10 | Ein Agent erster Klasse

Wenn man mich gelegentlich nach meinem Alter fragt, muß ich innerlich lachen. Ich stelle mir vor, wie die Leute reagieren würden, wüßten sie darüber Bescheid, wie alt ich wirklich bin. Sie würden, wie man so sagt, ziemlich dumm aus der Wäsche schauen. Einige täten wohl in Ohnmacht fallen. Umgekehrt muß erwähnt werden, daß auch ich – um jetzt bei der Wäsche zu bleiben – von den Socken war, als ich das erste Mal erfuhr, es existierten in diesem Sonnensystem intelligente Wesen, für die das Leben spätestens mit neunzig oder hundert Jahren zu Ende ging.

Wie kann man da intelligent sein? fragte ich, weil ich es damals noch nicht begriff. Ich hielt die Kürze eines Daseins gleichbedeutend mit seiner Entwicklungsstufe. Angesichts von Lebewesen, die mit siebzig oder sogar früher zu vergreisen beginnen, dachte ich an Würmer. Aber da war ich ein Kind und hatte auch noch nie einen Wurm gesehen. Dort, wo ich herkomme, sind die Würmer selten. Findet man einen, stopft man ihn aus oder läßt ihn vergolden.

Als ich größer wurde, änderte sich meine Haltung. Mit einem Mal war ich fasziniert von der Vorstellung eines kurzen, eines geballten Lebens. So wie ich zu Anfang den Irrtum begangen hatte, mir eine Wurmexistenz zu denken, beging ich nun den Irrtum, die Kürze des Erdendaseins mit einer Form höchster Konzentration gleichzusetzen. Das Leben der Menschen als eine Verdichtung, eine Sublimation dessen zu begreifen, was ich kannte. Meine Überlegung war die, daß, wenn meine eigenen Leute seltene Würmer vergoldeten, der ferne Homo sapiens das gleiche mit der wenigen Zeit tat, die ihm blieb: sie vergoldete.

Na ja, die Wahrheit ist leider die, daß sich der Mensch diese paar Jahrzehnte nicht veredelt, sondern vielmehr verdünnt. Er panscht sein Leben zu einem Getränk, das weder als Wasser noch als Wein durchgeht, mit dem man sich nicht waschen kann, das aber ebenso wenig taugt, sich richtig schön dreckig zu machen. Ich meine nicht den Dreck, der mit Krieg und Gewalt und Unterdrückung einhergeht, ich meine einen guten Dreck, Dreck, wie er hinten bei den Würmern rauskommt.

Heute glaube ich zu wissen, daß es genau das ist, was die meisten Menschen so verdrießlich macht: diese Nähe zum Tod. Sie kommen auf die Welt, und sobald sie imstande sind, Gedanken zu fassen, ist der Tod bereits ein Thema. Kaum kann ein Kind ganze Sätze sprechen, fragt es: Warum muß ich sterben? Gute Frage. Ich meine, angesichts der Tatsache, ins Leben geworfen und derart rasch wieder aus diesem Leben hinausgespuckt zu werden. – Natürlich ist es so, daß das eine oder andere Wochenende sich in die Länge zieht, wie auch der eine oder andere Arbeitstag oder alle Arbeitstage, die Abende vor dem Fernseher, die Urlaube, das Schuljahr, die vielen Ansprachen und Vorträge, die Grippe. Aber das Leben als Ganzes ist kurz wie ein Kinderschuh und hat die Qualität eines halben Schrittes. Eines Schrittes, der nicht zu Ende gegangen werden kann, sodaß seine eigentliche Bedeutung der Spekulation überlassen bleibt. Man kommt sich vor wie ein Spieler, welcher, kaum steht er am Platz, schon wieder ausgetauscht wird. Und der sich selbstverständlich fragt, was sich sein Trainer dabei gedacht hat. Taktik? Bosheit? Tiefsinn? Oder einfach Blödheit?

Das ist wahrscheinlich die größte Angst des Menschen, daß hinter alledem simple, schlichte Blödheit steckt. Und daß also die Kürze des Lebens allein auf den Schwachsinn irgendeines Trainers zurückzuführen ist, welcher ständig Leute ein- und auswechselt, ohne über das geringste Konzept zu verfügen. Dessen fortwährende Ein- und Austauscherei ein Konzept bloß vortäuscht.

Von meinem Standpunkt – vom Standpunkt eines Langlebenden– sieht die Sache freilich ein wenig anders aus, auch wenn ich ebensowenig Ahnung habe von den übergeordneten Prinzipien, die unser aller Existenz bestimmen. Aber ich kann mir nur einen Trainer vorstellen, der weiß, was er tut, wenn er etwa zwei im Grunde vollkommen identische Wesen mit derart unterschiedlichen Altersgrenzen ausstattet.

Es muß nun also ausgesprochen werden: Ich zähle sechshundertundacht Jahre.

Lachen Sie? Natürlich lachen Sie. Und ich werde mich hüten zu erklären, das Lachen werde Ihnen noch vergehen. Lachen Sie ruhig weiter, wenn ich Ihnen jetzt sage, daß ich nicht von der Erde stamme. Obwohl ich genau so aussehe. Kein Arzt und kein Labor könnten feststellen, daß meine Herkunft nicht die eines Erdenbewohners ist. Wobei mich dieser Arzt und dieses Labor nur über eine sehr eingeschränkte Zeitspanne beobachten dürften. Denn nach und nach würde es auffallen, daß ich nicht älter werde, zumindest nicht mit jenem Tempo, das unter Menschen üblich ist.

