| Zwischen Heirat und Scherenschnitt

Es war eine ziemlich verrückte Geschichte, die Lorenz da erzählte. Der Mann, der Fritz hieß, hatte sich am Ende, nachdem ihm sein guter Ruf und seine Kinder und sein Geld und eigentlich alles abhanden gekommen waren, nicht mehr anders zu helfen gewußt, als eine Bombe zu zünden. Das ist kein Witz. Es war in der Tat geschehen, daß Fritz, wenngleich im Zuge einiger unglücklicher Fügungen, während einer Feierstunde in einem Museum, dort, wo auch Sheila mit ihrem neuen Mann gewesen war, einen Sprengsatz zur Explosion gebracht hatte. Danach war seine Frau tot gewesen und er selbst schwerverletzt, zudem ein verurteilter, in psychiatrische Abgeschlossenheit überwiesener Schwerverbrecher. – Das Heiratsinstitut freilich, das die beiden zusammengeführt, geradezu verkuppelt hatte, wurde in keiner Weise für die Folgen dieser Verkupplung zur Verantwortung gezogen. Wenn dagegen ein Autohersteller einen Wagen produziert, dessen Konstruktion tödliche Unfälle hervorruft, oder etwa ein Schnitzelwirt vergiftete Schnitzel unter die Leute bringt, so werden diese Unternehmer sicher mit juridischen Konsequenzen zu rechnen haben. Gleich, ob sie jetzt Mercedes heißen oder der König der Schnitzelwirte sind. Heiratsinstitute aber scheinen sich in einem vollkommen rechtsfreien Raum zu bewegen. Dabei wäre ihre Verantwortung die allergrößte. Denn sie vermitteln quasi das Leben. Wenn ihre Vermittlung jedoch nicht das Leben, zumindest nicht das versprochene gute Leben nach sich zieht, sondern Unglück und Elend und hohe Kosten, im konkreten Fall sogar den Tod des einen und die lebenslängliche Verwahrung des anderen Partners, dann sollte eigentlich so etwas wie eine Haftung erfolgen. Aber nein, dieselben Heiratsinstitute, die vorher so tun, als könnten sie die menschliche Seele bis in den letzten Winkel durchleuchten und als seien sie Experten in der Beziehungsmathematik, geben sich im Zuge erfolgter Katastrophen als unbedarft, ja stellen sich geradezu blöd und taub und unschuldig.

 

 »Was für eine saublöde Geschichte!« rief Lou Bilten aus. »Wo soll das passiert sein? Hier in unserer Stadt? Davon hätten wir doch wohl gehört, nicht wahr?«

»Man erfährt nicht alles, was geschieht«, erwiderte Lorenz. »Eher erfährt man von den Dingen, die nicht geschehen.«

»Sie machen es sich ganz schön einfach, mein Lieber. Tischen uns ein Märchen mit einer Bombe auf und reden dann von der dunklen Seite der Macht, die unsere Welt manipuliert. Der Pornostar als Sozialkritiker.«

»Weder noch. Nie ein Star und nie ein Kritiker«, versicherte Lorenz. »Das Kritische steckt mir nicht im Herzen. Ich war schon als Jugendlicher zu müde für jegliche Revolution.«

»Sie meinen, zu faul.«

»Nein, ich meine, zu müde. Das ist ein Unterschied. Manche Menschen kommen müde auf die Welt. Und selbst erzwungener Fleiß kann sie über diese Müdigkeit nicht hinwegtäuschen.«

Es war jetzt wieder Sera, die sich in der üblichen verhaltenen, gleichzeitig prägnanten, man könnte sagen, geradezu chemischen Weise ins Gespräch brachte, indem sie Lorenz fragte, wie gut er diesen Mann kenne, diesen Fritz.

