| Zu ebener Erde und im zweiten Stock

Um acht stand Lorenz Mohn wie vereinbart vor der Türe Sera Biltens und drückte die Klingel. Denn warum sollte er auf das Abendessen verzichten? Warum sollte er auf die Möglichkeit verzichten, seine Geliebte zu sehen?

Die Tür ging auf und gab den Blick frei auf die Frau aller Frauen. Sie trug ein elegantes Kleid, das wie ein kleines Gedicht auf ihrer Haut lag. Ein Gedicht weniger Worte, ohne gleich in eine japanische Sparsamkeit zu verfallen. Die Japaner übertreiben alles, den Krieg, die Tradition, die Moderne, das Essen und eben die Sparsamkeit.

»Schön, mein Schatz, daß du gekommen bist«, sagte sie, gab ihm einen Kuß auf die Wange, nahm seine Hand und führte ihn in eine Wohnung, von der er eigentlich nur die Dusche wirklich kannte.

Es sollte sich nun herausstellen, daß er sich bezüglich der Lage von Seras Schlafzimmer gründlich geirrt hatte. Es befand sich an völlig anderer Stelle. Dort, wo Lorenz es vermutet hatte, war ein kleiner Arbeitsraum, ein Nähzimmer, in dem auch Dinge wie Bügelbrett und Wäscheständer untergebracht waren. Aber halt kein Bett. Somit war es einer Fehleinschätzung zu verdanken, daß Lorenz am Abend zuvor eine Metalltüre aufgebrochen und die Werkstätte eines Mannes entdeckt hatte, dem uralte Tiere wichtiger gewesen waren als frische Semmeln.

Lorenz fragte sich, ob alles anders gekommen wäre, hätte er diesen Irrtum nicht begangen. Er legte die Frage zu den anderen Fragen, nicht zu denen zwischen den Zähnen. Eher zu denen, die im Magen nisten.

Nachdem Lorenz sich durch die in warmen Farben gehaltene, gemütliche und für eine einzelne Person recht große Wohnung hatte führen lassen, nahm er im Eßzimmer Platz, wo er eine Flasche in die Hand gedrückt bekam, die er öffnen sollte. Erst jetzt fiel ihm ein, weder Wein noch Blumen, noch sonst was mitgebracht zu haben. Sondern, wie das im Scherz oft gesagt wird, bloß sich selbst. Aber darum ging es – jenseits der Scherze – doch auch wirklich. Bei schlechten Gästen nützte selbst der beste Wein nichts. Und bei guten kam es nicht darauf an, daß irgendein Florist oder Vinothekbetreiber seinen Reibach gemacht hatte. – Dies einsehend, ersparte sich Lorenz eine Entschuldigung, entkorkte zügig die Flasche und schenkte ein.

»Am Nachmittag war die Polizei hier«, erzählte Sera, während man weißes Brot in eine mit Okraschoten versetzte Sauce tauchte. »Ein gewisser Stirling. Bißchen komisch, daß die jetzt Engländer hier arbeiten lassen.«

»Er ist Grieche mit englischen Wurzeln.«

»Er hat sich nach uns erkundigt.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Ich bin ein bißchen vulgär geworden und hab erklärt, ich würde mich von dir vögeln lassen.«

»Er hat dich doch sicher gefragt, warum du mich hernach aus der Wohnung geworfen hast.«

»Geworfen? Das scheint wirklich ein Problem für euch Männer zu sein: Frauen, die hin und wieder alleine sein wollen. Herr Stirling hat es genausowenig verstanden. – Ein schöner Mann übrigens. Fast so schön wie du.«

»Willst du mich eifersüchtig machen?«

»Das wäre das vorletzte, was ich tun möchte.«

»Und das letzte?«

»Über das letzte und das erste sollte man nie sprechen.«

»Und über den Toten unten im Laden?« fragte Lorenz. »Sollte man darüber sprechen? Ich meine, jetzt beim Essen.«

»Ich habe damit kein Problem«, erklärte Sera.