Denken Sie aber bitte nicht, ich sei irgendein schleimiges Alien aus einer weit entfernten Galaxis, das sich mittels eines neuartigen Haarfestigers durch ein Wurmloch gesprayt hat und solcherart auf die Erde gelangt ist, um sich mit demselben Haarfestiger – oder womit auch immer – in ein menschengleiches Wesen zu verwandeln. Nein, ich bin kein verkleidetes Monster, sondern durch und durch ein…man hätte früher wohl dazu gesagt, ein Herr in den besten Jahren. Gemäß meinen derzeitigen Papieren zähle ich zweiundfünfzig Jahre, und genau so sehe ich ja aus: moderat gealtert. Nur, daß niemand hier ahnt, daß ich meine grauen Schläfen, meine etwas müde, vom Leben eingeschattete Haut, den Anflug einer Lichtung auf meinem Scheitel, die mitunter etwas dickflüssige Art, aus einem Auto zu steigen oder aus einem dieser Sofas zu gelangen, die Gott weiß warum so tief am Boden liegen, als seien sie für Leute mit halben Beinen geschaffen, daß ich all diese Erscheinungen beginnenden Verfalls bereits vor fünfzig Jahren aufgewiesen habe und daß es für einen oberflächlichen Betrachter, wäre ein solcher gegeben, auch in fünfzig Jahren nicht anders aussehen würde.

Genau darin besteht mein Problem auf dieser Welt. Daß ich nicht allzulange an ein und demselben Ort bleiben kann, ohne daß auffallen müßte, daß etwas mit mir nicht stimmt. So bin ich gezwungen, in vernünftigen Abständen immer wieder die Orte und die Existenzen wechseln, was ich sehr bedauerlich finde. Ich bin vom Typus her eher seßhaft und treu. Habe ich Freunde gefunden, so sehe ich eigentlich keinen Grund, mir neue zu suchen. Habe ich eine Frau geheiratet – und Heiraten gehört unbedingt dazu –, so würde ich gerne diese eine Frau behalten. Aber das geht leider nicht. Ein Mann, der scheinbar nicht altert, ist für eine Frau eine Zumutung. Da nützt es nichts, mich tausendmal zu entschuldigen oder auf die Fältchen unter meinen Augen zu verweisen, die ja immer die gleichen Fältchen bleiben, keines dazu kommt, keines größer wird, während die jeweilige Frau an meiner Seite verzweifelt einen ungleichen Kampf führt. Ich habe auf dieser Welt nur gute Ehen geführt und mußte sie dennoch zur rechten Zeit beenden, dumme Ausreden benutzend, solcherart stets einen traurigen und enttäuschten Menschen zurücklassend. Ich halte es für das größte Unglück, das ich kenne, die Wahrheit nicht sagen zu können. Lügen zu müssen. Aber was soll ich tun, ich bin ein Agent, sogar ein Agent erster Klasse. Die Lüge ist mein Geschäft.

Wie gesagt, ich war bereits in Jugendjahren von der Erde begeistert. Dank vager Vorstellungen. Zu dieser Zeit wußten wir wenig über das Leben auf diesem Planeten. Noch waren die Verantwortlichen desinteressiert. Man sagte sich, daß jeder sein eigenes Ding machen solle und es besser wäre, wenn diese Dinge sich nicht überkreuzten, weil jede Überkreuzung die Gefahr unkontrollierter Verknotung in sich trage. Und man weiß doch, welche aggressiven Gefühle Knoten hervorzurufen verstehen. Vor allem bei kurzlebigen Wesen, die gar nicht über die Zeit verfügen, ewig lange an einem Knoten herumzufingern.

So kam es, daß unser Interesse an der menschlichen Rasse eher theoretisch blieb beziehungsweise Leuten überlassen war, die, gleich was sie taten, stets den Begriff Hobby anzufügen sich verpflichtet fühlten. Die Erde war etwas für Laien.

Ich muß an dieser Stelle also meine Heimat ins Spiel bringen, auch wenn ich nur zu gut weiß, daß die menschliche Idee von einer außerterrestrischen Existenz gerne in Richtung grüner Männchen geht oder aber dieses Thema Teil eines selten intelligenten Kasperltheaters für Freunde utopischer Geschichten ist. Zudem ist es ganz richtig, wenn die Gegner diverser UFO-Szenarien von der Unmöglichkeit sprechen, die gewaltigen Distanzen im Universum zu überwinden. Das wird wahrlich ein ewiges Hindernis bleiben, selbst für Leute, deren Alter tausend Jahre und mehr zählt. Wir werden nie durch Wurmlöcher passen, und wir werden weder den Raum noch die Zeit überlisten. Und schon gar nicht wird der Trainer mit sich reden lassen.

Aber von welchem Raum reden wir überhaupt? Wenn der Homo sapiens an Außerirdische denkt, denkt er immer an ferne Galaxien, zumindest an den nächstgelegenen Stern, freilich nie an das eigene Sonnensystem. Man tut so, als handle es sich um ein ziemlich übersichtliches Gelände, welches längst erforscht und durchwandert ist, ja als spreche man vom Frankenwald oder den Trimm-dich-Wegen rund um den Wörthersee. Die Leute bekommen zu hören, der Mars sei definitiv unbewohnt, keine Mikrobe weit und breit, und glauben es sofort. Dabei stellt sich die Frage, über welchen Mars da eigentlich gesprochen wird. Jener Mars, auf dem die Amerikaner ein paar Roboter absetzen konnten, die in der Folge ein Gebiet von der Größe eines Schrebergartens erobert haben? Man stelle sich vor, diese Roboterchen würden gar nicht wegen ihrer leeren Batterien keine Signale mehr aussenden, sondern einfach darum, weil irgend jemand versehentlich auf sie draufgestiegen ist. Ich will jetzt nicht sagen, es gäbe Leben auf dem Mars, noch dazu Leben mit der Fähigkeit, versehentlich auf was draufzusteigen, aber wenn die Forscher so tun, als wüßten sie bestens über den Mars Bescheid, ist das eigentlich eine Frechheit.

Man sollte nun bedenken, daß gerade in den Gebieten jenseits des Asteroidengürtels etwas besteht, das man in Anlehnung an die Formulierung weiße Flecken als schwarze Flecken bezeichnen kann. Und tatsächlich schwirrt dort draußen derart viel kohlehaltiges Zeug und stark verdrecktes Eis durch die Gegend, daß die Sicht praktisch verstellt ist. Nach beiden Seiten hin, versteht sich. Sodaß es einigen glücklichen Fügungen zu verdanken war – und sehr viel weniger unserer etwas weiter fortgeschrittenen Technik –, daß wir die Erde entdeckten, die Erde aber nicht uns.

