26 | Afrika

Ist es bloß Ähnlichkeit?

Es geschieht, als ich gerade eben an der alten Wirtshaustheke stehe und mich mit einem berühmten Arzt unterhalte, der sich im Alter zum Naturheilkundler und Hobbyschamanen gewandelt hat. Die im Alter Gewandelten sind immer die schlimmsten, absolute Radikalinski, verstehen keinen Spaß und wollen eine unrettbare Welt retten. Wenn sie Raucher werden, verpesten sie alles mit ihrem Rauch, wenn sie Nichtraucher werden, alles mit ihrem Nichtrauch.

Während also der Herr Primar – so nennen sie hier ihre Chefärzte – von Energieströmen und Staudämmen und der ganzen körpereigenen Wasserwirtschaft palavert, bemerke ich den Mann, der in diesem Moment zur Türe hereinkommt und nun etwas verloren im Eingangsbereich steht. Boris, einer unserer pseudoschwulen Kellner, tritt an ihn heran. Aber es sieht so aus, als würde der neue Gast Boris gar nicht wahrnehmen, vielmehr schaut er an Boris vorbei in den Raum hinein. Boris wartet.

Wenn ich nicht ganz falsch liege – mein Gott, wie gerne würde ich jetzt falsch liegen! –, dann ist dieser Mann derselbe, der schlafend in genau jenem Bett gelegen hatte, das mir als das passende erschienen war, um darunter die Leiche des Bäckers Nix zu verstauen. Damals vor…eine ganze Menge Jahre ist das jetzt her, jedenfalls war ich zu dieser Zeit das erste Mal in Wien gewesen, nicht ahnend, wie sehr diese Stadt in Zukunft mein Leben bestimmen sollte.

Ich denke oft an Botnang. Dort war ich geborgen. Echt geborgen. Nicht wie hier, wo ein Gefühl der Geborgenheit allein daraus hervorkeimt, daß jemand anders sich nicht geborgen fühlt. Das Glück in Wien ist zutiefst asozial. Jede Freude, jeder Erfolg bedingt die Trauer und den Mißerfolg eines anderen Menschen. Fast wie bei einem Naturgesetz oder einer mathematischen Gleichung. Was logisch dazu führt, daß keiner die eigene Bösartigkeit als solche empfindet, sondern bloß als ersatzloses Mittel zum eigenen Glück. Die Leute behaupten: »Würde es mit Liebe gehen – gerne, sofort! Aber es geht nun mal nicht mit Liebe.«

Keine Frage, auch anderswo sind Menschen böse und eitel und hinterlistig, sogar im vom Gott gesegneten Land der Schwaben oder auf der Insel Titiwu, doch an keinem Platz der Welt mit einer solchen Selbstverständlichkeit wie in Wien, ja man könnte sagen: Kultiviertheit. Anderswo trifft man den Teufel im Hinterzimmer, im Geheimbund, im Bereich der inoffiziellen Zirkel, hier aber sitzt er mit allen am Tisch, beim Frühstück wie beim Abendessen, nicht nur als Gast, sondern als Mitglied der Familie. Familie ist Schicksal, postuliert der Wiener und meint ergänzend: Den Teufel kann man sich nicht aussuchen.

Aber auch wenn das so ist, und es ist so, darf ich mich dennoch nicht beschweren. Meine Position in dieser Stadt ist exzellent. Die Leute achten mich, als wäre ich selbst der Teufel. Dabei führe ich lediglich ein Restaurant. Allerdings eines mit dem Status eines Tempels, und zwar nicht bloß eines Freßtempels. Man könnte meinen, unter dem Wirtshausboden sei der Wurm aller Würmer begraben und als würden die besseren Leute sich noch viel, viel besser fühlen, waren sie erst einmal in der Nähe dieses begrabenen Wurms.

Als Boris den neuen Gast an seinen Tisch geführt hat, rufe ich ihn zu mir. Gemeinsam sehen wir in der Reservierungsliste nach. Da steht es: Lorenz Mohn.