»Kanntest du diesen Mann, diesen Nix?«

»Klar kannte ich ihn. Er war der Bäcker im Haus. Wir fanden es traurig, als er zusperrte. Der Semmeln wegen. Er selbst war eher unsympathisch. Oft mürrisch. Hatte wohl bloß seine alten Tierknochen im Sinn. So geht die Welt unter. Anstatt Brot für die Lebenden zu backen, was Totes ausgraben.«

»Na, jetzt kann er sich selbst ausgraben«, meinte Lorenz.

Sera lachte. Aber es war kein richtiges Lachen, auch kein verstecktes. Ein königliches. Das Lachen von Leuten, die herrschen. Sera war eine Herrscherin, allerdings modern und klug. Sie beendete ihr Lachen in der Art, wie man einen Schminkspiegel zuklappt, dann fragte sie Lorenz, welches Gefühl das für ihn gewesen sei, als er die Leiche entdeckt hatte.

»Unwirklich. Ich war nicht einmal richtig geschockt, trotz des vielen Bluts. Wäre ich geschockt gewesen, wäre ich aus dem Raum gelaufen. Statt dessen kriech ich Depp am Boden rum, um mir einen Überblick zu verschaffen. Wirklich idiotisch! Jetzt wollen die von der Polizei natürlich wissen, warum ich so viel Blut an den Händen hatte. Ein Glück, daß ich den Toten nicht angefaßt habe.«

»Dieser Stirling«, sagte Sera, »hat etwas von einer Warnung erzählt, die du erhalten hast.«

»Jemand wollte verhindern, daß ich das Geschäft anmiete.«

»Das ist aber nicht alles, oder?«

»Es steht da geschrieben, ich soll mich von dir fernhalten. Du scheinst einen ziemlich rabiaten Verehrer zu haben. Irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?«

»Nein, wirklich nicht«, antwortete Sera.

»Jedenfalls werde ich einen Teufel tun. Außer…na, außer, du selbst willst es so. Ich meine, angesichts dieser ganzen blutigen Geschichte.«

»Ja, schön dumm von mir«, erkannte Sera, »hier mit dir zu sitzen.« Gleichzeitig gab sie zu bedenken: »Wobei wahre Liebe eigentlich bedeuten müßte, dich augenblicklich rauszuwerfen. Um dich nicht weiter in Gefahr zu bringen. Aber…«

Lorenz folgerte: »Aber ganz so groß ist deine Liebe nun auch wieder nicht.«

Ihm war unklar, wie ironisch er das meinte. Und ob überhaupt ironisch.

Sera postulierte: »Liebe, die aus Verzicht besteht, ist religiöser Blödsinn. Nein, wir werden zusammenbleiben und halt ein wenig vorsichtig sein. Damit du nicht genauso unter einem Bett endest. – Das war Spaß! Ich glaube nicht, daß der Tote und dieser Brief an dich irgendwie zusammenhängen.«

Lorenz hingegen glaubte das durchaus.

Das glaubte übrigens auch Stavros Stirling, der zur gleichen Zeit, da Lorenz und Sera ihr Nachtmahl einnahmen, sich zwei Stockwerke unter ihnen befand, in Nix’ alter Werkstatt, um nochmals den Tatort zu untersuchen. Er betrachtete den Flecken am Boden, das Blut, das der Steinboden aufgesaugt hatte, betrachtete das Fossil auf der Arbeitsfläche und die gepinnten Notizblätter darüber. Natürlich fiel ihm die eine leere Fläche auf, doch eine Lücke konnte ja auch von sich aus bestehen und brauchte nicht zu bedeuten, daß etwas fehlte. Dies war überhaupt die grundlegende Frage bei der Betrachtung eines Tatorts, den Eindruck des Absenten richtig zu bewerten. Denn dieser Eindruck bestand schließlich per se. Überall fehlten Dinge. Aber was hatte es jeweils zu bedeuten? Ein Messer zuwenig im Messerblock mußte nicht zwangsläufig auf eine Tatwaffe verweisen, sondern konnte auch heißen, daß dieses Messer schon viel früher verschwunden war oder daß es gar nie existiert hatte.

