19 | Rosa Periode

37,5°C.

Ich hasse es, krank zu sein. Man könnte natürlich meinen, diese winzige Kaskade erhöhter Temperatur eigne sich schwerlich, gleich von einer Erkrankung zu sprechen. Aber bereits ein paar Grad über dem »Erlaubten« beschert mir ein Gefühl höchster Schwächung. Von Gebrochenheit und Hinfälligkeit. Ein Gefühl des Todes. Ja, wenn man stirbt, so meine Vorstellung, wird man eigentlich nicht kalt, wie immer gesagt wird, sondern treibt vielmehr auf einer einzigen ansteigenden Fieberwelle, in einer kreiselnden Bewegung fortgesetzter Erhitzung ins Jenseits. Was immer dort warten mag. Die diesbezüglichen Vorstellungen sind auf X nicht viel einfallsreicher als auf der Erde. Dabei glaube ich gerne, daß es etwas gibt. Leider glaube ich genauso, daß man dort, wo man hingelangt, nicht direkt willkommen ist. Daß man in das Jenseits wie in ein fremdes Land gerät, in dem man eher stört. Ja, möglicherweise bedeutet das Jenseits für jeden von uns, zum ewigen Ausländer zu werden.

Maritta war gerade nach Hause gekommen. »Was bedrückt dich?« fragte sie. Als die Ärztin, die sie war, war sie selbstverständlich auch Spezialistin für Fieber oder auch nur halbes Fieber. Wenngleich keine Spezialistin für eingebildetes Fieber.

Ich sagte ihr, daß es mir schlecht gehe. Daß ich Fieber habe. Doch über die Höhe kein Wort.

Sie kam herüber, setzte sich auf die Lehne des Sofas, ließ sich ein Stück seitwärts fallen, sodaß sie mit ihrem Oberarm sanft auf meiner Schulter landete, und griff mir mit der freien Hand auf die Stirne.

»Du bist nicht heiß, Liebling. Das kann nicht sehr hoch sein, dein Fieber.«

»Ich bin trotzdem deprimiert«, sagte ich.

»Dann tun wir was dagegen. Willst du eine Tablette, Fernsehen oder Sex?«

Ich fand, Fernsehen wäre vielleicht das beste.

Maritta wirkte keine Sekunde beleidigt, sondern griff nach der Fernbedienung, preßte sich fest an mich und schaltete die Nachrichten an.

Ich mag Nachrichten, auch wenn von Katastrophen und Elend und Regen am Wochenende die Rede ist und die Äußerungen bedeutender Menschen wenig Anlaß geben, sich keine Sorgen zu machen. Trotzdem, die Nachrichten entspannen mich, sehr viel mehr, als wenn ich mir Filme ansehe und mit den Helden mitleide und im eigenen Hirn Verwirrung darüber besteht, ob man wirklich vor und nicht doch vielleicht im Fernseher sitzt, ebenfalls ein Gejagter oder Jäger, ebenfalls ein Gehetzter, welcher unglaubliche Dinge zuwege bringen muß, für die er – weder Schimpanse noch Fisch, noch Vogel – einfach nicht geschaffen ist. Nein, die Nachrichten tun mir gut, machen mich ruhig. Und wenn man krank ist, sollte man jede Aufregung meiden. Nicht zuletzt die Aufregung, die Fernsehserien über Traumschiffe und Traumhotels und Traumstrände mit sich bringen. Denn aufwühlender als jeder Thriller ist sicherlich die auf die Spitze getriebene Peinlichkeit. Wenn alternde sogenannte Publikumsstars den Herbst des Lebens zwischen Palmen oder Weinreben oder vor dem Hintergrund der Chinesischen Mauer zerreden, dann tut das schlichtweg weh. Und macht einen Kranken ganz sicher nicht gesund.

Darum erhob ich mich nach den Nachrichten und quälte mich mit schweren Gliedern die Treppe hoch ins Schlafzimmer, wo ich wie ein erlegtes Wild ins Bett fiel. – Nein, ich bin kein Hypochonder.