Boris meint, er hätte den Typen noch nie gesehen und wüßte auch nicht, wer das sei.

Nun, ich weiß es leider ganz gut. Ja, Lorenz Mohn ist tatsächlich der Mann, der vor Jahren das Geschäftslokal der ehemaligen Bäckerei Nix übernommen hatte – einschließlich des Raums, in dem Nix auch nach der Kündigung des Mietvertrags mit seinen echten und unechten Fossilien zugange gewesen war. Man hatte Mohn verdächtigt, Nix getötet zu haben. Aber so blöd war nicht einmal die Wiener Polizei gewesen, einen Mann überführen zu wollen, dessen Schuld einzig und allein darin bestanden hatte, sich ins falsche Bett gelegt zu haben. (Wobei ich erwähnen muß, daß die Ermittlungen in erster Linie von einem jungen Griechen geführt worden waren.)

Schön und gut, das ist einige Zeit her. Und im Grunde braucht es nicht zu irritieren, daß es im Laufe der Jahre mal vorkommt, daß man sich über den Weg läuft. Ich, der wahre Mörder, und Mohn, der doch die Zusammenhänge gar nicht ahnen kann. Allerdings beantwortet das die Frage nicht, was er hier, im Prinzipal, verloren hat. Er ist keiner von den Reichen und Prominenten. Zudem ist es eigentlich unmöglich, auf die Reservierungsliste zu gelangen, wenn nicht ich persönlich es vorher absegne. Oder Claire, von der ich meine diesbezüglichen Anweisungen erhalte. Ja, Claire…!?

Verdammt, Claire!

Wir werden sie heute töten. Wobei ich der letzte bin, der das möchte. Ein Scheißbefehl ist das. Von ganz oben. Die auf X spinnen. Es herrscht dort neuerdings ein rabiates Gehabe, eine Exekutionsmentalität. Ein vehementes Bedürfnis, Köpfe rollen zu lassen. Beziehungsweise mittels des Rollens fremder Köpfe die eigenen Köpfe zu retten. Man könnte sagen: Eine Verweltlichung von X geht vonstatten. Wir, die wir uns den Menschen so überlegen fühlen und an denen wir bloß unseres Problems mit den Vögeln wegen ein gewisses Interesse entwickelt haben, wir werden ihnen, vor allem ihren Anführern, immer ähnlicher. Ja, die dort oben auf X meinen es ernst mit dem Köpferollen. Sie wollen, daß Claire liquidiert wird. So in der Art von Ritschratsch! und Punktum! und Deckel drauf!

Dabei ist nicht einmal klar, was wirklich geschehen ist. Wieso es jener Besatzung, die vor sieben Jahren in einem von Wasser angetriebenen und von Strudeln zusammengehaltenen Raumschiff in den Morgenhimmel über Mount Hood stach und eine Reise quer durch unser bisolares System antrat, wieso es ihr nicht gelungen ist, die auftragsgemäße Zerstörung der amerikanischen Plutosonde zu bewerkstelligen. Im Grunde eine Kleinigkeit, als wollte ein intelligentes Wesen einen Lego-Roboter demolieren. Doch das stärkste Merkmal von Intelligenz ist noch immer ihre Fehleranfälligkeit. Die moderne Technik definiert sich geradezu über ihre Mißgeschicke. Jedenfalls scheint es, als hätten sich die »intelligenten Wesen« kräftig verspekuliert. Man hat das Ziel verfehlt. Und keine Chance, das Mißgeschick auszubügeln. Denn die vorrangige Aufgabe dieser Mission besteht natürlich weiterhin darin, einen Vogel und einen Picasso in der Heimat abzuliefern und in der Folge die Welt auf X davor zu bewahren, im Vogeldreck unterzugehen.

Was nun auch immer der Grund war: NASAs Zwergplanetensonde ist nicht zerstört worden. Und darum haben die Menschen auf der Erde erfahren, daß dort oben etwas nicht ganz koscher ist.