Stirling löste sich von der Lücke. Die Experten würden ihm ganz klar sagen können, ob hier etwas gehangen hatte oder nicht. Doch was nützte das schon? Er würde kaum erfahren, was genau es gewesen war. Oder wer es entfernt hatte. – Stirling gehörte zu jenen Ermittlern, die wenig von der Technik hielten. Klar, hin und wieder kam es vor, daß ein Stückchen Stoff, ein Tröpfchen Blut, ein Partikelchen Haut den richtigen Hinweis auf den Täter gaben. Aber in Wahrheit diente die Spurensicherung in erster Linie der Arbeitsplatzbeschaffung. Die Beschattung von Verdächtigen brachte da wesentlich mehr ein. Denn interessanterweise konnten sich – trotz allgemeiner Diskussion über den Überwachungsstaat – die wenigsten Menschen ernsthaft vorstellen, eine derartige Aufmerksamkeit zu verdienen. So kriminell sie sein mochten. Auch viele Kriminelle litten unter dem Gefühl der Minderwertigkeit, der Nichtbeachtung. Sosehr sie davon träumten, die Welt in Atem zu halten oder wenigstens von einer ganzen Stadt gesucht zu werden, fühlten sie sich nicht selten verlassen. Ja, von der Polizei verlassen.

Aber manch einer wird eben doch beschattet.

Und genau das war es, was im Moment geschah. Stavros Stirling ließ Lorenz Mohn beschatten. Nicht, weil er Lorenz für den Täter hielt. Stirling war trotz seiner relativen Jugend erfahren genug, um ein sehendes Huhn von einem blinden zu unterscheiden. Denn obgleich Lorenz Mohn nicht als vollkommen harmlos gelten konnte, schien er kaum über das Potential zu verfügen, einem Menschen die Gurgel durchzuschneiden. Für Stirling hatte es genügt, zu beobachten, wie Mohn eine Tasse Kaffee in die Höhe hob: zögerlich, halbherzig, den Henkel wie einen zu großen Ring über den Finger schiebend, sodann die Lippe in Erwartung eines Mangels oder Makels an den Tassenrand schiebend, in Erwartung von übergroßer Hitze, von zuviel Süße, zuviel oder zuwenig Milch und so weiter. Jemand aber, der in der Lage war zu töten, der in der Lage war, eine Klinge durch lebendes Fleisch zu ziehen, dem sah man genau diese Fähigkeit selbst dann an, wenn er eine Tasse Kaffee in die Hand nahm. Ein solcher Mensch tötet den Kaffee, bevor er ihn trinkt. Und nicht nur das. Er tötet quasi ein jedes Wort, bevor er es ausspricht. Deshalb muß er kein Mörder sein. Aber er besitzt das Potential. Und Lorenz Mohn besaß es nun mal nicht. – Gut, das konnte man freilich nicht als Argument in einer Ermittlung anführen, versteht sich, doch für Stirlings persönliche Einschätzung war es dennoch bedeutsam.

Wenn sich Stirling also in Mohns Nähe aufhielt, dann nicht, um einen Täter im Auge zu behalten, sondern einen Zeugen. Einen Zeugen, den ein Faden – ein ähnlicher wie der zwischen dem richtigen Mann und der richtigen Frau – mit dem Täter verband. Ja, auch Stirling glaubte an Fäden. Man mußte nur ein wenig Geduld aufbringen, bis man sie sah. Bis das Licht stimmte.

