16 | Im Haus des Jägers

Rorschachs Domizil lag völlig isoliert in der kleinen Bucht eines leicht ansteigenden Waldrands, selbige Bucht ausfüllend. Eine alte Villa, man könnte sagen, ein zur Villa mutiertes Knusperhäuschen mit mehreren spitz zulaufenden Türmen, als wollte das Gebäude den umgebenden Wald imitieren, sich tarnen. Aus den Fenstern strahlte altes Licht. Was ist altes Licht? Na, das Gegenteil von neuem Licht.

Um das zu begreifen, mußte man in das Haus hinein. Mußte die Räume sehen, das Holz an den Wänden, die hohen, rustikalen, grüngekachelten Kamine, die Polstermöbel, die geeignet schienen, nicht nur Geräusche, sondern ganze Personen oder wenigstens Haustiere zu verschlucken. Die Bücherwände, die Hirschgeweihe, die Teller in den Regalen, die Pokale in den Vitrinen, die langen Teppiche, das Fehlen moderner Formen und moderner Farben. Dazu der Geruch der Jahre, der Geruch des Waldes, der Holzscheite, der getrockneten Pilze, dieser ganze Koboldgeruch, der Geruch von Ameisen und Käfern und Spinnentieren, die dieses Gebäude trotz aller Sauberkeit bevölkerten. Und nicht zuletzt eben das Licht, das durch die Schirme der Stehlampen und von den hohen Lustern strömte. Altes Licht, ein bißchen erschöpft vom vielen Strahlen, vom vielen Anleuchten der Gegenstände und Personen. Licht von gestern. Wie Brot von gestern. Aber so, wie auch Brot von gestern einen satt macht, war dieses alte Licht durchaus geeignet, die Dinge sichtbar werden zu lassen. Ohne sie freilich gleich nieder- oder gar bewußtlos zu strahlen, wie neues Licht das gerne macht.

Passend zu diesem rustikal-großbürgerlichen Ambiente, erschien nun eine Hausdame vom alten Schlag. Eine schlanke, feinnervige, spitznasige, strengäugige und sehr aufrecht dastehende Person, ungeschminkt, mit Lippen, wie Kinder sie zeichnen, wenn sie versuchen, den Tod darzustellen. Die grauen Haare waren zu einem festen Knoten zusammengebunden, ihre schmalen Hände vor dem Unterleib gekreuzt. Sie grüßte Rorschach so kalt, wie es die Höflichkeit gerade noch zuließ, sodann die beiden Gäste. – Es soll hier nicht gesagt sein, daß diese Frau ein alter Nazi war, nur weil sie wie ein solcher aussah.

Rorschach richtete sich fragend an Stirling und Lorenz: »Haben die Herren Hunger?«

Nun, die Brötchen im Bischöflichen Palais waren ziemlich klein gewesen.

»Seien Sie so lieb, Frau Brüel, und richten Sie uns eine Kleinigkeit.«

»An welche Kleinigkeit dachten Sie?« fragte Frau Brüel, ohne die Kinderzeichnung in ihrem Gesicht zu bewegen.

»Das überlasse ich Ihrer Phantasie«, meinte Rorschach gelassen.

Frau Brüel spendete ihm einen giftigen Blick, wandte sich um und verließ den Raum.

»Unheimlich, die Frau«, kommentierte Lorenz.

»Sie beherrscht dieses Haus«, erklärte Rorschach. »Und sie vergöttert Mai. Es ist wie im Film. Sie haßt mich, weil sie meint, Mai hätte etwas Besseres verdient. Und keine Frage, das hat sie ja auch.«

Stirling und Mohn waren etwas beschämt ob dieser Aussage. Darum waren sie ja nicht hier, um derartiges in Erfahrung zu bringen. Weshalb sie sich nun der Einrichtung zuwendeten, den Büchern und Geweihen, die die Wände schmückten. Rorschach betonte, daß beinahe alles in diesem Haus noch von den Vorbesitzern stamme. Er selbst sei kein Jäger. Schon gar nicht Mai. Gleichwohl hätten sie es so gelassen.