Am nächsten Tag war das Fieber weg. Eigentlich hätte man von Untertemperatur sprechen müssen, aber ich wollte kein Theater machen. Maritta mag eine verständnisvolle Ärztin sein, gleichwohl kann sie – gerade morgens – auch ein wenig streng auftreten. Ich servierte uns also das Frühstück, wie ich es immer tue, danach brachte ich Maritta mit dem Wagen in die Stadt und fuhr hernach zur Universitätsbücherei, wo ich einen meiner Autoren traf. Ich diskutierte mit ihm einen Essay über die veränderte Darstellung des Trinkens von Alkohol seit den Sechzigerjahren, einen Essay, der praktisch einen Bogen bildete zwischen dem fundamentalen und substantiellen Alkoholismus eines Richard Burton und der eher als Parodie auf eine Altherrenfrivolität gemünzten Promilleübertreibung heutiger Tage.

Was ich mir während dieses Gesprächs über so wunderbare Schauspieler wie Oliver Reed, Oskar Werner, Helmut Qualtinger und Albert Finney (komisch, mir fällt kein großer deutscher Trinker ein – kein Wort über Harald Juhnke, bitte!) kaum eingestehen wollte, war diese gewisse Sinnlosigkeit selbigen Gesprächs. Denn ich würde ganz sicher nicht mehr dazu kommen, die nächste Ausgabe meines vierteljährlich erscheinenden »Bürgerblatts« herauszubringen. Vielleicht jemand an meiner Stelle. Aber wer denn? Wäre ich erst einmal mit dem Picasso und dem Archaeopteryx auf dem Weg zum Planeten X, dann würde das »Bürgerblatt« so sang- und klanglos verschwinden, wie es still und unauffällig, doch auf höchstem Niveau einige Jahre existiert hatte.

Aber hier und jetzt tat ich so, als käme es auf jeden Satz an. Und das tut es ja auch. Gleich, ob ein Satz dann wirklich gedruckt wird. Gerade der ungedruckte Satz sollte ein vollkommener Satz sein. Ein vollkommenes Gespenst.

Ich lud den Autor noch zum Essen ein, danach fuhr ich zurück nach Botnang. Im Briefkasten lag zwischen dem Üblichen ein handschriftlich adressiertes Kuvert, das ich herausgriff. Ich öffnete es und fand ein weißes Papier, welches ich entfaltete. Exakt in die Mitte gesetzt, stand eine Nachricht, die jemand auf einer dieser alten Schreibmaschinen – jeder Buchstabe ein Schlag ins Papier – verfaßt hatte:

 

Rosa Periode abzuholen.
Diesen Donnerstag, 18 Uhr.
MINIBAR, Singen.

Ja, das war’s dann auch schon. Ich wußte natürlich, was mit »rosa Periode« gemeint war, und ich wußte, daß Singen eine leicht verlebt anmutende badische Stadt nahe der Schweiz und nahe dem Bodensee war. Aber was sollte »MINIBAR« bedeuten?

Ich sah im Internet nach und stellte fest, daß es sich dabei um eine im Singener Zentrum gelegene Bardiskothek handelte, die offensichtlich viel darauf hielt, in besonders kleinen Räumen untergebracht zu sein und die Leute bereits am späten Nachmittag willkommen zu heißen. Ein Lokal für junge Büromenschen, die weder die Zeit noch die Kraft besaßen, ihr Nachtleben auch tatsächlich in der Nacht auszuleben.

Schön und gut, aber wieso wollte man mir ausgerechnet an einem solchen Ort einen Picasso übergeben?

Da war niemand, der mir antwortete. Erneut fühlte ich mich fiebrig und deprimiert. Was kein Wunder war. Ich konnte jetzt ernsthaft beginnen, die Tage zu zählen, die ich noch auf der Erde verbringen durfte. Die Tage mit Maritta, dieser Blume meines Lebens. Ja, überhaupt die Tage, da mir Frauen wie Maritta über den Weg liefen. Eine böse Ahnung sagte mir nämlich, daß ich auf X niemals würde Fuß fassen können, nicht in dieser Maritta-Richtung.