Stirling begab sich zurück auf die Straße und griff nach seinem Handy. Zuerst rief er die Kollegen an, die er im Haus gegenüber postiert hatte und welche Lorenz Mohn praktisch in die Suppe sahen. Kalte Schnittlauchrahmsuppe. Sera Bilten war eine ausgezeichnete Köchin. Die zwei Beamten, die mit Feldstecher und Kamera hinüberlugten und ein Richtmikro installiert hatten, kauten indessen an ihren Leberkässemmeln. Was in dieser Stadt für die Semmeln galt, galt auch für den Leberkäse: Zweiter Weltkrieg.

»Wie ist der Stand?« fragte Stirling.

»Unser Liebespaar ißt und redet«, berichtete der Polizist.

»Was essen sie?« fragte Stirling.

»Irgendwas Weißes.«

»Und was reden sie?«

»Sie reden über Sie, Stirling.«

»Über mich?«

»Ja, wie klasse Sie aussehen. – Manche Leute haben scheinbar nichts Besseres zu tun, als sich über gutgebaute Jünglinge zu unterhalten«, sagte der Polizist, der ganz sicher kein gutgebauter Jüngling war und zudem stinkesauer, seine Befehle von einem blauäugigen Griechen zu empfangen.

Selbiger Grieche ignorierte die Bemerkung, wies die beiden Kollegen an, am Ball zu bleiben, und legte auf. Sodann wählte er eine sehr viel längere Nummer.

»Hallo, mein Liebling«, säuselte Stirling, als sich die Stimme seiner Frau meldete.

»Ach du«, sagte Inula mit abfälligem Ton. Sie war alles andere als begeistert ob seines Auslandsaufenthalts, der sich über ein halbes Jahr erstrecken sollte. Auch wenn Stavros immer wieder mal nach Athen flog, wo er und Inula am Stadtrand lebten, zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn.

»Wie geht es Leon?« fragte Stavros.

»Er ist bei Sarah.«

Sarah Steinbeck lebte bei den Stirlings, seit ihre Mutter Lilli, eine österreichische Polizistin in deutschen Diensten, in Russisch-Fernost vermißt wurde. Auch darum war es nicht wirklich schlimm, daß Stavros so selten zu Hause war. – Es ist schon klar, daß in unserer heutigen Zeit die Bedeutung der Väter für ihre kleinen Kinder hochgehalten wird. Wieso eigentlich? Weil die Zärtlichkeit der Frauen nicht ausreicht? Weil Männer besser im Wickeln sind? Weil niemand so gut ein aufgeblähtes Bäuchlein massieren kann wie ein liebender Papa? Was für ein Unsinn! Männer können mit Kleinkindern nicht umgehen, das ist ein Faktum. Frauen, die meinen, ihren Männern ihre Babys überlassen zu müssen – nur, um sich nicht ausgenutzt zu fühlen –, sind darum Rabenmütter zu nennen, weil sie ihr ideologisches Bedürfnis oder auch nur ihre Faulheit über die Sicherheit des Kindes stellen. Eine gute Mutter vertraut ihr Kind nicht einem Kerl an, der vielleicht eine Bowlingkugel halten kann, einen Queue, sogar noch eine zarte Schachfigur, aber sicher keinen Säugling. Sosehr sich selbiger Kerl vielleicht auch bemühen mag. Oder so tut, als ob er sich bemüht. Er ist und bleibt in dieser Hinsicht ein Bauer. Bei einem fünfjährigen, sechsjährigen Kind ist es dann sofort etwas anderes. Mit ihm kann der Mann Hand in Hand über die Straße gehen, Seite an Seite ins Schwimmbecken springen, in die nächste Schlammpfütze oder was auch immer. Frauen sollen Präsidentinnen werden oder Polizistinnen oder irgendeinen Krieg anführen, wenn sie unbedingt wollen, aber sie sollten ihre Babys nicht einem Mann überlassen.

So gesehen hatte es Leon ziemlich gut. Er wurde von zwei Frauen bestens betreut. Und wenn er hin und wieder seinen Vater sah, war das natürlich in Ordnung, aber kaum von Bedeutung. Dafür war später auch noch Zeit. Es gibt nämlich Mutterzeiten und Vaterzeiten.