Was die Menschen nicht wissen können – wenngleich einige ihrer Wissenschaftler diesbezügliche Vermutungen bereits aufgestellt haben –, ist folgendes: Das Sonnensystem, in dem wir alle leben, ist ein Doppelsternsystem. Wobei die Leuchtkraft dieser zweiten Sonne um einiges schwächer ausfällt, der Planet hingegen, von dem ich herstamme, bedeutend größer ist als die Erde und auch sehr viel näher an seiner Sonne gelegen. Unser Planet ist weniger blau, mehr graubraun, aber ebenfalls sehr schön. Die Meere grün wie englischer Rasen. Wie gesagt, es gibt kaum Würmer, überhaupt weniger Wirbellose, weniger Parasiten, dafür eine Unmenge Vögel. Manchmal ist der Himmel schwarz davon. Die Vögel sind unsere Plage. Und auch wenn sie uns nicht angreifen, sondern bloß die Landwirtschaft bedrohen, ihren Kot über die Städte verteilen und diverse Krankheiten in Umlauf bringen, war mir gar nicht zum Lachen zumute, als ich das erste Mal Hitchcocks »Vögel« sah. Wir wissen bis heute nicht, wie das mit diesen Tieren so kommen konnte, warum sie sich seit Jahrtausenden derart vermehren. Den Rest haben wir eigentlich ganz gut im Griff, die Umweltverschmutzung hält sich in Grenzen (wobei einige meinen, daß wir genau darum das Problem mit den Vögeln haben), die Armut verringert sich ständig, und die Kriege, die hin und wieder ausbrechen, sind nicht weiter von Bedeutung – wenige Tote, wenig Ehrgeiz, eher handelt es sich Reminiszenzen an frühere Kriege, ja man könnte von Scharmützeln sprechen, von miniaturisierten Konflikten, die einer puren Sentimentalität entspringen. Nein, jeder hier weiß, nicht zuletzt die Generäle, daß die Zeit der echten Kriege vorbei ist. Es hat sich einfach ausgekriegt. Als Ersatz dafür hat man viel Geld in die Weltraumforschung investiert. Ganz nach dem Motto, anstatt den Nachbarstaat zu erobern, diese Ehre dem Weltraum zuteil werden zu lassen. Nun ja, zuerst ging es um die zwei Monde, die uns umkreisen, die aber auch nicht viel spannender als la Luna sind. Darum hielten wir Ausschau nach interessanteren Dingen. Es war ein Mann namens Nurgaski, der dank eines Systems, das er »Befragung reisender Teilchen« taufte, erste handfeste Beweise für die Existenz einer zweiten, gewissermaßen antipodisch gelegenen Sonne erbrachte. Für eine gewisse Zeit entbrannte eine große Euphorie, ein Interesse am Exotischen. Man entwarf neue, ausdauernde und eher »familiär« gestaltete Raumschiffe und schickte kleine Besatzungen los, die gemäß den Entfernungen recht lange unterwegs waren. Aber eine Spanne von dreißig, vierzig Jahren ist natürlich angesichts einer im Bereich der Tausend stehenden Lebenserwartung viel leichter zu verkraften, als wenn ein Mensch sein halbes Leben opfern müßte, um den größten Teil der Zeit durch eine leere Schwärze zu segeln.

Vor etwa fünfhundert Jahren war es dann so weit, daß eine erste Expedition die Erde erreichte und dank einer so einfachen wie raffinierten Nachrichtenübermittlung einen Bericht über diesen Planeten lieferte. Was uns logischerweise sofort beeindruckte, war der Umstand, daß die Menschheit keine Probleme mit ihren Vögeln zu haben schien. Allerdings irritierte und erschreckte uns die geringe Lebenserwartung der Erdenbewohner. Gerade darum, weil der Körperbau, die Sprachentwicklung, die diversen Formen des Zusammenlebens, selbst noch Architektur und Kunst zu der unsrigen so verwandt anmutete, mitunter sogar vollkommene Übereinstimmungen festzustellen waren, etwa ethnische Merkmale. Die zwei größten Unterschiede ergaben sich also aus dem Lebensalter und den Vogelpopulationen. Wir überlegten darum, ob die Kurzlebigkeit der Menschen in einem kausalen Zusammenhang zur fehlenden Dominanz der Vögel stand. Was wiederum hätte bedeuten müssen, daß wir unsere eigene Langlebigkeit mit einem ornithogenen Fluch bezahlten.

Aber das blieb alles Spekulation. Völlig klar war dagegen, daß der technische Fortschritt auf der Erde in den nächsten Jahrhunderten enorm sein würde, während der eigene trotz aller Bemühungen stagnierte. Was von einigen Kritikern mit dem geringen Auftreten von Kriegen oder kriegerischen Konflikten auf unserem Planeten in Zusammenhang gebracht wurde. Ja, es formierte sich eine Bewegung, die den Krieg aus Gründen der Vernunft forderte. Und wenn nicht Krieg im eigenen Land, auf dem eigenen Kontinent, der eigenen Welt, dann vielleicht wenigstens Krieg mittels des Versuchs, die weit entfernte Menschheit zu erobern. Doch dies war illusorisch. Wir wären nie in der Lage gewesen, die Unmenge von Kriegsmaterial quer durch das Sonnensystem zu transportieren, abgesehen von den Heeren kriegsmüder Soldaten. Und wozu? Um Rohstoffe zu rauben, über die wir selbst in ausreichendem Maße verfügten? Um Kunstwerke zu plündern, wo doch schon damals unsere Museen vor Kunst überquollen? Um des Brandschatzens willens? Nein, die Kriegsbewegung blieb eine kleine Gruppe idealistischer Spinner. Während von offizieller Seite beschlossen wurde, auf einen direkten Kontakt mit der Menschheit zu verzichten, sie aber aus Sicherheitsgründen im Auge zu behalten.