Der Flug für zwei Personen nach Portland war bereits gebucht. Ebenso ein Zimmer im Timberline Lodge, das ich in düsterer Vision und zynischer Verachtung nur »Overlook-Hotel« nannte. Dennoch hatte ich ein wenig gehofft, daß die den Picasso betreffende Nachricht ausbleiben und es mir möglich sein könnte, die Reise zu verschieben. Ja, ein Gedanke war durch meinen Kopf getingelt – ein Hofnarr auf Reisen –, daß sich diese ganze Geschichte als ein Irrtum herausstellen und sodann in Luft auflösen würde. Daß es mir gegeben wäre, wie eine gewisse Frau Leda in Wien, für immer auf diesem Planeten zu leben. Und ich in der Folge die willkommene Pflicht hätte, den gestohlenen Archaeopteryx an seinen alten Platz zurückzustellen. Eine Raubumkehrung vorzunehmen.

Aber so lief das leider nicht.

Der echte Vogel, das originale »Solnhofener Exemplar«, lag unter meinem Bett. Wobei es nicht ganz einfach gewesen war, den Stein aus dem Museum zu entfernen. Ich hatte einen Einbruch vortäuschen müssen, um den tatsächlichen Diebstahl zu vertuschen. Das heißt, ich hatte das ungeschickte Einsteigen in den Raum, das ungeschickte Entwenden eines recht bedeutungslosen Fossils in den Vordergrund geschoben, um in dem daraus entstandenen »Schatten« die Auswechslung des Solnhofener Exemplars gegen das Nix-Exemplar vorzunehmen. Und konnte davon ausgehen, daß die zuständigen Leute einfach froh sein würden, daß hier ein dummer Einbrecher am Werk gewesen war.

Jetzt also noch den Picasso. Ich würde ihn abholen und zusammen mit dem Vogel nach Portland befördern lassen. Auch das war bereits arrangiert. Ich habe ja neulich von meinen Verbindungen gesprochen. Derartige Transporte sind eigentlich nicht schwierig, wenn man statt der tatsächlich höchst problematischen Passagiermaschinen auf Frachtflugzeuge setzt. Im Grunde konnte ich den Picasso und den Archaeopteryx mit der Post versenden, nur daß ich ein bißchen was würde drauflegen müssen. Nicht wegen des Gewichts, versteht sich. Auf diese Art und Weise, diese Reise mit der Post, werden heiklere Dinge als Picassos befördert. Unmengen von Drogen gehen als Postfracht um die Welt. Alle reden von verrückten Schmuggelmethoden, von armen Schweinen, die Päckchen von Kokain in ihren Därmen mit sich führen oder die Teddybären ihrer Kinder anfüllen, während man dank des von jedem Tourismus und jedem Terrorismus – und damit gleichfalls von jeder Beachtung – verschonten Flugfrachtverkehrs genau das tun kann, was doch immer propagiert wird: freien Handel in einer freien Welt treiben. Oder eben auch nur ein paar Dinge verschicken, die bloß genügend hoch frankiert sein müssen, um unbeanstandet und bar einer Kontrolle ihr Ziel zu erreichen.

»Ich muß am Donnerstag nach Singen«, erzählte ich Maritta, als sie von einem harten Arbeitstag nach Hause kam. Ich kredenzte ihr – entgegen dem üblichen Kleinmut-Pastagericht – einen gerollten Kalbsnierenbraten, welcher ganz gut aussah, mich freilich meine ganze Konzentration gekostet hatte. Das Fieber, das ich jetzt spürte, stammte eindeutig vom Kochen.

»Hast du in Singen eine Geliebte?« fragte Maritta.

»Wieso?«

»Na, wenn ich sehe, was du dir hier antust?«

Ich konnte ihr nicht sagen, daß ich sie verwöhnen wollte, solange es noch ging. Statt dessen erklärte ich: »Wenn nötig, hätte ich persönlich das Kalb für dich geschlachtet.«

»Meine Güte«, stöhnte Maritta, lachte aber gleichzeitig. »Du scheinst wirklich nicht ganz gesund zu sein.«

Dann ließen wir es uns schmecken. Ohne daß noch einmal der Name Singen fiel.