»Er fühlt sich wirklich wohl bei Sarah«, vermeldete Inula. »Schreit kaum mehr. Wie damals bei Lilli. Unser Sohn scheint was für diese Steinbecks übrig zu haben.«

»Und du?« fragte Stavros. »Wie geht es dir?«

»Die Hitze zur Zeit ist unerträglich. Wobei das Gute an der Hitze ist, daß sie nicht weniger unerträglich wäre, wenn du bei mir wärst.«

»Aber ich gehe dir schon ab, oder?« köderte Stavros.

»Was magst du hören?« Inula hob ihre Stimme an. »Nimmst diesen dummen Job an und willst jetzt, daß ich vor Sehnsucht vergehe.«

»Davon redet niemand.«

»Wovon sonst? Oder soll ich dir vielleicht erzählen, daß ich morgen ein Rendezvous habe? Weil ich mich gar so einsam fühle.«

»Das ist jetzt aber ein dummer Scherz, oder?« zeigte sich Stavros unsicher. Das war nicht neu. So gutaussehend er war, sosehr er seit Jugendtagen immer nur den Beifall der Damenwelt empfangen hatte, so schwach fühlte er sich in bezug auf Inula. Das war es ja gewesen, was ihn so an ihr angezogen hatte. Diese gewisse Kälte und Unnahbarkeit. Vor allem jedoch das Gefühl der eigenen Verletzlichkeit, das Inula bei ihm auslöste. Er war sich ihrer nicht wirklich gewiß, würde es nie sein. Darunter litt er. Gleichzeitig steckte in diesem Leiden ein guter Geist. Ein Geist, der seine Liebe zu ihr ewig erhalten würde. Manche Menschen brauchen das. Manche Menschen brauchen Berge, deren Gipfel sie niemals erreichen.

»Mein Gott«, sagte Inula, »wo soll ich schon einen Mann kennenlernen?«

Aber das stimmte nicht. Sie hatte wieder zu arbeiten begonnen. Halbtags in einem Architekturbüro.

»Deine Kollegen würden sicher gerne…«

»Die reden mir zuviel«, bekannte Inula.

»Wie meinst du das?«

»Wie soll ich das denn meinen? Wie ich es sage.«

Für Stavros hatte es freilich geklungen, als würde sich Inula an der Geschwätzigkeit dieser Männer nur darum stören, weil ihr ein charmanter Flirt mehr lag denn ein angeberischer Vortrag über schematisierte Geometrie im Industriebau. Gut, so war es wohl auch. Keine andere Disziplin erwies sich derart als ein Hort von jeglichem Charme befreiter Männer wie die Architektur. Warum das so war, konnte niemand sagen. Denn die Architektur an sich war ja nicht uninteressant. Aber offensichtlich steckten Architekten alles Interessante in ihre Häuser hinein. So, daß für sie selbst nichts mehr übrigblieb.

 »Ich wollte eigentlich nur sagen«, erklärte Stavros, »daß ich jetzt gerne bei dir wäre.«

»Aha. Darum gehst du also nach Österreich – um dich dann besser nach mir sehnen zu können.«

»Mußt du immer so hart sein?« fragte Stavros.

»Logisch ist nicht hart. Auch wenn es denen, die immer unlogisch sind, so vorkommen mag.«

»Na gut, dann schick ich dir ganz einfach einen Kuß.«

»Danke. Ich dir auch.«

Ja, mehr war heute nicht drin. Stavros legte auf. Er tat ein paar Schritte zur Straßenmitte hin und sah hinauf zum zweiten Stockwerk, dort, wo ein orangefarbenes Licht zwei Fenster erfüllte, wobei schwer zu beurteilen war, ob sich in den Scheiben der Abendhimmel spiegelte oder vielmehr ein von Lampenschirmen und buntem Glas gefärbtes Raumlicht nach außen drang. Jedenfalls saß hinter diesen Fenstern ein Paar, dem es weit besser ging als ihm selbst und seiner Inula. Trotz Drohbrief und dem Umstand einer Leiche.