Man schickte Agenten auf die Erde, die sich problemlos unter das jeweilige Volk mischten, unauffällige Existenzen gründeten, ihre Beobachtungen niederschrieben und darauf warteten, ausgewechselt zu werden. Kaum jemand kümmerte sich um diese Berichte, wir hatten unsere eigenen Probleme. Wieviel Gifte wir auch in Umlauf brachten, die Vögel blieben unbeeindruckt. Wäre es möglich gewesen, wir hätten sie mit Atombomben bekämpft. Angesichts solcher Schwierigkeiten ließ es uns völlig kalt, als die Nachricht eintraf, auf der Erde sei der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Wird Zeit, dachten die, die den eigenen ersten Weltkrieg noch einigermaßen im Gedächtnis hatten. (Das ist übrigens ein weiteres Problem, das wir neben der Vogelplage haben: unser Gedächtnis. Unser hohes Alter kollidiert mit einer Gedächtnisleistung, die ähnlich gering ist wie beim Menschen. Somit ist es mitunter nicht ganz einfach, sich daran zu erinnern, was man vor dreihundert Jahren so getrieben hat.)

Der Beginn dieser ersten großen, weltumspannenden Schlacht war also kein Thema für uns. Sehr wohl aber die Mitteilung eines unserer Agenten, die uns eineinhalb Jahrzehnte später erreichte. Im Grunde waren wir bereits 1905 ein wenig aufgeschreckt worden, als ein Erdenbürger namens Pervial Lowell auf Grund gewisser Bahnabweichungen des Neptuns auf die Idee gekommen war, es könnte ein neunter Planet existieren, und sich folglich auf die Suche nach einem Objekt machte, das er Transneptun nannte und das er auch tatsächlich auf zwei seiner fotografischen Platten hätte entdecken können. Er übersah es aber. Das Übersehen ist sowieso das Grundprinzip der Astronomie, weil Astronomen immer dort suchen, wo sie gemäß ihren Berechnungen meinen suchen zu müssen, also an den falschen Plätzen. Gleich diesen Heteros, welche mit merkwürdiger Zielsicherheit ständig in Schwulenkneipen geraten. Darum basieren die meisten Entdeckungen auf Zufällen, gewissermaßen dann, wenn jemand auf dem Weg in die nächste Schwulenkneipe der Frau seines Lebens über den Weg läuft. Genauer: über diese Frau stolpert. So war es auch eher ein Zufall, als 1930 ein gerade erst frisch angestellter Mitarbeiter des Lowell-Observatoriums, ein Mann namens Clyde Tombaugh, jenen Transneptun an einem anderen Platz als dem erwarteten entdeckte.

Somit war es an der Zeit, ihm einen richtigen Namen zu geben. Sie tauften ihn Pluto. Ja, der wunderbare Pluto, der auch für unsereins, die wir ihn quasi von der anderen Seite ins Fernglas bekommen, eine magische Qualität besitzt. (Und keinesfalls würden wir es wagen, ihn zu einem Zwergplaneten herunterzustufen!)

Damals jedenfalls, also 1930, wurden ein paar Leute bei uns nervös. Natürlich mußte die Entdeckung Plutos nicht bedeuten, daß die Menschen irgendwann in der Lage sein würden, die Existenz einer zweiten Sonne und somit auch unseres Planeten feststellen zu können. Aber erstens war mit der Entdeckung Plutos gewissermaßen eine Grenze erreicht worden – und das Wesen von Grenzen ist es, zur Überschreitung anzustacheln –, und zweitens hatte man konstatiert, daß, um die Bahnabweichungen des Neptuns zu erklären, Pluto zu klein sei. Obgleich es später heißen sollte, besagte Unregelmäßigkeiten in der Neptunbahn seien auf falsche Messungen zurückzuführen und es hätte alles auch ohne einen zehnten Planeten seine Ordnung, begann dennoch die Suche nach einem Planeten X, eine Suche, die sich – sehr zu unserem Bedauern – bis heute nicht erledigt hat, trotz der Entdeckung von Sedna und Eris im Kuipergürtel. Ein paar Leute auf der Erde hören nicht auf, ein wesentlich größeres Ding dort draußen zu vermuten, und sie haben ja recht. Das Dümmste dabei ist, daß die zuständigen Wissenschaftler demnächst bei einigen ihrer Raumsonden Bahnstörungen feststellen werden, die genau die Existenz eines solchen großen Planeten X nahelegen. Und daß dann die Suche erst so richtig losgeht. Und wo gesucht wird, da wird auch gestolpert. Zwischen all den Schwulenkneipen steht da plötzlich eine Frau fürs Leben.

Bekanntermaßen sind die Menschen augenblicklich weit davon entfernt, ihre Utopien von vor fünfzig Jahren einzulösen und mit elegant um die eigene Achse kreisenden Raumschiffen das Sonnensystem zu durchwandern, andererseits wissen wir in der Zwischenzeit, daß man sich vor ihnen, den Menschen, in acht nehmen muß. Sie verfügen über eine Art von brillanter Verschlagenheit, für die man sie bewundern darf und fürchten sollte. Es wäre uns in jedem Fall lieber, würden wir nicht eines Tages in den Teleskopen der Menschen auftauchen wie im aufgehenden Loch eines alten Stummfilms.

1930, als wir die Nachricht von Tombaughs Entdeckung des Planeten Pluto erhielten, gingen die Verantwortlichen daran, eine größere Gruppe von Agenten zur Erde zu schicken. Agenten erster Klasse. Männer und Frauen. Einer davon war ich. Es dauerte gut zwanzig Jahre – viel schlechte Filme, viel Schlaf, viel warmes Bier (Gott weiß warum wir die Sache mit dem Bier nicht hinbekamen)–, bis wir unser Ziel, die Erde, erreichten und uns sodann auftragsgemäß verteilten, um unsere Einsatzorte aufzusuchen, Dokumente zu fälschen, Berufe zu ergreifen, zu heiraten…nur das mit dem Kinderzeugen und Kinderkriegen funktioniert nicht. Ist wahrscheinlich auch besser so.

