getragener Geruch dazu verführte, den Gang weiter nach hinten zu gehen und durch eine offene Türe in einen Hinterhof zu gelangen. Besser gesagt einen Hinterdschungel, eine einzige grüne Bedrängnis, einen zwischen Mauern gesperrten europäischen Miniatururwald. Daher der Geruch, Blütengeruch, Ziersträuchergeruch, Feuchte-Erde-Geruch, somit also auch Gießkannengeruch, Geruch von getrocknetem Wasser und nicht zuletzt Zigarettengeruch.

Inmitten des kontrollierten Wildwuchses, auf einer kleinen gerodeten Fläche, saßen zwei Frauen an einem mit einer runden Marmorplatte versehenen Tisch, einem dieser nicht umsonst an Hubschrauberdecks erinnernden Plattformen, welche sich bestens eignen für die Landung durch die Zeit gereisten Kaffees. Genau ein solcher Kaffee stand hier. Die ältere der beiden Frauen, eine stark beleibte und stark geschminkte Person, eine granatapfelartige Erscheinung, hielt eine Zigarette in der Hand. So wie sie das tat, hätte man meinen können, sie sei die letzte Raucherin, ja als müsse man fürs Rauchen von Gott auserwählt sein und als wäre Gott in letzter Zeit radikal sparsam damit umgegangen, jemandem eine solche Ehre angedeihen zu lassen. (Was dann also bedeuten würde, daß die ganze Kampagne gegen das Rauchen eine lächerliche Ausrede ist, die Ausrede von Leuten, die sowieso nicht rauchen können, nicht rauchen dürfen und nun aus der Not eine Tugend machen und sich, von Gott verlassen, in die Gesundheit stürzen.)

Die letzte Raucherin betrachtete Lorenz feindselig und fragte mit einer dunklen, jedoch reinen, einer Torpedostimme: »Was wollen Sie hier?«

»Sie müssen entschuldigen…«

»Nichts muß ich.«

»Ich übernehme das Lokal der ehemaligen Bäckerei.«

»Sie sind aber kein Bäcker, oder?«

Wie sahen eigentlich Bäcker aus? War das nur ein Witz, wenn behauptet wurde, Bäcker hätten stets einen Ausdruck von Müdigkeit im Gesicht? Oder wenn man sagte, Krankenschwestern würden hinterlistig anmuten? Und Mathematiker debil? Und Bibliothekarinnen streng? War diese Frau hier eine Bibliothekarin, bloß weil sie Lorenz einen Blick schenkte, als wollte sie ihm die Ohren langziehen und ein paar Zähne reißen? – Und die andere Frau? Was hatte sie wohl für einen Beruf, so zierlich und blaß, wie sie war. Der unsichere Typ, der Schnupfentyp, der schnell rote Backen bekam und die Hände zwischen die Schenkel klemmte und beim Reden schwer atmete oder lieber gar nicht sprach. Mit Sicherheit Allergikerin. Aber eine hübsche Allergikerin, wie Lorenz sofort feststellte. Glasaugen und Glashaut, zerbrechlich also. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, unter welchem ihr Körper hin- und herzuschwingen schien, gleichmäßig pendelnd. Sie hatte das halblange, glatte, blau gefärbte Haar zu einem Zopf gebunden. Das Blau paßte ihr, hatte nichts Punkiges, nichts Synthetisches, wirkte so, als sei Blau eine ganz natürliche Haarfarbe; helles Haarblau, wie es eben bei gewissen Menschen vorkommt. Ihre perfekten Beine – man hätte diese Beine sofort in die Werbung schicken können – standen eng aneinander, die Hände lagen im Schoß, bildeten zwei lockere Fäuste, sodaß Lorenz das Aussehen der Finger nur schätzen konnte. Wahrscheinlich Finger fürs Klavier und zum Tragen von Ringen, dachte er, obgleich diese Frau mit Sicherheit keinen Ring trug, so wie sie keine Uhr trug, keinen Armreifen, keine Kette, überhaupt keinen Schmuck. Brauchte sie auch nicht, denn sie besaß auf der linken Seite ihres schmalen Halses vier Muttermale, zwei größere in kurzem Abstand zueinander, und in geringer Entfernung dazu noch zwei kleinere. Es sah wirklich hübsch aus. Lorenz starrte viel zu lange auf diese Konstellation am Hals der jungen Frau, während er damit beschäftigt war, klarzustellen, sicher kein Bäcker zu sein, sondern… Würden die beiden Frauen ihn auslachen? Egal, er offenbarte, daß er dort, wo einst die Bäckerei Nix gewesen war, demnächst ein Handarbeitsgeschäft, einen Kurzwarenladen, eröffnen würde.