Stavros hätte seine zwei Kollegen anrufen mögen, um nachzufragen, welche Speise gerade an der Reihe war. Aber was hätten die beiden Idioten schon sagen können? Was Rotes mit Nudeln.

In der Tat hatte Sera gerade Pasta serviert. Allerdings nicht in Rot, sondern in jenem gelben und beigefarbenen Ton, der sich dank einer Eierschwammerlsauce ergab. Es dauerte jedoch bis zum Dessert – ein Ding, für das es scheinbar keinen Namen gab und das aus einer aus verschiedenen Nüssen, Cognac, Honig, Weichseln sowie Kakao und Marzipan zusammengesetzten Masse bestand –, bis Lorenz sich dazu durchringen konnte, von dem Vogel zu erzählen. Dem Vogel auf der Karte, die er eingesteckt hatte.

»Warum das denn?« fragte Sera.

»Keine Ahnung. Es war ein Impuls.«

»Bist du ornithologisch veranlagt? Oder kleptomanisch?«

»Ich wußte ja zuerst gar nicht, was das überhaupt für ein Viech ist«, verteidigte sich Lorenz, zog das Bild aus der Tasche, legte es vor Sera hin und erklärte, man habe es hier mit einem Archaeopteryx zu tun.

Sera drehte die Karte um und las: »Keine Angst vor alten Tieren!– Aha, und was soll das heißen?«

»Weiß nicht. Aber schon ziemlich komisch.«

»Möglicherweise ein typischer Paläontologenspruch.«

»Könnte sein«, sagte Lorenz. »Jedenfalls hätte ich die Karte nicht einstecken dürfen. Wenn die Polizei das mitkriegt, werden sie sich wieder weiß Gott was denken.«

»Sie brauchen es ja nicht zu erfahren«, meinte Sera. »Die Karte hat wahrscheinlich ohnehin nichts zu bedeuten.«

Doch entgegen dieser Vermutung schlug Sera nach am Essen vor, nach hinten zu gehen und sich schlau zu machen. Mit »nach hinten« war jenes vermeintliche Schlafzimmer gemeint, bei dem es sich in Wirklichkeit um das Nähzimmer handelte. Dort stand auch Seras Computer.

Man nahm sich also eine weitere Flasche Wein sowie zwei Gläser und wechselte ans andere Ende der Wohnung. Es war ein ungemein frischer Geruch, der den kleinen Raum erfüllte, einen Raum, der so ganz anders war als sein Gegenstück zu ebener Erde. Während dort unten alles einen toten Eindruck machte, mutete hier alles lebendig an. Erst recht der Bildschirm, der jetzt wie ein kleines Fenster aufging, ein Fenster, hinter dem die große Welt sich öffnete. Ewig lange, grüne Wiesen, auf denen die Wahrheit mit derselben Heftigkeit sprießte wie die Lüge und keine grasende Kuh das eine vom anderen hätte unterscheiden können.

Freilich besteht das Prinzip einer Existenz als Kuh darin, daß man nicht weiß, eine solche zu sein. Beziehungsweise sind die Kühe immer die anderen.