»Nun, er ist eher der Freund eines Freundes…«

»So dachte ich mir das schon«, höhnte Lou und blies Rauch aus ihrem Mund, der im warmen Wind die Form eines Verkehrsschilds annahm. Gewissermaßen ein Halteverbot für Lorenz. Welcher jedoch beteuerte, daß die Geschichte trotzdem stimme. »Ich denke mir so was nicht aus, nur um mich wichtig zu machen.«

»Sicher nicht«, besänftigte Sera. »Derartige Dinge geschehen. Nicht immer so dramatisch. Andererseits gibt es Schlimmeres als Bomben, die auch explodieren. Ich muß das leider so sagen, aber es bestehen eine Menge Ehen, da würden sich die Beteiligten einen Sprengsatz wünschen, damit die Tragödie endlich ein Ende hat.«

»Das ist zynisch«, sprach Lou zu ihrer Schwester und gab ihrem fetten Körper einen kurzen Stoß, wie eine Billardkugel, die sich eigenständig ein kleines Stück bewegt und die umstehenden Spieler in baffes Erstaunen versetzt. Die Kugel lebt!

Sera entgegnete: »Zynisch ist es, das Leben um jeden Preis erhalten zu wollen. Allerdings wäre es fein, könnten wir Bomben bauen, welche keinen anderen Schaden anrichten, als schlechte Ehen zur Explosion zu bringen.«

»Ja«, lachte Lorenz. »Für jede ungute Sache in der Welt eine eigene Bombe.«

»Zum Beispiel für die Pornographie«, schlug Lou vor und setzte die Billardkugel ihrer selbst wieder an die alte Stelle.

Lorenz ignorierte die Bemerkung und erkundigte sich bei Sera nach der genauen Art ihres Heiratsinstituts.

»Ich mache das ganz alleine«, erklärte die blauhaarige, hellhäutige und mittels vierer Muttermale signierte Frau. »Ich unterhalte mich mit meinen Kunden. Weder lasse ich sie Fragebögen ausfüllen noch in eine Kamera hineinsprechen. Ebensowenig frage ich sie nach ihren geheimsten Wünschen. Wenn sie darüber reden wollen, gut, wenn nicht, dann gehört es wohl zu ihrem Wesen, nicht darüber zu reden. Ich bin keine Psychologin. Ich brauchte nichts zu erfahren, was auch ein zukünftiger Partner nicht erfahren wird. Ich will nichts enthüllen, keine Seele offenlegen, keine Anatomie betreiben. Wenn ich denke, daß ich zwei Menschen gefunden habe, die zusammengehören, dann sage ich es diesen beiden Menschen.«

»Ich bin überzeugt, man vertraut Ihnen«, äußerte Lorenz.

»Nachdem ich wie eine Wahrsagerin arbeite, gehört Vertrauen natürlich dazu. Die Leute glauben daran, weil sie daran glauben wollen. Dabei haben die meisten von ihnen nur schlechte Erfahrungen gemacht. Sie sind gebeutelt vom Leben. Und das letzte, was ich tue, ist, ihnen eine Chance zurückzugeben, die sie nie hatten.«

»Was tun Sie dann?«

»Ich vermittle eine Idee. Ich vermittle die Idee, daß, wenn man mit einer Katze und einem Hund und einem Stall voll Meerschweinchen gut auskommen kann, es ebenso mit einem Partner funktionieren sollte. Man muß den Partner als Haustier sehen. Man muß aufhören, den Intellekt so ungemein hoch zu hängen. Man muß aufhören, sich Wunder zu erwarten, wo es doch seit Urzeiten nur darum geht, nicht einsam am Lagerfeuer zu sitzen.«

»Gespräche gehören dazu«, fand Lorenz. »Es wäre schade, würden wir beide jetzt nicht miteinander reden.«

»Erstens wollen wir nicht heiraten«, stellte Sera fest. »Und zweitens habe ich nichts gegen das Sprechen an sich gesagt. Man redet schließlich auch mit seinen Haustieren, und keineswegs nur blödes Zeug. Aber sind wir ehrlich, wir wollen von unserem Haustier nicht wirklich verstanden werden. Von unserem Partner hingegen sehr wohl. Und das ist das Unglück. Reden, Plaudern, Angeben, Streiten, alles okay, wer jedoch verstanden werden will, hat ein Problem. Ich bemühe mich, meinen Kunden das klarzumachen. Wenn sie verstanden werden wollen – d’accord! Ab in die Kirche! Ab in die Therapie! Nur bitte nicht zu Hause.«

Es betrübte ihn ein wenig, daß Sera so definitiv eine Heirat zwischen ihnen beiden ausschloß, obgleich das in dieser Situation nur normal war. Sie hatte ja recht. Dennoch, er spürte etwas in seinen Augen. Einen Druck. Nicht den Druck von Kammerwasser, welches gegen die rückwärtigen Augenhäute klatscht, nein, es war der Druck, den man spürt, wenn am Ende eines Films der Held sich opfert. Sinnlos opfert. Nur, um die angebetete Frau an einen anderen zu verlieren.