»Merkwürdig«, kommentierte Rorschach die eigene Äußerung. »Wir hatten nie das Bedürfnis, etwas zu ändern. Vielleicht, weil alles so perfekt paßt. Häßlich, jawohl. Aber eben perfekt häßlich. Dazu kommt, daß diese Einrichtung so gut mit unserer Frau Brüel harmoniert. Und wie ich schon angedeutet habe, ist Frau Brüel sakrosankt. Eher schickt mich meine Frau zum Teufel.«

Wenig später erschien die sakrosankte Person und stellte ein Tablett mit Wurst und Brot und Käse auf den Tisch. Dazu Teller und Besteck. So einfach wie präzise. Bestes Brot, beste Wurst, bester Käse. Doch null Schnickschnack.

»Danke, Frau Brüel«, sagte Rorschach. »Ich denke, wir haben jetzt alles.«

»Dann kann ich mich zurückziehen?« stellte die Frau eine Frage, die keine war.

»Natürlich, Frau Brüel.«

Meine Güte, wie das alles klang. Na, es klang nach altem Licht.

Man saß also zu dritt zusammen, verspeiste so einfache wie ausgezeichnete Wurst- und Käsebrote, wechselte anschließend zum Cognac und unterhielt sich noch ein wenig über Urvögel und Schubert-Lieder, über die alte Villa und das Leben in Eichstätt, das ganz eigenen Gesetzen zu folgen schien. Die Welt war anderswo. Auch Deutschland war anderswo. Man konnte den Eindruck bekommen, daß sich Rorschach wie ein Gefangener in einem bösen Märchen fühlte. Dies wiederum nicht ohne Lust.

Und ein wesentlicher Grund für diese Lust stand nun mit einem Mal in der Zimmertür: Mai Hillsand. Ohne Klavierbegleiter und ohne Kardinal wirkte sie noch schöner als zuvor. Lorenz Mohn erhob sich augenblicklich. Stirling folgte nach.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, meine Herren«, sagte Mai. Wenn sie sprach – und das war wirklich ein Wunder –, dann eben nicht auf diese outrierte, blödelartige Weise der meisten Sängerinnen klassischer Musik, deren Redestil dem Gehstil von Gewichthebern vergleichbar ist, dem Gehen mit überbreiten Oberschenkeln. Bei Hillsand war das anders. Keine Oberschenkel. Sie sprach klar und ungekünstelt. In dieser Hinsicht eher an die Käsebrote erinnernd.

Rorschach stellte seine beiden Gäste vor.

»Polizei?« staunte Hillsand.

»Es geht um einen…« Stirling zögerte. »Ja, man kann sagen, einen Kollegen aus der Paläontologie, der ermordet wurde.«

»Aha. Und man verdächtigt also meinen Mann?«

»Nein, das tun wir nicht.«

»Schade eigentlich«, meinte Mai Hillsand und ließ sich in einem Fauteuil nieder.

»Wieso das?« fragte Stirling.

»Ein Verbrechen würde Max sicher guttun. Ich meine, es würde ihm ein wenig Ausstrahlung verleihen.«

»Pardon, damit können wir nicht dienen«, sagte Stirling. »Herr Rorschach hilft uns nur, den Toten etwas besser kennenzulernen.«

»Da kann man nichts machen«, meinte Hillsand. Sie schien ehrlich enttäuscht.

Es zeigte sich in der Folge, daß das Ehepaar Rorschach & Hillsand nur noch in einer zynischen Weise miteinander kommunizierte. Sie gehörten zu jenen Menschen, die sich in tiefer Verachtung verbunden waren.

Für Unbeteiligte ist so etwas immer ein Problem. Was soll man tun? Partei ergreifen? Vernunft einfordern, wo die Vernunft barfuß über Glasscherben laufen muß? Sich amüsiert geben? Streng sein?

Nun, man kann auch die Flucht antreten. Das tat Stirling jetzt, indem er äußerte, nach einem langen Tag rechtschaffen müde zu sein.

»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, sagte Rorschach und erklärte, sich danach in sein Labor zu begeben und eine Untersuchung des ominösen Steins vorzunehmen.

»Was für ein Stein?« wollte Mai wissen.

»Kein Stein wie du. Eher ein Stein, der lebt«, sagte Rorschach und erhob sich.

»Sehr originell!« höhnte Mai. »Das würde dir passen, einen Stein zum Leben zu erwecken. Damit du endlich jemanden hast, mit dem du spielen kannst.«

Was auch immer sie damit sagen wollte, Rorschach tat es mit einem Achselzucken ab und gab Stirling zu verstehen, ihn hinauf zu den Gästezimmern führen zu wollen.