Sera öffnete die Wikipedia-Seite zum Thema Archaeopteryx. Eine Lebendrekonstruktion zeigte ein Wesen mit einem entenartigen Schädel, einem kompakten Körper, angelegten Flügeln und einem ausgesprochen langen, gefiederten Schwanz. Im Unterschied zu dem Skelett auf der Ansichtskarte bestand hier kein Zweifel, es mit einem Vogel zu tun zu haben, auch wenn – wie die Seite informierte – zugleich »urtümliche«, also reptilienhafte Merkmale bestanden, etwa die Existenz von Zähnen und Bauchrippen oder das Fehlen eines knöchernen Brustbeins. Zudem schien die Sonderstellung dieses in den Solnhofener Plattenkalken entdeckten und 150 Millionen Jahren alten Urvogels neuerdings von vogelähnlichen theropoden Sauriern gefährdet, die gleichfalls mit einem Federkleid ausgestattet gewesen waren. – Es versteht sich geradezu, daß man diese neuen Fossilien in China entdeckt hatte. Für die Chinesen war alles eine Weltmeisterschaft geworden. In diesem Fall halt eine Weltmeisterschaft im Ausgraben urtümlicher Vögel. Wenn man den Chinesen weismachte, man habe in Europa eine prähistorische Waschmaschine entdeckt, würden sie augenblicklich prähistorische Waschmaschinen ausbuddeln. Die Chinesen waren verrückt nach der Welt.

Und dennoch: Der Archaeopteryx nahm schon deshalb eine unverwechselbare Position ein, weil erstens nur zehn Skelettfunde existierten und zudem der zweite Fund, das sogenannte Londoner Exemplar, eine Schlüsselrolle im Wissenschaftsstreit um den Darwinismus gespielt hatte. Obskurerweise war es ausgerechnet jener Mann gewesen, der am vehementesten Darwins Theorien bekämpft hatte, welcher alle legalen und schließlich auch illegalen Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um das Archaeopteryxfossil in seinen Besitz zu bekommen und die erste Beschreibung und Bewertung vorzunehmen. Der gute Mann hatte sich gewissermaßen den Teufel der Aufklärung ins eigene Haus geholt und war sodann an der Wahrheit zugrunde gegangen. Eine Wahrheit, die darin bestand, daß der Archaeopteryx als perfektes Missing link, als durch das obere Jura hüpfende, flatternde, vielleicht kletternde, vielleicht gleitende, vielleicht fliegende, jedenfalls mit »modernen« asymmetrischen Schwungfedern ausgestattete taubengroße Kreatur eine Verbindung zwischen alten Echsen und neuen Vögeln herstellte. Und solcherart also Darwin bestätigte.

Begonnen hatte dies alles mit einer einzelnen fossilierten Feder, die im Steinbruch von Solnhofen entdeckt worden war und von der man auf den Urvogel geschlossen hatte. Was ja sowohl als ein schönes Verfahren als auch als ein nicht minder schönes Symbol gelten kann: das Detail als Ursprung allen Wissens. Zuerst die Feder, dann der Vogel. Zuerst das Wort, dann die Welt. Zuerst der Fehler, dann das Unglück. – Pikant an der Geschichte ist allerdings, daß bis heute nicht geklärt werden konnte, ob diese Feder tatsächlich von einem Archaeopteryx stammt. Was aber auch seinen Reiz hat, daß nämlich eine möglicherweise falsche Feder auf den richtigen Vogel verweist.

Im Grunde war man schon früher einmal, nämlich 1855, auf einen Archaeopteryx gestoßen, doch die korrekte Zuordnung des sogenannten Haarlemer Exemplars erfolgte erst in den neunzehnhundertsiebziger Jahren.

Ein Jahr nach der Feder entdeckte man jenes Skelett, das in der Folge nach England »entführt« wurde, um dort auf so tragisch-vergnügliche Weise ein Eigentor der Darwin-Gegner zu verursachen.

Daneben gab es noch das Berliner Exemplar, das Maxberger Exemplar, das seit dem Tod seines Entdeckers als verschollen galt, ein Fossil im Besitz des Jura-Museums in Eichstätt, weiters den besonders gut erhaltenen Archaeopteryx bavarica in München, zudem ein Fragment, von dem weder der Besitzer noch der Ort der Aufbewahrung bekannt waren, sowie ein wichtiges Objekt, das sich diesmal nicht die Engländer, sondern die Amerikaner unter den Nagel gerissen hatten. Was ja die Chinesen grundsätzlich von den Amerikanern unterscheidet. Die Chinesen graben sich ihre eigenen Vögel aus.