Lorenz hatte sich verliebt.

Kann man das so sagen? Wenn jemand gerade mal zwei mal fünfzehn Minuten – (Was dauert ebensolange? Blödes Hallenfußball? Noch blöderes Sitzfußball?) – einer Frau gegenübergesessen ist, kann man dann wirklich sagen, er habe sich unsterblich in diese Person verliebt?

Andererseits: Welche Zeit wäre angemessen? Wie lange soll man denn brauchen, um festzustellen, daß ein blauhaariges, durch herbstgrüne Glasaugen schauendes, verschwenderisch zartes Wesen – eine auf Menschengröße hochgeschossene Elfe, deren Flügel und Seele kein Schurke je zu zerquetschen vermag –, daß diese Frau die einzig richtige ist, nicht nur fast, nicht nur zu neunundneunzig Prozent, nicht nur, wenn man sich dieses oder jenes wegdenkt, das Zänkische, das Gierige, das Kleinliche, die Beine, das Gesicht, die Sprache oder was sich Männer und Frauen in der Regel so alles wegdenken müssen, um sich richtig verlieben zu können. Hier war das anders. Lorenz brauchte sich nichts wegzudenken. Außer vielleicht…höchstwahrscheinlich…sich selbst. Vor allem, weil sich die Frage aufdrängte, ob Sera Bilten überhaupt an die Möglichkeit dachte, nicht nur ihre Kunden glücklich zu machen, sondern zudem ein eigenes Liebesglück anzustreben. Es war eine bloße Vermutung. Aber Lorenz hatte das schlimme Gefühl, daß Sera ein solches Liebesglück für die eigene Person ausschloß.

Darum also der Druck auf den Augen.

Zur Liebe freilich gehört eine Portion Todesverachtung. Der Liebende ist immer Soldat. Und obgleich die Milchmädchen-Regel besteht, daß man nicht in Schlachten ziehen sollte, die man verlieren wird, spricht die Realität des Krieges eine andere Sprache. Das Prinzip des Soldaten ist es, vorwärts zu marschieren und erst umzukehren, wenn es zu spät ist. Aus dieser Idiotie bezieht er seine pathetische Berechtigung vor Gott, daraus nämlich, etwas Dummes zu tun. Als würde sich Gott über nichts mehr erfreuen als über das Dumme. Und genauso handelt auch der Liebende.

»Zeit, Paul abzuholen«, unterbrach Lou das Gespräch über Bomben und Ehen.

»Paul ist unser Neffe«, klärte Sera auf.

»Findest du, daß das Herrn Mohn etwas angeht?« murrte Lou und gab sich vermittels einer scherenartigen Geste selbst die Antwort. Sie war überhaupt eine Frau, die gerne mit Scheren hantierte. Warum, das würde Lorenz auch noch erfahren.