»Sie schwindeln mich an«, sagte die Raucherin und lachte ein fettes Lachen, das sich um den Zigarettenqualm herumwand, solcherart die Doppelhelix eines DNA-Strangs bildend, den DNA-Strang dieser Frau.

»Es wäre ziemlich dumm«, meinte Lorenz, »eine Frau wie Sie anschwindeln zu wollen.«

»Das stimmt«, antwortete sie, ohne es irgendwie lustig zu meinen. »Und Sie denken im Ernst, so was lohnt sich? Was glauben Sie denn, wieviel Sie mit einem solchen Laden verdienen können?«

»Wollte ich reich werden, müßte ich sicher etwas anderes tun.«

»Es wird schwierig werden, überhaupt zu überleben«, prophezeite die Frau und zerdrückte die Zigarette mit einer überraschend liebevollen Geste im Aschenbecher. Wie man jemanden tötet, den man mag, wirklich mag und nicht nur so dahingesagt.

Lorenz äußerte, überzeugt zu sein, daß sein Geschäft ankommen werde. Er habe vor, die edelste Wolle zusammenzutragen, die es gäbe. Und er habe vor, ein ganz spezielles Klima zu schaffen, eine Oase, eine Insel…

»Ein Lazarett für einsame Frauen«, kommentierte die Raucherin.

»Für manche wird es ein Lazarett sein«, bestätigte Lorenz. »Warum nicht?«

»Eine schöne Idee.« Es war die andere, jüngere Frau gewesen, die das gesagt hatte. Zu den Glasaugen und der Glashaut kam jetzt noch die Glasstimme. Aber der Eindruck des Zerbrechlichen fehlte. Es gab ja auch Glas, auf das man hämmern konnte, bis einem der Arm abfiel.

»Das freut mich, daß Sie das so sehen«, erklärte Lorenz.

Doch die große, wuchtige Frau fuhr dazwischen: »Meine Schwester neigt manchmal zur Naivität.«

Schwestern? Lorenz wollte nicht glauben, daß die beiden Schwestern waren. Unterschiedlicher konnten zwei Frauen gar nicht sein. Zudem schienen sie altersmäßig weit auseinanderzuliegen. Wenn schon, dann Mutter und Tochter. Aber selbstredend vermied er es, seine Verblüffung zu zeigen. Statt dessen nannte er seinen Namen.

»Und Sie denken also«, sagte die Raucherin, ohne sich ihrerseits vorzustellen, »Sie müßten sich mit uns anfreunden, nur weil Sie hier ein Geschäft aufmachen?«

»Ich…habe mir das Haus angesehen, und da kam ich in Ihren Garten. Ich glaube allerdings nicht, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe.«

»Sie sind ein komischer Heiliger«, sagte die Frau, die sich eine neue Zigarette anzündete, es sich nun aber doch überlegte und erklärte, sie heiße Lou, ihre Schwester Serafina, wobei die meisten sie Sera rufen würden. Lou und Sera Bilten. Sie würden beide in diesem Haus wohnen. Ein erstaunliches Haus. Er werde sich noch wundern.

»Bilten?«

»Der Name stammt von einem Ort in der Schweiz. Aber Sie hören ja, daß wir keine Schweizer sind. Gott sei Dank. Berge sind nicht gut für Menschen. Darum auch diese verschrobenen Dialekte. Man kriegt Kopfweh vom puren Zuhören.«

»Dann schon lieber ein Dschungel, nicht wahr?« Lorenz zeigte auf die farbenreiche Pracht.