Das heißt also, daß ich seit den Neunzehnhundertfünfzigern hier bin. Und ich darf sagen, ich bin es gerne, obgleich mein Auftrag längst vom Geruch des Sinnlosen erfüllt ist. Ich schreibe Berichte und sende sie ab. Früher gab es hin und wieder eine Antwort, einen Befehl, einen kurzen Gruß, doch seit gut fünfundzwanzig Jahren schweigen sich die da oben aus. Bis gestern. Ich dachte schon, man hätte mich vergessen. Aber so ist es nicht. Sie haben mich nicht vergessen. Beziehungsweise dürfte ich ihnen wieder eingefallen sein. Ja, das Gedächtnis. Das schlechte Gedächtnis ist die Vogelplage in unseren Köpfen.

Als die Order kam, ahnte ich bereits, mein Auftrag würde irgendwie mit jener Sonde zusammenhängen, welche die NASA zwei Jahre zuvor Richtung Pluto geschickt hatte. Das kann uns nämlich gar nicht recht sein, daß die Menschen eins ihrer Geräte dorthin befördern. Wir haben auf Pluto ein bißchen herumgebaut, nichts Weltbewegendes…na ja, die Erdbewohner würde es wahrscheinlich schon bewegen, festzustellen, daß sie nicht als einzige den Hang besitzen, in den ungastlichsten Gegenden wissenschaftliche Stationen einzurichten, damit ein paar Pinguinforscher was zu tun haben. – Nein, es gibt keine Pinguine auf Pluto. Das ist nur so ein Bild.

Darum hatte ich es erstaunlich gefunden, daß offensichtlich niemand aus meiner Mannschaft dazu befehligt worden war, den Start der Plutosonde zu sabotieren. – Übrigens steht keiner dieser Agenten mit einem anderen in Kontakt. Wir wurden in alle Winde zerstreut, und es müßte schon ein besonderes Glück geschehen, daß diese Winde zwei von uns per Zufall wieder zusammenführen. Aber selbst wenn das geschieht, ist es mehr als fraglich – trotz unserer geringen Alterung –, ob wir uns erkennen. Vielleicht im Gespräch, wenn eine glückliche Fügung es mit sich bringt, daß man über warmes Bier ins Reden kommt und einem nach und nach ein Lichtlein aufgeht. Doch grundsätzlich ist zu sagen: Ein Agent erkennt einen Agenten nicht oder nur schwer.

Ein Vierteljahrhundert mußte ich also warten, bis man wieder Kontakt zu mir aufnahm. Übrigens nicht via Radio oder Fernseher oder eine komplizierte technische Einrichtung, sondern dank eines Glases Wasser. Die Menschen haben nämlich keine Ahnung, was man mit Wasser alles anstellen kann. Sie denken immer, im Licht liege die Wahrheit. Es ist die Geschwindigkeit des Lichts, welche beeindruckt und zu großen Träumereien verführt. In Wirklichkeit ist es aber das Wasser, das einen richtig weiterbringt. In jeder Hinsicht. Hätten die Menschen eine Ahnung von den Möglichkeiten des Wassers, sie würden jeden Schluck mit der allergrößten Hochachtung zu sich nehmen und nicht sinnlos lange unter der Dusche stehen. Sie würden kleine Gebete sprechen, bevor sie darangehen, Autos zu waschen, Geschirr zu spülen oder gar in einen See zu springen.

Richtig, wir transportieren unsere Nachrichten mit Wasser. Was bei solchen Entfernungen ein wenig dauert, aber eben nicht ewig. Zudem ist die Qualität verblüffend gut und die Zielgenauigkeit groß. Allerdings genügt es nicht, ein einziges Glas Wasser auf den Tisch zu stellen. So einfach ist die Anpeilung bei einer Entfernung von immerhin mehr als fünfzig astronomischen Einheiten nun auch wieder nicht. Darum ist es nötig, daß ich – gleich, wo ich gerade lebe – mir einen Extraraum einrichte, den ich mit Gläsern voll Wasser zustelle. Es müssen immer Gläser sein, ein Becken wäre Unsinn, in einem Becken würde sich die Mitteilung verlieren, zu einem Kauderwelsch verschwimmen. Natürlich ist es nicht ganz leicht, der eigenen Frau verständlich zu machen, warum man in seinem Hobbykeller ein paar hundert Gläser plaziert hat. Ich habe immer wieder erklärt, es handle sich um ein Experiment. Was für ein Experiment? fragten meine Frauen. Ich antwortete ein jedes Mal: »Ein musikalisches Experiment.« Das ist eine Antwort, die beruhigt, auch wenn es verwundern mag, nie etwas zu hören zu bekommen. Aber ich habe ja schon darauf hingewiesen, immer nur mit guten und freundlichen Frauen zusammengewesen zu sein. Und die freundlichste, liebenswerteste ist ganz sicher die, mit der ich nun seit gut zehn Jahren eine glückliche Ehe führe. In einer Stadt namens Stuttgart, in einem Stadtteil namens Botnang. Ruhiger und friedlicher als an diesem Ort kann es gar nicht zugehen. Doch ich rede nicht von einer langweiligen oder dummen Ruhe. Sondern von einer gesunden Ruhe. Damit argumentiere ich ja auch, wenn Maritta sich beschwert, ich hätte mich in den zehn Jahren unseres Zusammenseins so gar nicht verändert. Oft sagt sie zu mir: »Weißt du, Klaus, du bist als der Ältere von uns beiden in diese Ehe gegangen, aber ich befürchte, am Ende dieser Ehe wirst du eindeutig der Jüngere sein.« Ich versuche das abzuschwächen und erkläre gerne: »Das ist das Klima in Botnang. Das ist das Leben mit dir. Ich bin von Gesundheit umgeben. Wie, bitte, soll ich da altern?« Man kann sich vorstellen, wie sie bei dieser Aussage kritisch ihre Augenbrauen zusammenzieht. Allerdings lächelt sie dazu. Sie nimmt mich auf eine gutherzige Weise nicht ernst. Ich will auch gar nicht ernst genommen werden. Als Agent bin ich zur Unauffälligkeit verpflichtet. Meine mit Abstand größte Eskapade besteht darin, den Keller mit Wassergläsern vollgestellt zu haben.