Der Künstlerin Lou Bilten war es vor allem zu verdanken, daß die alte Kunst des Scherenschnitts eine Wiederbelebung erfuhr. Ihr eigener Stil, der in einer stark illusionistischen, mit Raumtiefen arbeitenden Tradition stand, besaß dennoch eine irritierende Aktualität. Als hätte das neunzehnte Jahrhundert einen direkten Zugang ins einundzwanzigste gefunden. Lous Werk war frei von den Wegen und Umwegen der Moderne, aber ebenso frei von der Überwindung derselben. Es war gleichermaßen betörend und erschreckend, was Lou Bilten da mit ihren mal tiefschwarzen, mal hellgelben, mal winzigkleinen, mal wandfüllenden Scherenschnitten zustande brachte. Wenn man diese durch und durch unsympathische, durch und durch geschmacklose und häßliche Person sah, war es schwer vorstellbar, welch perfekt komponierte, im Detail netzartig fragile, als Ganzes jedoch höchst kompakte Szenen sie hervorbrachte, die wie die Illustrationen zu zeitgenössischen Märchen anmuteten. Es waren moderne Prinzessinnen, die hier im Stile mondäner Geschäftsfrauen oder selbstbewußter Dominas durch ein Gewebe aus schickem Mobiliar und geisterhaften Brechungen glitten. Die Frösche und Zwerge der alten Märchen standen an den Theken der Bars und Diskotheken oder drängelten sich in den Aufzügen der Bürohochhäuser. Und inmitten des Gewimmels, inmitten der gefüllten Interieurs taten sich helle, unbewohnte Flächen der Ruhe auf, man könnte auch sagen: leere Sprechblasen.

Na gut, jeder konnte das interpretieren, wie er wollte. Jedenfalls hatte Lou Bilten als Künstlerin einen guten Namen, und ihre Kunstschule ebenso. Zumindest galt die Schule als mysteriös. Es gab dort mehr Scheren als in jedem Haushaltsladen.

Zunächst jedoch erfuhr Lorenz von Sera, daß sie wie auch Lou einen Bruder hatte und dieser einen Sohn, ebenjenen Paul. In Pauls zweitem Lebensjahr war dessen Mutter ins Ausland gezogen, besser gesagt geflüchtet, und hatte das Kind bei seinem Vater zurückgelassen. Ohne viel Federlesen. Es gibt Menschen, die derart aus ihrer Not bestehen, daß für ein Herz kein Platz mehr bleibt. Und wenn es heißt, sie hätten ein Herz aus Stein, dann ist das ein Irrtum. Die Not mancher Menschen läßt nicht einmal einen Stein zu.

Die Mutter verschwand also. Es hieß, sie sei nach Schweden gegangen. Aber im Grunde war es egal, wohin sie verschwunden war. Viktor, so hieß Lous und Seras Bruder, Viktor stand mit einem Mal mit einem Kind da, ohne recht zu wissen, was zu tun war. Er arbeitete als Programmierer, er schuf künstliche Welten, nicht wirkliche. Die wirkliche Welt war ihm ein Rätsel. Beziehungsweise erlebte er die wirkliche Welt als eine Ansammlung unprogrammierbarer Tücken. Darum war er ja geworden, was er war, ein Erfinder, der logische Regeln kreierte. Und welcher auch die Regelbrüche in ein Korsett zwängte. Er bestimmte, wie groß das Korsett ausfiel und wie groß die Freiheit. Im Vergleich dazu war das wirkliche Leben erbärmlich, ein Leben, in dem es geschehen konnte, daß die eigene Frau eines Tages ihre Sachen packte und einen Zweijährigen zurückließ, um nach Schweden zu gehen. Die Situation, die sich daraus ergab, erschien Viktor im wahrsten Sinne als unberechenbar.

»Du brauchst Paul nicht zu berechnen. Gib ihm einfach was zu essen«, hatte Sera dazu gemeint.

Leider gibt es Männer, die stellen sich nicht nur dumm an, sie sind es tatsächlich. Irgendwas im Hirn fehlt ihnen. Dieses fehlende Etwas bringt es mit sich, daß sie einfach nicht in der Lage sind, Geschirr abzuwaschen, eine Waschmaschine zu füllen, einen Wasserkocher in Betrieb zu nehmen und eine vollgeschissene Windel so zusammenzulegen, daß nicht überall die Kacke herausquillt. Man kann sich mit diesen Männern noch so sehr Mühe geben – und vielleicht geben sogar sie selbst sich redlich Mühe –, es klappt nicht. Diese Männer haben nicht nur zwei linke Hände, sondern wahrscheinlich auch zwei linke Augen und zwei linke Ohren, ja zwei linke Gehirnhälften. Und es darf gar nicht wundern, daß Farbenblindheit vor allem bei Männern anzutreffen ist.