Eigentlich wäre es angemessen gewesen, daß Lorenz die Möglichkeit genutzt hätte, sich ebenfalls zurückzuziehen. Aber er blieb sitzen. Er war noch immer viel zu sehr von der Präsenz der großen Sängerin beeindruckt. Er konnte jetzt nicht gehen.

»Gute Nacht«, wünschte Rorschach, wie man wünscht: Ab morgen möchte ich Witwer sein.

So blieben Mai und Lorenz alleine zurück. Mai wechselte die Position ihrer übereinandergeschlagenen Beine und nahm sich eine Zigarette. Eine rauchende Schubert-Sängerin war schon etwas Unerhörtes heutzutage.

Lorenz kam herüber und gab ihr Feuer. Dann setzte er sich wieder und sprach: »Darf ich das sagen, Frau Hillsand, wie wunderbar es war, Ihnen heute zuzuhören?«

»Das darfst du. Und du darfst zwischen meine Beine kommen«, bewies die große Sängerin einen gewissen Hang zum Direkten.

»Bitte?«

»Wenn du nicht willst, bringt mich das auch nicht um. Aber du gefällst mir. Was trotzdem kein Grund ist, jetzt noch zwei Stunden um die Sache herumzureden. In zwei Stunden bin ich todmüde und will nur mehr schlafen. – Also, was ist?«

Lorenz war erstarrt. Erstarrt im Angesicht einer quasi pornographischen Konstellation, wie er sie zwar aus eigener Erfahrung kannte, aber eben auch nur aus dem Film. Nichts jedenfalls, wonach er sich sehnte. Einerseits. Andererseits empfand er ein tiefes Verlangen nach dieser Frau, die keine drei Meter von ihm entfernt saß und sicher nicht ewig warten würde, bis er sich bequemte, ihrer Einladung zu folgen. Lorenz spürte, daß es auf Sekunden ankam. Daß eine Frau, die schließlich ein Gott war (nicht eine Göttin, das ist etwas anderes), mit derselben Leichtigkeit, mit der sie ihn aufgefordert hatte, »zwischen ihre Beine zu kommen«, sich erheben, ihn stehenlassen und ohne weiteren Kommentar aus dem Raum verschwinden könnte.

Lorenz löste sich von seinem Sessel. Mai, die zwischenzeitlich einen schwarzen Rock trug, schien ihr Angebot vollkommen wörtlich gemeint zu haben, denn sie rutschte ein wenig nach vorn und schob ihre langen Beine so auseinander, daß der Rock sich spannte und eine tunnelartige Röhre bildete.

Natürlich dachte Lorenz an Sera. Dachte daran, daß er Sera heiraten wollte. Aber das hier war etwas anderes. Nicht bloß darum, weil er ja Mai Hillsand niemals würde heiraten können. Nein, was sich da anbahnte, stand fern des Vergleichbaren und Bewertbaren, sondern es geschah in einer außerordentlichen Nische, man könnte sagen, auf einer Insel in der Mitte des Ozeans, gleichzeitig zentral und entlegen. Gleichzeitig wirklich und unwirklich. Gleichzeitig Sakrament und Sakrileg.

Nun, zumindest war das eine Interpretation, die es Lorenz ermöglichte, sich auf diese Frau zuzubewegen, ohne sich vorhalten zu müssen, jetzt gleich einen Betrug an seiner Geliebten zu begehen.

Er kniete sich vor Mai hin, faßte ihre bestrumpften Knie, schob seine Daumen unter den Saum des Rocks und führte denselben rumpfwärts. Dann griff er nach den dünnen Bändern ihres Slips, Mai hob ihr Becken an, und Lorenz zog den Slip in einer fließenden Bewegung über die Beine.

Mai öffnete ihre Lippen wie ein Auge, das nach einem langen Schlaf durch die schmale Spalte der Lider blinzelt. Ihre Stimme war jetzt weich und duldsam, als sie sagte: »Komm!«

Genau das tat Lorenz, er kam zu ihr. Ohne Scheu, aber auch ohne die geringste Heftigkeit. Ganz im Stil eines guten Gesprächs, wenn keiner den anderen unterbricht.