»Unsinn. Von mir aus könnte man das abholzen und eine schöne, gerade Betondecke drüberlegen. Dann hätten wir wenigstens keine Insekten. Bloß was soll ich machen, Sera liebt ihren Garten.«

Sera lächelte. Weder blöde noch allwissend. Im Unterschied zum Großteil der Menschen, die von Natur aus gar nicht imstande sind, richtig zu lächeln, es sich aber nach und nach aneignen. Und dabei ihre Eltern und Erzieher zum Vorbild nehmen, die es ja auch nur aus der Zeitung und dem Fernsehen haben. Seras Lächeln hingegen war echt und wie alles Echte nicht ohne Bitterkeit. Lorenz fragte sich, was diese blauhaarige Frau für ein Problem hatte. Sie hatte ganz sicher eines. Wäre sie sonst hier gesessen, mit ihrer schrecklichen Schwester, mit der sie vielleicht sogar die Wohnung teilte, zumindest im selben Haus lebte?

»Möchten Sie einen Kaffee?« fragte Sera.

Lou schaute wütend zu ihrer kleinen Schwester, unterließ aber einen Kommentar. Dann schwenkte sie zu Lorenz hinüber und warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Du blöde Gurken«, dachte Lorenz und war fest entschlossen, sich von dieser Walze nicht überrollen zu lassen. Er wandte sich an Sera, bemühte sich um einen physiognomischen Sonnenaufgang und sagte: »Ja gerne.«

»Setzen Sie sich doch«, lud Sera ihn ein und zog einen Stuhl herbei. Dann stand sie auf, um eine Tasse zu holen.

Für einen Moment war Lorenz mit Lou Bilten allein. Die Luft klingelte, als beginne eine besonders unangenehme Schulstunde. Es war viel zu heiß für jemanden, der nervös war. Lorenz fuhr sich mit einem Fingerknöchel über die feuchte Stirn. Auch Lou schwitzte, klar, aber sie tat es mit Gelassenheit. Das bißchen Wasser im Gesicht brachte sie nicht aus der Fassung. Sie fragte: »Rauchen Sie?«

Es war nicht so, daß sie ihm etwa eine Zigarette angeboten hätte. Vielmehr handelte es sich um eine grundsätzliche Frage. Damit sie nachher wußte, wo sie diesen Burschen einordnen konnte.

»Nein«, sagte Lorenz.

Warum hatte er das gesagt? Es stimmte ja nicht. Er rauchte gerne, wenngleich selten, dann aber mit Genuß und Freude und reinem Gewissen. Dennoch gab er hier vor, Nichtraucher zu sein. Offensichtlich hielt er es für besser – entgegen seiner Aussage, darauf zu verzichten, jemanden wie Lou Bilten anschwindeln zu wollen –, sie gerade in diesem einen Punkt auf eine falsche Fährte zu locken. So lächerlich es klingen mag, Lorenz beschloß, in Gegenwart dieser Frau niemals nach einer Zigarette zu greifen. Würde es ihm trotzdem passieren, so spekulierte er, wäre dies ein schwerer Fehler. Wenn nicht ein fataler.

Lou wiederum machte ein Gesicht, als hätte sie sich von einem wie Lorenz sowieso nichts anderes erwartet als kleinmütige Nichtraucherei. Ja, sie wirkte tatsächlich zufrieden ob dieser Information. Die letzte Raucherin brauchte keinen letzten Raucher neben sich.

Die zwei schwiegen. Und auch wenn sie saßen, so umkreisten sie sich. Eine Bärin und ein Luchs. Oder vielleicht eine Tigerin und ein schlankes Stachelschwein.

In dieses tonlose Knurren und bewegungslose Umkreisen brach Sera mit ihrer typischen Schüchternheit. Sie setzte ihre Schritte vorsichtig, und nicht nur, weil sie eine Untertasse, eine Schale und einen Löffel balancierte. Ihre Schüchternheit und ihre Vorsicht hatten freilich nichts von einem Schlachttier, sie war somit nicht das Huhn, das zwischen Tigerin und Stachelschwein geriet und den üblichen Kollateralschaden bildete. Nein, sie war… Lorenz wußte es noch nicht. Aber er wollte es herausfinden.