Mit Faulheit hat das alles nur insofern zu tun, als daß viele Männer ihre Unfähigkeit, ihr vollkommenes Unvermögen, einen frisch gewaschenen Pullover nach einfachen Regeln zusammenzulegen und nach nicht minder einfachen Regeln im richtigen Fach unterzubringen, dadurch zu tarnen versuchen, daß sie vorgeben, faule Hunde zu sein oder sich zu gut für eine solche Arbeit. Lieber markieren sie den arroganten Macho, den in seiner Firma unabkömmlichen Geschäftsmann, den fettgefressenen Pantoffelprolo oder das weltfremde Genie, bevor sie zugeben, daß irgendein Defekt in ihrem Hirn es ihnen verunmöglicht, einen Haushalt zu führen, Kinder zu versorgen oder auch nur eine Klobrille hochzuheben. Im Grunde handelt es sich hierbei um behinderte Männer. Doch wer möchte schon als behindert gelten? Dann lieber ein Arschloch sein.

Nun wollte Viktor zwar gar kein Arschloch sein, aber seine Unfähigkeit, einen Zweijährigen zu versorgen, war eklatant. Da half ebensowenig, daß Paul tagsüber bei einer Pflegemutter untergebracht war. Der Abend, die Nacht, der Morgen genügten zur Katastrophe. Man kann sagen, das Kind war gefährdet, in seiner Entwicklung und in seiner Gesundheit. Zudem versteht sich, daß Viktor nur noch tiefer in seine Programmiererei flüchtete. Paul war somit ein Kind, dessen Mutter in Schweden und dessen Vater im Computer untergetaucht waren.

Weshalb es notwendig wurde, daß die beiden Schwestern Lou und Sera darangingen – nicht zuletzt, um einer Intervention der Behörde zuvorzukommen –, die Pflege des Kindes zu übernehmen, bald auch tagsüber. Beide hatten Berufe, waren allerdings überaus flexibel. Beziehungsweise bemühten sie sich um eine solche Flexibilität. Und beiden war es möglich, Paul auch während der Arbeit zu betreuen. Entweder nahm Sera Paul in ihr Heiratsinstitut mit – im Grunde ein kleines, bequemes Büro – oder Lou ihn in ihre Kunstschule. Man kann sich vorstellen, daß der Kleine da wie dort ein Objekt der Begierde darstellte, gewissermaßen einen einpersonigen Streichelzoo bildete, ein Anschauungsobjekt für angehende Eheleute und in anderer Weise auch ein Anschauungsobjekt für angehende Kunstschaffende. In jedem Fall ein Kind, das einige Aufmerksamkeit auf sich zog. Umsomehr, als er einer von der herzigen und sonnigen Sorte war, so ein kleiner Blonder mit großen Mandelaugen und roten Backen.

Dann kam der Kindergarten, und er lernte ein paar Schimpfwörter. Trotzdem blieb er ein freundliches und liebenswertes Kind. Dann kam die Schule, wo die Kinder hingehen, damit sie lernen, zwischen Arbeitswoche und Wochenende zu unterscheiden.

Paul war jetzt achtjährig und besuchte die zweite Klasse der Grundschule. Er gehörte zu den hellen Köpfen, hatte aber mitunter Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Nicht, weil es ihm an Ausdruckskraft fehlte. Doch er war sich öfters unsicher, unterbrach sich gerne, korrigierte das Gesagte, nicht selten erst solcherart einen Fehler machend. Man kann sagen, daß seine Persönlichkeit fortgesetzt zwischen den Anforderungen einer Heiratsvermittlung und einer Kunstschule pendelte. Es steckte ein besänftigend vermittelnder Geist in ihm ebenso wie ein rebellisch kreativer. Anders gesagt: einerseits ein verbindendes Band, andererseits eine schneidende Schere. Aber im Grunde lief die Sache bestens. Paul war ein behütetes Kind, ohne unter dem gewaltigen Hintern einer Glucke zerdrückt zu werden. Sowohl Sera als auch Lou verwechselten ihr Herz niemals mit ihrem Hintern.