Als ich nun gestern, wie ich das jeden Abend tue, in selbigen Keller hinunterstieg, da sah ich es sofort. Auf der Wasseroberfläche eines einzigen Glases hatte sich die markante Ringstruktur gebildet, nicht anders, als würden in kurzen Abständen Tropfen auf die Fläche auftreffen. Tropfen aus dem Weltall. Unsichtbare Tropfen. Tropfen, die durch jedes Material dringen, sich aber in einem kleinen Glas Wasser verfangen. Nachrichten von Zuhause.

Ich räumte rasch die anderen Behältnisse zur Seite und legte sodann eine einfache Glasplatte auf das betreffende Gefäß. Sekunden später strömte das aus früheren Zeiten vertraute lilafarbene Licht nach oben, bildete eine zopfförmige, schlanke Säule, bevor mit einem kurzen, festtäglichen Funkenschlag der holographische Text sichtbar wurde.

Das Problem ist die Kurzlebigkeit dieser Nachrichten. Man muß sich also beim Lesen beeilen. Wobei ich leider ein wenig aus der Übung bin. Aber es ging dann doch, sodaß ich mit einigem Erstaunen die Details meines Auftrags zur Kenntnis nehmen konnte. Eines Auftrags von höchster Priorität, wie mehrmals betont wurde.

Als ich da auf der in Fliederblau leuchtenden Säule den Namen »Archaeopteryx« las, dachte ich an irgendeinen stinknormalen Saurier. Erst nach und nach wurde mir klar, daß von einer Übergangsform die Rede war, ja im Prinzip von einem Vogel, vielmehr der Mutter aller Vögel. Und wenn einer wie ich das Wort »Vogel« liest, ist er sogleich alarmiert. Ich erkannte, daß es sich um einen echten Auftrag handelte. Keinen Spaß, keine Beschäftigungstherapie.

Es muß nun erwähnt werden, daß auf meinem Heimatplaneten gewisse geologische Paradoxien vorherrschen, die es uns verunmöglichen, so weit in die Urgeschichte unseres Planeten vorzudringen, wie dies auf der Erde gern geübte Praxis ist. Das ist natürlich vor allem in bezug auf die exorbitante, seit jeher bestehende Übermacht der Vögel höchst bedauerlich. Zumindest glauben viele unserer Wissenschaftler, daß, wenn sie die genaue Entwicklungsgeschichte der Vögel kennen würden, sie erstens das Problem in seiner eigentlichen Bedeutung begreifen könnten und man zweitens viel eher in der Lage wäre, eine biologische Waffe gegen die extreme Vermehrung zu entwickeln.

Wie sich im Laufe der Zeit herausgestellt hat, sind unsere beiden Vogelwelten – die der Erde wie die meines Heimatplaneten (den wir also, weil die Menschen es nun mal tun, X nennen wollen) – beinahe völlig identisch, selbst noch, was die Lebensdauer der einzelnen Vogelarten betrifft.

Während ich den zusehends schwächer werdenden Säulentext las und begriff, daß man allen Ernstes von mir verlangte, ein solches Archaeopteryxfossil zu entwenden und höchstpersönlich nach X zu befördern, entwickelte ich nach langer Zeit wieder ein Gefühl dafür, was ich eigentlich bin: ein Agent. Und nicht nur ein Mann, der so tut, als sei er ein Agent, und welcher in seinem Keller »musikalische Experimente« durchführt.

Die Anweisungen meiner Vorgesetzten erwiesen sich als äußerst präzise. Ich beeilte mich, sie herunterzulesen und in mein Diktaphon zu sprechen. Wort für Wort. Wenn meine Vorgesetzten etwas hassen, dann die freie Auslegung von Befehlen. Nun gut, das dürfte so eine Art planetenübergreifendes Kulturgesetz sein.

Es ist wohl dem Umstand meiner Stuttgarter Existenz zu verdanken, daß man mich ausgewählt hat. Denn in vernünftiger Entfernung zu dieser Stadt liegt ein Landstrich, den man Fränkische Alb nennt und wo sich auch der Ort Solnhofen befindet. Und genau dort, in einem kleinen Museum, ist jenes Fossil ausgestellt, dem einige Leute auf X eine solche Bedeutung beimessen. Möglicherweise aus purer Verzweiflung, vielleicht aber mit gutem Grund. Jedenfalls scheint es nicht zu genügen, Informationen über diese Versteinerung nach oben zu funken. Sie wollen das Original. Unbedingt.

Ich bin übrigens nicht der erste X-Agent, der mit einem solchen Auftrag bedacht wird. So verschwand etwa 1991 ein Exemplar aus Privatbesitz und tauchte nie wieder auf. Augenscheinlich hat es sich einer unserer Leute angeeignet, um damit nach X zu reisen. Was gleichfalls für ein Fragment gilt, das als die Nr. 9 in der Reihe der elf offiziellen Archaeopteryxfunde bezeichnet wird. Allerdings sind es nicht elf, sondern dreizehn. Die restlichen beiden wurden bereits zuvor von Agenten erster Klasse aufgespürt und auf den Weg gebracht.

Dies bedenkend, erscheint es ein wenig überraschend, daß meinem Auftrag – angeblich – eine solche Bedeutung zukommt, wenn doch sowieso schon mehrere derartige Objekte in Richtung X befördert worden sind. Keine Ahnung, vielleicht will man einfach sichergehen. Die Raumfahrt ist alles andere als eine gemütliche Angelegenheit. Auch ohne Klingonen oder die dunkle Seite der Macht. Die Dunkelheit an sich, diese ewige Leere, die freilich konterkariert wird von herumfliegenden Brocken und viel unguter Strahlung, weiters die bereits erwähnte Unfähigkeit, in unseren Raumschiffen ein halbwegs gescheites Bier herzustellen, vor allem natürlich der Hang der Technik, auch bester Technik, zu versagen, ja die fatale Bedeutung einer einzelnen Schraube, hat sich selbige Schraube einmal gelockert, nicht weniger, wenn es sich um eine flüssige Schraube handelt – dies und einiges mehr ist kaum eine Garantie für ein sicheres Reisen. Zudem ist es nicht an mir, die Sinnhaftigkeit eines Auftrags zu beurteilen, ich habe lediglich ihn auszuführen. Agenten wurden nicht zum Denken geboren, heißt es. Wenn sie denken, dann ist das ihr Privatvergnügen.