Hatte er nicht gesagt, daß diese leidige Frau-fürs-Leben-Geschichte ein Ende hatte? Doch davon wollte er jetzt nichts hören. Er sah Sera, sah ihre bläuliche und blasse Erscheinung, ihre hübsche Fragilität, ihr Fremdsein, den Kummer, der in Freundlichkeit überging, erkannte die auf ihrem Hals wie auf einer Sternkarte eingezeichneten Muttermale, die Herbstfarben ihrer Pupillen, die Winterfarbe ihrer Haut, den asiatischen Zuschnitt ihres Gesichts, das umsichtig Schwebende ihrer Bewegungen… Allein, wie sie ihm jetzt den Kaffee einschenkte, gerade so, als schenke sie ihm ein Kind. Nun ja, das war natürlich übertrieben, aber Lorenz konnte nicht anders, als sich diese Frau als Mutter seines Kindes vorzustellen. Eines elfenartigen Kindes. (Was soll der Unfug? Wer bitte wünscht sich elfenartige Kinder? Kinder, die dann im Wahnsinn eines Schulalltags untergehen, zerdrückt werden mit ihren Flügeln und ihrer porösen Seele, ihrem Seelchen.)

Lorenz dankte für den Kaffee und tat ein Stück Würfelzucker hinein. Obgleich er niemals Zucker nahm. Wahrscheinlich war dies ein weiteres Täuschungsmanöver in Richtung Lou. Sie sollte sich nur wundern, wie er seinen makellosen Körper hinbekam – trotz Zucker im Kaffee. Als er einen ersten Schluck nahm, mußte er allerdings aufpassen, das Gesicht nicht zu verziehen. Klar, er würde sich also auch an den Zucker gewöhnen müssen.

Lou, mit ihrem guten Gespür für die richtigen Fragen, erkundigte sich bei Lorenz, was er eigentlich bisher getan habe. Das müsse ja ein beschissener Job gewesen sein. »Ich meine, wenn Sie den aufgeben, um sich…ein Handarbeitsgeschäft anzulachen.«

Lorenz zögerte. Nun, da er soeben bezüglich Nichtrauchen und Zucker zum Kaffee gelogen hatte, brauchte er nicht ausgerechnet jetzt die Wahrheit zu sagen. Andererseits war voraussehbar, daß man seine pornographische Vergangenheit ohnehin rasch herausbekommen würde. Solche Geheimnisse blieben kein Geheimnis. Zudem hatte er ja auch gar nicht vor, irgendein Hehl daraus zu machen, vielmehr wollte er – in Hinblick auf seine zukünftige Kundschaft – den Nimbus nützen, der sich aus seinem Wechsel von der Pornographie zur Strickware ergeben konnte. Darum also…

»Ich war im Pornogeschäft tätig. Als Schauspieler.«

»Schauspieler?« fragte Lou, als frage sie einen Müllmann, ob er tatsächlich behaupte, einen Lehrstuhl am Institut für Bodenkultur innezuhaben.

»Sie verlangen hoffentlich nicht«, meinte Lorenz, »daß ich mich dafür geniere.«

»Wie? Sind Sie etwa stolz darauf?«

»Da war nichts Abartiges dabei.«

»Ach nein?« höhnte Lou. »Ist es denn normal zu nennen, sich vor eine Kamera hinzustellen und…ich bin nicht Poet genug, um das zu beschreiben und dabei den Eindruck zu vermeiden, ich würde von der ekelhaftesten, schmierigsten Sache der Welt sprechen.«

Ganz offenkundig war Lou Bilten kein Fan der Pornographie. Gleich wie konventionell selbige gestaltet war. Nun gut, das brauchte Lorenz nicht zu überraschen. Viel wichtiger war Sera. Aus dem Augenwinkel heraus versuchte er, ihre Reaktion zu erkunden. Doch da war nichts festzustellen. Wenigstens schien sie besagter Umstand nicht zu schockieren.