Und Viktor? Nun, der Vater des Kindes versank immer mehr in den virtuellen Welten jener Spiele, die er kreierte. Nichts mit Gewalt. Zumindest nicht die Gewalt andauernder Gewehrsalven und blutiger Kill-Bill-Schlitzereien. Es waren vielmehr magische Welten, die er konstruierte, in denen fast jeder Gegenstand und jedes Lebewesen eine Stimme und eine Sprache besaßen. Nicht aber die Menschen. Das war der Fluch, unter dem sie litten, nämlich ausgerechnet das, was sie bisher von ebenjenen Gegenständen und Tieren unterschieden hatte, verloren zu haben. Und genau darin bestand letztendlich der Zweck des Spiels, die Sprache wiederzufinden, wo auch immer und in welcher Form auch immer sie versteckt sein mochte. So irrten die stummen Helden von Insel zu Insel, von Labyrinth zu Labyrinth, von einer Galaxie zur nächsten, vernahmen die Kommentare ihrer Bordcomputer genauso wie die eines omnipräsenten Ameisenbären namens Furtwurt X, erlebten die Eloquenz von philosophisch veranlagten Lianen und die Geschwätzigkeit hinterfotziger Liegestühle und litten unter dem Umstand, sich all das anhören zu müssen, ohne ihrerseits etwas beitragen oder entgegnen zu können. Aber ihre Abenteuer waren dennoch grandios und ihre Suchen jede Qual wert.

Es darf nicht verwundern, daß Viktor im Zuge seiner Arbeit an dem Programm selbst ein wenig an Sprachkraft einbüßte. Zumindest kann man sagen, daß Paul seinen Vater in diesen Jahren als eine stumme und dunkle Persönlichkeit erlebte. Was nicht heißen soll, daß der Vater seinem Sohn keine Zärtlichkeit zukommen ließ. Er liebkoste ihn, setzte sich jeden Abend zu ihm ans Bett, bemühte sich um ein väterliches Engagement, Schwimmen am Samstag, Fußball am Sonntag, mitunter Balgereien unter Männern. Nein, Viktor war kein schlechter Vater, aber ein guter war er ebenso-wenig. Er tat bloß das Nötige, nicht das Notwendige. Anders die Schwestern, welche Paul ins Zentrum ihrer Interessen stellten und ihren Alltag wie ihr Berufsleben nach den Bedürfnissen des Kindes ordneten. Ohne deshalb tausend Kindermädchen engagieren oder auch nur die greise Mutter von ihrem Altersdomizil auf Madeira herholen zu müssen. Niemand wollte diese Mutter hierhaben. Sie war ein Monster. Und es war gut, sie auf einer Insel zu wissen.

»Kommen Sie mit?« fragte Sera. »Ich hole unseren kleinen Schatz von der Schule ab.«

Mein Gott, wie sie das sagte: kleiner Schatz! Es klang, als rede sie über das größte Glück auf Erden. Und es klang, als trage sie winzige Edelsteine auf ihrer Zunge. Zaubersteine, mit denen man die Sprache in etwas ungleich Edleres und Wertvolleres verwandeln konnte. Zaubersteine wie aus einem Computerspiel von Viktor Bilten. Jedenfalls konnte sich Lorenz nichts Besseres denken, als diese Frau auf ihrem Weg zur Schule zu begleiten.

Als sie sich nun erhob, bemerkte er erst, daß sie relativ groß war, für eine Elfe sowieso. Nicht ganz so groß wie er selbst, aber groß genug, daß er sich, wenn er sie einmal küssen wollte, nicht wie ein futtersuchender Flamingo zu ihr würde hinunterbeugen müssen. Ja, er dachte bereits ans Küssen. Nicht jedoch, weil er meinte, er sei auf Grund seiner pornographischen Vergangenheit oder wegen seines ebenmäßigen Gesichts unwiderstehlich. Nein, seine Überzeugung bestand darin, daß er und Sera füreinander bestimmt waren. Und daß auch Sera dies nach und nach begreifen würde.