Na und? frage ich. Was ist denn so schlimm daran? Schließlich dürfte es der Menschheit einige Schwierigkeiten bereiten, die gleichen Spielzeugroboter, die schon auf dem Mars gelandet sind, um dort mit der Umständlichkeit ferngesteuerter Toys’R’Us-Bagger die Frage nach Wasser mal so und mal so zu beantworten, jetzt auch noch auf Pluto abzusetzen. Nein, der Schaden ist wirklich nicht so groß. Kein Grund zumindest, jemanden auf diese fatale Weise zur Verantwortung zu ziehen.

Aber diese Irren tun es. Sie meinen, Claire müsse als die Schuldige herhalten. Obgleich es ja gerade sie gewesen ist, die entgegen meiner »Sabotage« den Start samt der wertvollen Ladung erst ermöglicht hat. Egal, das scheint nicht zu zählen. Vielleicht geht es auch um ganz andere Dinge, was nun ebenfalls auf eine Vermenschlichung der Mächtigen auf X hinweisen würde: diese Verbarrikadierung tatsächlicher Anlässe.

Es ist ein Unglück. Doch mein Befehl ist eindeutig. Ich soll die Tötung Claires veranlassen. Man bedenke: Ein Schöngeist wie ich, ein Mann, der am liebsten nichts anderes tun würde, als die Publikation neuer und alter Poesie zu fördern, ja, ein solcher »Mensch« ist dazu angehalten, sieben Jahre nach seinem ersten Mord, der immerhin noch ein wenig als Unfall gedeutet werden kann, nun einen weiteren zu begehen, diesmal in vollem Bewußtsein des Unsinnigen. Und nur, weil ein paar wichtige Leute auf X es so wollen, Leute, die ich nie zu Gesicht bekommen habe, von denen ich absolut nichts weiß, außer daß sie unglücklicherweise als meine Vorgesetzten fungieren. Leute, die lediglich sauer sind, weil man ihre blöden Wetterhäuschen auf Pluto entdeckt hat.

Heute abend wird es geschehen. Hier im Lokal. Denn um das Abstruse des Befehls noch zu steigern, soll der Mord an Claire ein getarnter sein. Es darf nicht offenkundig werden, daß der Anschlag ihr gilt, sondern muß so aussehen, als sei Claire bloß tragischer Part eines kollateralen Schadens. Auf daß nicht etwa die Wiener Polizei auf die Idee kommt, sich näher mit Claires Biographie zu beschäftigen.

Meine Güte, die da oben auf X haben nicht die geringste Ahnung von der Wiener Polizei! Was stellen die sich vor? Daß hier Supergehirne zugange sind, die nicht nur eins und eins zusammenzählen, sondern zudem komplizierte Logarithmen berechnen und am Ende Claires wahre Identität erkennen, um in der Folge sämtliche X-Agenten zu entlarven und auszuschalten? Ist es das, was die von der Wiener Polizei erwarten? Einer Polizei, die kaum in der Lage scheint, dem Hundedreck auf den Gehwegen Herr zu werden, ja die eine gewisse satirische Berühmtheit im karitativen Umgang mit dem Verbrechen erlangt hat. Bankräuber aus dem ganzen Universum sehnen sich nach einer solchen Polizei. Einer Polizei, deren Präsident jeden zweiten Abend bei uns im Lokal sitzt. Der Mann ist hirnlos wie eine Schreibmaschine aus alten Tagen, kann aber lange nicht so gut schreiben. Und dafür ein derartiger Aufwand? Um Blinde und Taube an der Nase herumzuführen, Schreibmaschinen, die nicht schreiben können?