Es war wieder Lou, die sich meldete, während sie irgendein Insekt an ihrem nackten, feuchten Arm totklatschte: »Wie kommt man dazu, einen solchen Job zu machen? Wie groß muß die Not sein?«

»Nicht so schlimm. Ich brauchte Geld, und dann bin ich hängengeblieben. Das übliche Schicksal im Beruf. – Was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«

»Das geht Sie nichts an. Schon gar nicht möchte ich, daß Sie meine Tätigkeit irgendwie mit der Ihren vergleichen. Ich gehöre nicht zu den blöden Kühen, die sich dazu hinreißen lassen, die Pornographie zu verharmlosen. Von wegen ›Männer können nicht anders‹.«

»Ihr Ekel ist Ihre Sache. Sie wollten wissen, was ich früher gemacht habe. Und ich habe es Ihnen gesagt. Tut mir leid, daß ich kein Sozialarbeiter bin.«

Das war ein bißchen geraten und ein bißchen geschätzt. Für Lorenz – der ja auch gerne in Klischees dachte – entsprach Lous Aussehen, diese gewisse Verwahrlosung der Körperform und Stillosigkeit der Kleidung bei einem gleichzeitigen Überangebot kosmetischen Mobiliars, nun, es entsprach seiner Vorstellung von einer weiblichen Person im öffentlichen Dienst. Und das Harsche ihres Auftretens, diese ganz prinzipielle Unfreundlichkeit sowie der Anstandsreflex, ließen auf eine langjährige Tätigkeit im sozialen Bereich schließen. Nicht an der Front, nicht auf der Straße, sondern im Büro, wo ein breiter Hintern einen guten Platz fand, wo man die Leute warten lassen konnte, bis sie schwarz wurden und sie endlich in der Lage waren, ihre Anträge richtig auszufüllen und im richtigen Zimmer abzugeben. Das war Lou: eine Kanone hinter dem Schreibtisch, ein Mörser des Sozialstaats, spießig, kleinkariert, bigott wie alle Altachtundsechziger, sich freilich für exklusiv haltend, für intelligent und aufgeklärt. Vor allem aber: häßlich um der Häßlichkeit willen, als sei es irgendwie achtbar, besonders fett oder besonders mager zu sein und lange, wallende Gewänder zu tragen, schreckliche Kurzhaarfrisuren, dicke Lidschatten, gewaltige Ketten aus clowneskem Modeschmuck und immer diese Schlapfen, diese Gesundheitsschuhe, und immer diese Greif-mich-nicht-an-Pose, als wollte irgend jemand solche Weiber angreifen.

Ja, Lorenz hatte seine Vorurteile. Selbstverständlich.

Er ließ den Sozialarbeiterhinweis noch ein wenig wirken und wandte sich dann Sera zu: »Sie sagen mir aber schon, was Sie tun, oder? Wenn Sie nicht gerade Ihren Garten pflegen, diesen Zauberwald.«

Lou entließ ein verächtliches Schmatzen. Sera dagegen meinte, daß das exakt der richtige Begriff sei, Zauberwald, trotz der geringen Größe des Grundstücks. Denn was wäre ein Zauber auch wert, würde er eine ganze Parkanlage benötigen? Sodann erklärte sie: »Sie werden lachen.«

»Worüber?«

»Über meinen Beruf.«

»Darf ich raten? Sie retten Menschen.«

»Hin und wieder.« Sie verschränkte ihre Arme zu einer gefälligen Schleife. »Ich betreibe ein kleines Büro zur Heiratsvermittlung. Klein, nichtsdestotrotz erfolgreich. Erfolgreich, was meine Kundschaft betrifft.«