Lou, die Meisterin der Scheren und Zigaretten, wollte etwas sagen. Ließ es aber bleiben. Ihr Blick sprach Bände. Sie hätte Lorenz Mohn gerne zurück nach Sexland geschickt, wo er herkam. Doch die Freude wollte ihr Lorenz nicht machen. Statt dessen begab er sich mit Sera auf den Weg, auf den Schulweg. Sie durchquerten den langen Gang des Hauses und traten hinaus auf die Rosmalenstraße, welche im grellen, geradezu glühendweißen Mittagslicht ihre ganze Farbe verloren hatte. Die gesamte Stadt wirkte an diesem Tag wie zu heller Asche verbrannt, wie leergekocht. Ja, der Sommer war nun wirklich hereingebrochen. Tage der Hitze und Atemlosigkeit würden sich einstellen. Tage, die sich in die Nächte hineinziehen, die ihre Wärme rund um die Uhr verteilen würden. Tankstellentage.

Zuerst aber Schule.

Paul war wirklich eine erfreuliche Erscheinung. Gewissermaßen die männliche und achtjährige Version von Sera (allerdings steckte auch, wenngleich nicht in einem optischen Sinn, eine Menge Lou in ihm – es würde lange dauern, bis Lorenz aufhörte, dies zu übersehen). Paul stand in einer Gruppe anderer Kinder, die vor dem Schultor einen Kreis bildeten und sich in der schnatternd erregten Weise ihres Alters unterhielten. Es war deutlich zu erkennen, wie sehr die Mädchen sich um Paul bemühten. Achtjährige mochten noch Zwerge sein und unschuldige dazu, aber selbst in der Zwergenwelt blüht das Begehren. Wie auch die Unvernunft, die vor allem darin besteht, sich ständig falsche Partner auszusuchen. Gefährliche oder dumme. Immerhin schien Paul in dieser Hinsicht ein Frühreifer zu sein, nicht in einem erotischen Sinn, sondern in einem verstandesmäßigen. Er hatte sich nämlich aus diesem Kreis zartgelockter und feingliedriger Wesen ein Mädchen als beste Freundin ausgesucht, die sehr viel weniger attraktiv anmutete als der in Benettonfarben getauchte Rest. Sie war der pummelige Typ, Babyspeck, der vermutlich ewig an ihr kleben würde. Doch wie Sera jetzt berichtete, war dieses Mädchen das mit Abstand netteste, klügste und liebenswerteste in der ganzen Truppe. Ein Schatz eben, wie auch Paul einer war. Während man den anderen Gören und Gänsen bereits anmerkte, was sie später einmal ausmachen würde: pure Bosheit.

Paul trennte sich nun von jenem Mädchen, hinter dessen Babyspeck sich möglicherweise nicht nur eine intelligente, sondern gleichfalls eine hübsche Persönlichkeit verbarg, und lief auf Sera zu, umarmte die Niederkniende und begann sofort, in einem kleinem Schwall von Wörtern irgendeine Geschichte zu erzählen, die sich beim Turnen zugetragen hatte. Schwer zu sagen, ob Paul den Mann neben seiner Tante nicht bemerkte oder nur so tat. Bei Kindern dieses Alters sind das Absichtliche und das Unabsichtliche stark verschränkt. So kommt es oft vor, daß ein Kind gar nicht weiß, ob es lügt oder nicht. Das eine erscheint ihm oft als das andere. Es erkennt noch die Unschärfe des Lebens, bevor es sich dann endgültig dafür entscheidet, gut oder böse zu sein. Beziehungsweise was man allgemein dafür hält.

»So, Paul«, nutzte Sera ein Atemholen ihres Neffen, »das hier ist Lorenz.«

Paul verengte sein Augenpaar und betrachtete Lorenz wie durch ein Okular. Was auch immer er darin sah, es verführte ihn zu der Frage: »Was machen Sie?«

»Meinst du, was ich arbeite?« fragte Lorenz zurück.

»Nein, was machen Sie hier?«

»Ich habe Sera begleitet.«

»Warum?«

»Damit sie nicht alleine ist.«

»Aber Sera ist doch erwachsen«, argumentierte Paul.