Mai und Lorenz blieben bei alldem angezogen. Mai unterließ es sogar, ihre Bluse aufzuknöpfen. Weshalb wiederum Lorenz darauf verzichtete, nach ihrer Brust zu greifen. Es kam nicht einmal zu einem Kuß. Selbst der wäre unpassend gewesen. Ein Kuß von Mund zu Mund hätte eine Vertrautheit hergestellt, die sich nicht gehörte. Nicht zwischen einem Gott und einem Menschen. Nein, es war schon richtig so, daß Lorenz sich ausschließlich darauf konzentrierte, mit seiner Zunge über Mais Geschlecht zu streifen und sie in einer wellenförmig ansteigenden Weise dorthin zu bringen, wo eine Frau, auch wenn sie ein Gott war, hinwollte: zu einem Orgasmus, der dieser Frau ganz alleine gehörte, der niemandem nutzte außer ihr selbst. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Männer meinen, sich an einem solchen Orgasmus beteiligen zu müssen, wollen ihn dramatisch heraufbeschwören, versuchen ständig, die eigene Person in Erinnerung zu bringen. Nicht so Lorenz, dessen gefühlvolles Agieren ohne Gefühl blieb, ohne Ausrufezeichen, ohne Hybris, ohne Ornament. Ornament und Sex vertragen sich nicht so gut, das wußte er, gerade weil er so viel damit zu tun gehabt hatte. Er wußte um die Fehler und konnte sie vermeiden, wenn dies gewünscht war. Und es war gewünscht.

 

Im Haus des Jägers

legt sich Staub auf die Dinge.

Ein Gott lacht.

 

Als es Mai kam, schlug sie das Auge ihres Mundes weit auf und entließ einen Ton. Nicht etwa einen Schrei oder ein gesprochenes Wort, nein, einen Ton, der wie ein langes Band funktionierte, ein Band, das eine Schleife um die Luft zog, sodaß diese Luft, diese vom altem Licht beschienene Luft, für einen Moment einen feierlichen und geschenkartigen Eindruck machte. Und sosehr Mai mit ihrem Orgasmus ganz alleine war, so war dieses Geschenk dennoch – dieser eine lange Ton – für Lorenz bestimmt. Das spürte er. Und seine Dankbarkeit war grenzenlos. Grenzenlos und stumm.

Er löste sein Gesicht von ihrem Geschlecht und ging in die Höhe. Mai Hillsand richtete sich in ihrem Fauteuil ein wenig auf, schob sich den Rock wieder über die Schenkel und griff nach ihrem Slip, den sie aber in der Hand behielt. Dann sah sie zu Lorenz auf, betrachtete ihn mit ihren fein geschwungenen Raumschiffaugen und fragte: »Was ist? Meinst du, ich sing dir jetzt ein Lied?«

»Wohl kaum«, sagte Lorenz. Er lächelte. Dann wünschte er eine gute Nacht und verließ den Raum.

Über eine breite Treppe stieg er nach oben. Er sah Licht, das durch eine offene Türe fiel. Er betrat den Raum, in dem ein breites, frisch überzogenes Bett stand. Er schloß die Türe hinter sich und trat ans Fenster. Er fühlte sich gut und schlecht zugleich. Gut wegen Gott, schlecht wegen Sera. Aber manche Dinge gehen eben nur schwer zusammen. (Er kam übrigens in keinem Moment auf die Idee, daß das, was er hier getan hatte, vielleicht doch so etwas wie eine insgeheime Rache gewesen war, Rache, welche darin begründet lag, daß Sera ihm die Wahrheit verschwiegen hatte, indem sie mit keinem Wort erwähnt hatte, einst mit einem Mann namens Nix verheiratet gewesen zu sein.)

Lorenz verzichtete darauf, das kleine Badezimmer zu benutzen. Man hätte meinen mögen, daß er, weil er zwischen den Beinen einer der größten Schubert-Sängerinnen aller Zeiten gewesen war, sich nie wieder das Gesicht waschen wollte. Vielleicht jedoch war er einfach nur erschlagen vom Tag und den Ereignissen. Er zog sich aus, legte sich nackt aufs Bett und schlief im goldgelben Schein nicht nur alten, sondern sogar sehr alten Lichts auch sofort ein.