»Sie entschuldigen schon, aber das sagen wohl alle in diesem Gewerbe.«

»Da haben Sie schon recht. Obwohl die Wirklichkeit meistens eine traurige ist. Die wenigsten Partnerschaften funktionieren. Ich mache da niemandem etwas vor. Was anderes ist es, wenn sich zwei Menschen zufällig über den Weg laufen, um dann glücklich oder unglücklich zu werden. Die Institute jedoch versuchen zu steuern, was nicht zu steuern ist. Also verzichte ich darauf und arbeite mehr intuitiv. Ich bringe Personen zusammen, nicht weil sie zusammenpassen. Es wäre lächerlich, zu meinen, eine Nichttrinkerin würde sich am ehesten in einen Nichttrinker verlieben, ein Katzenfreund in eine Katzenfreundin, Kunstsammler in Kunstsammlerinnen. Da glaube ich eher das Gegenteil.«

Mein Gott, dachte Lorenz, die Frau kann richtig reden. Er merkte schon, daß es zwei große Themen für Sera Bilten gab: das Heiraten der anderen und die Arbeit an ihrem Zauberwald.

»Soll das heißen«, fragte Lorenz, »daß, wenn Sie einen Kunstsammler haben, für ihn eine Kunsthasserin suchen?«

»So einfach geht es leider auch wieder nicht«, erklärte Sera, deren Lippen wie zwei langgezogene Herzen sachte aufeinanderschlugen. »Es kommt dabei auf die spezielle Art der Kunstliebe und des Kunsthasses an. Es gibt eine Art Liebe und eine Art Haß, die sich wunderbar ergänzen. Durchaus wie ein Pfeil und eine Zielscheibe, wobei ja niemand behaupten wird, Pfeil und Scheibe seien sich ähnlich. Verschiedener können Gegenstände gar nicht sein. Und dennoch bilden sie eine Einheit. Auf den Kunstliebhaber und die Kunsthasserin übertragen: Der eine ist das Ziel, in dem der Pfeil des anderen landet.«

»Und wer ist wer?«

»Das ist eine Frage der Macht, der Aktivität, der…ich sage das jetzt so: der Freude am Töten und der Freude am Getötetwerden.– Sie verstehen, ich meine das im übertragenen Sinn. Ich will nicht von Masochismus und Sadismus sprechen, das sind unschöne Worte, aber es hat etwas für sich, wenn der eine gerne leidet und der andere gerne Leiden zufügt. Das muß nicht gleich in Demütigung und Schmerzen ausarten.«

»Kann man darauf auch verzichten?«

»Sie meinen auf das Ungleichgewicht, welches das Gewicht bildet?«

»Sie drücken die Dinge ziemlich idealistisch aus.«

»Das muß ich wohl«, sagte Sera. »Angesichts meines Berufs drängt sich Idealismus auf. Trotzdem bin ich nicht blind für die Wirklichkeit. Es wäre schädlich, das Prinzip der Macht außer acht zu lassen: Pfeil und Zielscheibe. Denn was bringt es, wenn beide, Mann und Frau, jeder ein Pfeil sind, also ein Schütze? Dann stehen sie nebeneinander, spannen ihre Bögen, fühlen sich großartig gleichberechtigt, beide konzentriert, beide Jäger… Leider fehlt jetzt eine Zielscheibe. Und die sucht man sich dann. Man nennt das Fremdgehen. – Der Kunstsammler braucht einen Widerpart, nicht jemanden, der ihn versteht. Er versteht sich schon selbst zur Genüge. Es ist ihm eher unangenehm, wie gut er sich versteht und wie gut er von anderen verstanden wird, von Leuten, die seine Leidenschaft teilen und denen nichts lieber wäre, als wenn er sterben würde, damit sie über seine Kunstsammlung herfallen können.«

Lorenz versetzte seinen Kopf in eine diagonale Position und gab einen anerkennenden Ton von sich. »Das hat etwas für sich.«

Von rechts aber kam Lous dunkle Stimme dahergerauscht: »Das fehlt jetzt noch, daß Sie sich meiner Schwester andienern.«

»Ich dienere nicht. Ich überlege bloß. Mich erinnert das Ganze an die Geschichte eines Freundes.«

»Verschonen Sie uns damit«, sagte die letzte Raucherin und griff nach ihrer Marlboro-Packung, auf welcher sich Lorenz eine Aufschrift wünschte wie: Du fettes Schwein, wir bringen dich ins Grab! Versprochen!