Das Traurige an dieser Geschichte besteht indes darin, daß ich gezwungen bin, die Erde zu verlassen. Ich habe mich an dieses Leben, an die Menschen, vor allem an mein Liebesglück gewöhnt. Nicht, daß es auf X keine Frauen gibt, nicht, daß dort die Ehen schlechter wären, aber…nun, ich hatte auf der Erde in dieser Hinsicht sehr viel mehr Erfolg als auf X. Warum auch immer. So was passiert. Es gibt Deutsche, die müssen nach Tokio gehen, um glücklich zu werden, und Japaner, denen sich erst in Flensburg das Wunder der Liebe offenbart. Manche müssen reisen, manche müssen zu Hause bleiben. Und wohl dem, der sich für das Richtige entscheidet.

Doch es geht nicht allein um die Frauen. Es geht um alles. Es geht um meine Botnanger Idylle. Hier fühle ich mich geborgen. Geborgen in einem Leben, dessen augenscheinlichste Qualität die des Gleichmaßes ist. Es gibt keinen Grund, sich nach wilden Abenteuern zu sehnen, nach rasanten Autofahrten und Aufputschmitteln zwischen den Mahlzeiten. Ich kenne die Dolomiten, ich kenne die Côte d’Azur, ich kenne das Nachtleben von London, aber ich habe dort nichts entdecken können, was es mit der elementaren Ausgewogenheit kleinstädtischen Lebens aufnehmen kann. Ich rede nicht von Dörfern. Dörfer sind die Hölle. Nein, ich meine Orte, die genau die richtige Größe besitzen, das richtige Niveau, wo man die Natur in nächster Nähe weiß, ohne daß diese Natur einem quasi die Tür einrennt, wie sie das auf dem Land zu tun pflegt.

Es ist ganz bezeichnend, daß ich seit einigen Jahren als Herausgeber einer vierteljährlichen Druckschrift fungiere, die in Anlehnung an ein Linzer Periodikum der Biedermeierzeit sich »Schwäbisches Bürgerblatt für Verstand, Herz und gute Laune« nennt. Natürlich hat das auch etwas Provokantes, einen solchen Namen gewählt zu haben, heutzutage, wo »gute Laune« allein einem Zustand starker Betäubung zugeordnet wird, begleitet von den grausam-lustigen Gesängen volkstümlicher Musik. Ich meine jedoch eine gute Laune, die sich zwangsläufig aus einer Kultivierung des Verstandes und des Herzens ergibt.

Meine Zeitschrift ist dabei alles andere als eine konservative Erbauungslektüre für Wanderfreunde. Eher steckt darin der Aufruf zum Ungehorsam. Nicht unbedingt zur Revolution, das würde mir und meinen Autoren nicht entsprechen. Mit der Revolution sind die große Geste und das große Theater verbunden. Viel Blut, aber wenig gute Laune. Mit dem Ungehorsam ist es anders. Der Ungehorsam ist eine private oder wenigstens halbprivate Sache. Die Frage ist nämlich die, ob jemand, der seine Suppe nicht essen will, einfach nur renitent ist oder ob es vielmehr einen guten Grund dafür gibt. Die Suppe kann ja etwa vergiftet sein. Und würde es nicht auch reichen, festzustellen, daß diese Suppe schlecht schmeckt? Und daß es eben eine Frage des Verstandes und des Herzens ist, statt einer schlechten Suppe sich eine gute Suppe kommen zu lassen? Woraus wiederum mit Sicherheit ein Gefühl guter Laune resultieren würde. – Ich weiß nicht genau, warum das so ist, aber es scheint ein mysteriöses Prinzip der Politik zu sein, den Bürgern schlechte Suppen vorzusetzen. Ich bin zuwenig Mensch, auch nach fünfzig Jahren nicht, um beurteilen zu können, ob das Elend politischer Suppenherstellung auf Unfähigkeit oder Bösartigkeit basiert.

Jedenfalls versuche ich mit meinem kleinen Magazin dem Publikum Wege zu weisen, sich eigene Suppen herzustellen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie gut etwas schmecken kann, das nicht versalzen ist und nicht aus der Tüte stammt. – Meine Gegner freilich sprechen von abgehobener Lyrik, philosophischem Unfug oder neobiedermeierlichem Gesülze. Doch wer eine Frau wie Maritta an seiner Seite weiß und sich tagtäglich in den Wäldern um Botnang ein wenig von der Kraft der Natur in die Nase zieht (ich kenne Koks bestens, ich weiß also um den Unterschied), der hält solche Angriffe ganz gut aus, nicht minder die Ignoranz, die einer schöngeistigen Zeitschrift leider Gottes zuteil wird.

Was nun an meinem Auftrag (heutzutage heißt das wohl Mission) besonders verwirrt, ist der Umstand, daß nicht nur das Fossil eines Urvogels zur Ladung gehören soll, sondern auch ein Picasso. Ich habe es ja schon angedeutet, daß unsere eigenen Museen schrecklich überfüllt sind. Darunter nicht wenige Bilder im Stile des berühmten Spaniers.