Ich sehe auf die Uhr. In einer Stunde werden sie kommen, wichtige Leute, wie man so sagt. Leute, die eine Art Afrika-Club gegründet haben, dessen Slogan lauten könnte: Afrika den Afrikanern, jedoch unter chinesischen Vorzeichen. Schwarze, weiße, gelbe Unternehmer, und allesamt um einen Warenverkehr bemüht, der ohne Amerikaner funktioniert. Sollen die Amerikaner den Pluto erobern, aus Afrika hingegen möchte man sie verbannen. Es funktioniert einfach nicht mit ihnen. Es liegt an ihrer Sicht der Dinge, einer hinterwäldlerischen, die freilich mit einem hochmodernen Apparat daherkommt, und gar nicht so sehr an ihrer Kriegslust. Bekanntermaßen sind auch die Afrikaner ganz schön kriegslustig, wobei die Europäer bis heute gerne so tun, als hätte man es tatsächlich mit edlen Wilden zu tun. Wär’s nur so! Mehr wild als edel. Aber das gilt ebenso für die Amerikaner. Und genau darum plant man, sie aus Afrika zu verdrängen, weil man schließlich keinen verzerrten Spiegel der eigenen Unarten brauchen kann, sondern jene Ruhe und Besinnung, die diesen ganzen Kontinent aus seiner Besinnungslosigkeit herausführt.

Wenn es dabei nicht ganz ohne fremde Macht geht, dann schon lieber die chinesische, die gar nichts reflektiert. Das Chinesische ist kein Spiegel, sondern, bekanntermaßen, eine Mauer.

Um zehn Uhr kommen sie, die zwölf Clubmitglieder aus Afrika und Europa und China, begleitet von Claire, die wie ein eleganter großer Vogel ihre breiten Schwingen um dieses Nest aus den Freunden des »Herzens der Finsternis« breitet. Und in diesem Nest wird immerhin ein Mann sitzen, der auf der Todesliste der CIA steht. Ihm wird offiziell der Anschlag gelten, dem Claire, die hier alle Montbard nennen, zum Opfer fallen soll. So der Plan.

Ja, so der Plan. Und da marschiert nun ein Mann zur Tür herein, der hier nie und nimmer hereinmarschieren dürfte, der beim besten Willen nichts auf der Tischreservierungsliste dieses Lokals zu suchen hat. Bei dem es sich, wenn ich mich recht entsinne, um den Besitzer eines Strickwarenladens handelt, eines Ladens, der zu allem Überfluß den Namen Plutos Liebe trägt. Herr im Himmel, was soll das bedeuten?

Nun, alles, nur kein Zufall, fürchte ich. Und mir kommt der Gedanke, die Aktion abzublasen. Doch wenn ich das tue, gefährde ich mich selbst. Die auf X könnten meinen, ich versuchte, Claire zu schützen.

Ich habe etwas zu verlieren. Nachdem ich die ersten drei Jahre alleine in Wien gelebt habe und immer nur alle paar Wochenenden bei Maritta in Botnang gewesen bin, hat sie sich erweichen lassen und ist zu mir gezogen. Sie hat hier eine kleine Praxis eröffnet, nicht ohne täglich zu betonen, wieviel anstrengender die Wiener Patienten sich aufführen. Wiener Patienten, sagt sie, sind, wie anderswo auch, Ärzte ihrer selbst, aber sie suchen nicht eine medizinische Lösung, sondern einen medizinischen Streit, es scheint ihnen weniger um Heilung zu gehen als um Krankheit. Das ist ein Klischee, welches prächtigst gedeiht. »Diese Leute«, erklärt Maritta, »sind verliebt in ihre Krankheit. Und sie werden ganz verrückt, wenn man sie ihnen nehmen möchte.«

Und trotzdem, unser Leben in dieser Stadt ist ein gutes. Eine komfortable Villa, gut gelegen, ein paar Freunde, gemeinsame Spaziergänge, sonntags in die Museen, in die Konditoreien, in den grünen Prater, dort, wo unsere Lieblingskapelle steht, Mariagrün. Könnten wir noch einmal heiraten, dann in dieser kleinen Kirche. Mein Gott, das wäre eine Idee! Sich scheiden zu lassen, um erneut heiraten zu können, scheiden lassen, heiraten …

Wenn ich all das nicht verlieren will, muß ich das Ding durchziehen. Mit Ausflüchten werde ich nicht weiterkommen. Keine Chance. Durchziehen und diesen Mann dort drüben im Auge behalten.