»Schon richtig. Nur ist es so, daß auch Erwachsene es mögen, begleitet zu werden.«

Paul richtete sich an Sera und fragte: »Magst du das, wenn man dich begleitet?«

Er betonte das Wort »begleitet«, als stecke darin ein fürchterliches Geheimnis. Und ein bißchen mysteriös war es ja tatsächlich. Ob allerdings fürchterlich oder nicht, würde sich noch herausstellen. Jedenfalls erklärte Sera, daß es ihr durchaus gefalle, begleitet zu werden.

»Von Lorenz?« stocherte Paul nach.

»Ja.«

»Und von wem sonst?«

»Von dir zum Beispiel.«

»Aber ich bin doch ein Kind«, blieb Paul in seiner Spur.

»Na und?« sagte Sera.

»Ich kann dich nicht beschützen«, meinte Paul. »Lorenz schon.«

Selbiger Lorenz fragte sich: Was will der Kleine eigentlich hören?

Aber Paul wollte nichts Bestimmtes hören, sondern er wollte sich auskennen. Er wollte wissen, wieso ein Mann namens Lorenz wie aus dem Nichts aufgetaucht und neben seiner Tante Sera zum Stehen gekommen war. Was das zu bedeuten hatte. Für Sera. Für ihn. Für den Gang der Welt.

»Es geht nicht ums Beschützen, mein Schatz«, sagte Sera zu Paul. »Es geht darum, daß man manchmal zu zweit sein möchte. Daß es gut ist, zu zweit zu sein.«

»Wie die Leute, die zu dir kommen, um zu heiraten.«

»Man muß nicht immer gleich heiraten, aber in etwa so meinte ich es.«

Das schien Paul zu genügen, denn er sagte unvermittelt: »Jetzt hätte ich gerne ein Eis.«

»Gut, dann laß uns eins kaufen«, beschloß Sera, nahm Paul an der Hand und zwinkerte Lorenz zu.

Es war kein vielsagendes Zwinkern gewesen, kein Versprechen oder so, sondern eine bloße Vertraulichkeit. Eine familiäre Geste. Doch für Lorenz war dieses Zwinkern wie ein kleiner Kuß. Die Ouvertüre zu einem Kuß. Ein Vorkuß. Ein Wetterleuchten. Ein Flüstern, in dem bereits alles steckte, was noch kommen würde.

Was nun allerdings als nächstes kam, war eine Enttäuschung. Nachdem man nämlich zu dritt jenen Platz erreicht hatte, auf welchem der Eissalon stand, wandte sich Sera zu Lorenz hin, dankte ihm für die Begleitung und meinte, daß man sich ja demnächst sicher wieder über den Weg laufen werde.

Das hatte nun in keiner Weise unfreundlich geklungen, dennoch fühlte sich Lorenz, als hätte man ihn zurück ins Fegefeuer geschickt. (Es wäre übrigens ganz grundsätzlich zu erwähnen, daß das Fegefeuer nicht die Strafe ist, die auf den Fuß folgt, sondern die dem Fuß vorangestellt ist, also vor der eigentlichen Sünde steht. Wir werden bestraft, bevor wir uns noch etwas zuschulden kommen lassen. Das Diesseits dient nur dazu, eine kleine Pause vom Höllenfeuer zu nehmen und zu überlegen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Darum etwa schreiben wir Bücher, betrachten die Sterne und jagen Strom durch Frösche und Menschen. Wir versuchen den Sinn des Flammenmeers zu begreifen, aus dem wir kommen und in das wir gehen.)

Sera wollte also alleine mit Paul sein. Das war ihr gutes Recht. Und vor allem war es Pauls gutes Recht. Außerdem brauchte eine Frau wie Sera nicht mehr als einen Begleiter.

Lorenz verabschiedete sich von den beiden, wobei er sich um einen gelassenen Ausdruck bemühte, auch wenn er mit seinen Füßen bereits in der glühenden Kohle stand. Er bewegte sich die Straße hinunter, betrat einen Tabakladen und kaufte Zigaretten. Das beruhigte ihn augenblicklich, dieser Zigarettenkauf. Er brauchte jetzt gar nicht zu rauchen. Bereits der Umstand, die Packung in der eigenen Tasche zu wissen, gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, löschte ein wenig den Brand in seinen Beinen.