Picasso ist ein Maler, den ich wenig schätze. Seine Meisterschaft ist die eines Mannes, der von anderen abmalt und es dann hinkriegt, das Fremde für das eigene auszugeben. Beziehungsweise den Eindruck erzeugt, das Fremde – also die Kunst der Kollegen – in etwas Neues, eben Picassoartiges verwandelt zu haben. Das ist aber ein Punkt, den ich nicht erkennen kann. Wenn ich Picasso mit den Malern vergleiche, von denen er abgemalt hat, sehe ich nichts Besseres oder Moderneres. Das Originellste an Picasso ist wahrscheinlich seine tatsächlich imponierende, höchst selbstbewußt aufgetragene Signatur. Und vor allem sein Leben, die Präsentation seines Lebens auf dem Silbertablett der Künstlerklischees. Die Malwut, die Frauen, der Stierkampf, die politische Geste, das Leben eines Bohemiens gepaart mit bäurischer Einfachheit, alles kokett, alles im Bewußtsein des Fotografiertwerdens. Das merkt man auch den Kunstwerken an. Sie sehen alle aus, als seien sie Teil einer Fotoreportage, als sei ihr Entstehen kein intimes, sondern ein latent öffentliches gewesen. Mal abgesehen davon, daß es von niedriger Gesinnung zeugt, derart viele Werke in die Welt zu setzen, als wollte man die Welt mit der eigenen Kunst zuschütten, um jetzt nicht von zuscheißen zu sprechen. Picasso hat das Bedürfnis des Publikums nach einem omnipotenten Frauenhelden und Jahrhundertgenie in Person eines unansehnlichen kleinen Mannes befriedigt. Das scheint die Menschen anzuturnen, nicht nur die Männer, die sich logischerweise gerne vorstellen, selbst noch als häßliche Greise die Jungfrauen ins Bett zu schleppen, sondern offenkundig ebenso die Frauen, die sich mit Hilfe dieser napoleonischen Männer in eine höhere Sphäre schrauben, nicht allein die dummen Gänse, auch die gescheiten Gänse. Das ist heute nicht viel anders als zu Picassos Zeiten. Ich wundere mich immer wieder, was für kluge und attraktive und nicht selten charismatische Frauen sich an die Seite von Männern begeben, die auf eine unappetitliche Weise alt und auf eine clowneske Weise anstrengend geworden sind, die jedoch im Verdacht stehen, genial zu sein. Genial im Sinn einer unübertragbaren Krankheit: ein Virus gleich einem Pudelkern. Entweder hoffen diese Frauen, sich trotzdem irgendwie anzustecken. Oder sie meinen, als höchstpersönliche und ihrerseits geniale Krankenschwestern zu fungieren.

Ich liebe Braque, ich liebe vor allem Rousseau, ich mag Modigliani und finde auch Matisse ganz okay, aber Picasso ist mir ein Greuel, weil nun mal jeder Picasso eine Fälschung ist, zumindest ein Betrug. Und darum bin ich wenig erfreut darüber, nicht nur einen in der Tat sehr beeindruckenden und unverzichtbaren Vogel, sondern dazu einen durchaus verzichtbaren Picasso durch das Weltall schippern zu sollen. Na, wenigstens handelt es sich um keine dieser von Picasso in seinen späten Jahren massenhaft hergestellten Schmierereien, sondern um ein Werk aus der rosa Periode, ein Werk, das in keinem der Werkverzeichnisse aufgeführt ist: »Junge Frau mit Hündchen«.

Auch tröstet es mich, nur einen Diebstahl begehen zu müssen, nämlich das Fossil betreffend. Der Picasso hingegen scheint bereits in unserem Besitz zu sein. In meiner Order heißt es, es werde noch eine Nachricht an mich ergehen, wo ich den Picasso in Empfang zu nehmen habe. Sodann solle ich mit den beiden sichergestellten Objekten nach Portland fliegen. Letztendliches Ziel sei der Mount Hood, genauer gesagt ein auf dessen Südseite gelegenes Hotel namens Timberline Lodge. Dort werde man mich erwarten. Das Raumschiff befinde sich in der Nähe des Hotels. Geplante Zahl der Besatzung: fünf.

Was für fünf? frage ich mich. – Frauen? Männer? Hunde? Doch darüber weiß ich nichts. So wie man mir auch mit keinem lilafarbenen Wort erklärt hat, wie es zu bewerkstelligen sei, den Archaeopteryx aus dem Solnhofener Museum herauszubekommen und durch die diversen Kontrollen nach Amerika zu schmuggeln. Das bleibt mir wohl selbst überlassen. So viel zur Präzision von Befehlen.

Dies also ist der Auftrag, den ich nach fünfundzwanzig Jahren Sendepause von meinen Vorgesetzten erhalten habe. Ohne daß ich sagen könnte, ob es sich um dieselben Vorgesetzten wie vor fünfundzwanzig Jahren handelt und inwieweit sich die Firmenpolitik seither geändert hat. Stellt es noch immer eine Maxime dar, den Menschen das Wissen vorzuenthalten, nicht alleine in diesem Sonnensystem zu leben? Gilt noch immer unser Grundsatz, sich in die inneren Angelegenheiten der Erde nicht einmischen zu wollen? Und wie sieht es mit jener Regel aus, nach welcher wir uns das Verbot auferlegt haben, die Erde zu plündern? Ich meine, angesichts eines Picassos, dessen Existenz, würde sie bekannt werden, sicherlich für einige Aufregung in der Kunstwelt gut wäre. Abgesehen von der Aufregung, die auch außerhalb der Kunstwelt losbräche, würde die Entführung des Gemäldes in den Weltraum ruchbar werden.

Und dennoch, mein Problem ist nicht der Picasso, sondern der Vogel.

Ich fühle mich unwohl. Alles geht dem Ende zu, mein Leben mit Maritta, das gut und gerne weitere zehn Jahre hätte dauern können, meine Botnanger Idylle, meine kleine Zeitschrift, meine Spaziergänge, meine bescheidenen Aktivitäten, mein Glück.

Ja, ich bin Agent und werde gezwungen sein, ein Verbrechen zu begehen. Ein Objekt zu rauben. Und Gott gebe, daß es damit getan ist.

Aber was soll ich sonst tun? Mich blindstellen?

Nein, Blindstellen ist nicht drin. Nicht bei jemand, der noch ein paar hundert Jahre vor sich hat und schließlich irgendwann auch wieder zurück in seine Heimat will. Sowenig dort das Glück der Liebe auf ihn warten mag.