»Sei nicht so grausam zu Herrn Mohn«, sagte Sera ruhig. Man merkte, es lag eine große Kraft in ihrer milde vorgetragenen Bitte. Etwas, das Lou einschüchterte. Denn so mächtig Lou auftrat und sosehr sie auch spöttische Bemerkungen zu Seras Zauberwald abgab, war sie dennoch ein hierarchischer Menschentypus, der das Übergeordnete unbedingt akzeptierte. Und Sera schien dieses Übergeordnete in gewisser Weise zu verkörpern. Ja, man konnte sich vorstellen, daß die kleine Schwester die große Schwester bestens im Griff hatte. Genau so, wie sie ihre Kundschaft im Griff hatte, heiratswillige Bogenschützen und heiratswillige Zielscheiben.

Sera gab Lorenz ein Zeichen. »Sie wollten von einem Freund erzählen.«

»Es ist einige Zeit her«, begann Lorenz. »Und es ist eine Geschichte, die zeigt, wie schlecht das laufen kann, so eine Heiratsvermittlung nach herkömmlicher Art. Wenn man Leute sucht, die gut zusammenpassen: Nichtraucher, sportlich, modebewußt, Kinderwunsch, asiatische Küche, Designermöbel, Designerbrillen, Rotwein, Bier nur im Freien, Italien nur im Landesinneren, Fernsehen nur bei Arte, solche Dinge eben. Man kann sich das ja vorstellen. Sein Name war Fritz. Ihr Name war Sheila. Vielleicht hätten sie weniger auf ihre gemeinsame Vorliebe für Rotweine als auf ihre Namen achten sollen. Von wegen zusammenpassen. Fritz und Sheila klingt wie Oswald und Kennedy. Jedenfalls haben sie sich über ein Institut kennengelernt, gleich beim ersten Versuch, weil ihre Interessen gar so nahe beieinanderlagen. Sie sich aber auch bestens ergänzt haben, wie es hieß.«

»Wer hat das gesagt?«

»Das Institut. Aber natürlich haben die zwei es genauso empfunden.«

»Beide gutaussehend?«

»So ziemlich.«

»Das macht es immer schwierig«, erklärte Sera. »Die Gutaussehenden, die Gutsituierten und die Gebildeten verstehen das Prinzip des verbindenden Widerspruchs überhaupt nicht. Sie stecken in ihrer Kategorie und ihrer Klasse fest und halten das sogar für ein Glück. Wenn jemand hübsch ist, empfehle ich unbedingt, nach jemand weniger Hübschem Ausschau zu halten. Man kann keine Symbiose bilden, wenn beide eine Alge sind oder beide Goethe heißen.«

»Das würde Fritz heute sicher unterschreiben«, meinte Lorenz. »Könnte er noch schreiben.«

»Ist er denn tot?« fragte Sera.

»Nein, aber schreiben kann er trotzdem nicht. Nicht mehr. Dabei hatte er einmal eine wirklich schöne Handschrift, originell und trotzdem leserlich. Bei Handschriften ist das geradezu ein Wunder. Auch seine Handschrift wurde von den Heiratsvermittlern als Indiz dafür gewertet, wie gut er zu Sheila paßt. Irrsinnig!«

Lorenz berichtete, wie Fritz und Sheila vor nun fünfzehn Jahren, fürsorglich betreut von jenem Institut, sich begegnet und sehr bald darauf den Bund der Ehe eingegangen waren. Ihr Pech war es nämlich gewesen – obgleich beide modern und der Kirche untreu –, in eine Phase beginnender Eherenaissance geraten zu sein. Der Begriff des Lebensabschnittsgefährten hatte zu dieser Zeit nur noch widerlich und deprimierend geklungen, als rede man von Fertigpizza oder Sachertorte aus der Tiefkühltruhe, und wie schon erwähnt waren Fritz und Sheila Anhänger der gehobenen asiatischen Küche gewesen. Darum also Heiraten.