Fehlten also noch zwei Exemplare. Und die befanden sich im Bürgermeister-Müller-Museum in Solnhofen. Ein im Jahre 2004 gefundenes Fragment und ebenjenes wunderschöne, an eine biochemische Kreatur erinnernde Fundstück, welches auf der Karte abgebildet war, die Lorenz Mohn vom Tatort entwendet hatte.

Tatort?

Konnte dieser Raum wirklich auch der Tatort sein? War das möglich? Einen solchen Mord zu begehen, während er, Lorenz, geschlafen hatte?

Lorenz und Sera sahen sich noch einige Illustrationen auf anderen Seiten an, sodann schloß Sera wieder das Fenster ihres Computers, und man rutschte zurück in die kleine Welt des Nähzimmers. In einen Raum ohne Wiesen.

»Wie heißt der Ort doch gleich, wo sie diesen Vogel ausstellen?« fragte Lorenz, der es nicht so mit Namen hatte.

»Solnhofen«, antwortete Sera, die es sehr wohl mit Namen hatte. Wie übrigens die meisten Frauen. Das ist ein Phänomen. Frauen müssen in ihrem Kopf über ein großes Quartier für Namen verfügen. Und für Zahlen, die mit diesen Namen in Verbindung stehen. So ist ihre Natur.

Männer wiederum neigen zum Abenteuer, selbst wenn sie eher zu den Feigen oder auch nur Vernünftigen zählen. Es ist ein Trieb, wie gesagt wird, ein Abenteuertrieb, der sogar die Mutlosen dazu verführt, den Frieden und die Ruhe zu opfern und einer Sache zu folgen, deren Sinn und Zweck vage bleiben.

»Ich überlege gerade«, sagte Lorenz, »ein paar Tage Urlaub zu nehmen und mir dieses Solnhofen anzusehen. Beziehungsweise das Original von dem Vogel.«

»Und wozu?«

Statt eine Antwort zu geben, sagte Lorenz: »Komm doch mit. Dann müssen deine Heiratskandidaten mal ohne dich zusammenfinden.«

»Und die Polizei?«

»Ich werde denen sagen, ich bräuchte ein wenig Erholung nach dem Schock. Solnhofen klingt ja einigermaßen unverdächtig.«

»Wie kommst du auf die Idee, es könnte unverdächtig sein, wenn du dich an einen Ort begibst, der eine zentrale Rolle in der Paläontologie spielt?«

Lorenz verzog sein Gesicht zu einem kleinen Unfall und sagte: »Stimmt. Ich muß mir das noch einmal überlegen. Trotzdem fände ich es fein, wenn wir zusammen wegfahren könnten. Das tut man doch so, wenn man sich verliebt hat, nicht wahr?«

»Ja, merkwürdig«, fand Sera, »daß die Frischverliebten so gerne verreisen. Man könnte meinen, sie würden vor irgendwelchen Konsequenzen flüchten. Die Konsequenzen wenigstens aufschieben.«

»Ich will gar nichts aufschieben«, betonte Lorenz Mohn und nahm Sera in die Arme. Seine Hände lagen auf ihren Schulterblättern, als halte er einem Kind von hinten die Augen zu. Dann küßte er Sera auf eine betont kontrollierte Art. Bißchen komisch. Na, vielleicht wollte er auf diese Weise kundtun, kein dummer kleiner Bub zu sein, der nicht wußte, was er tat, und sich ständig von Leidenschaften übermannen ließ.

Egal, wenig später lagen sie im Bett.

»Die liegen jetzt im Bett«, gab einer der Polizisten an Stavros durch, denn auch das Schlafzimmer führte auf die Rosmalenstraße hinaus. Was hingegen im rückwärtig gelegenen Nähzimmer geschehen war, konnten die Observateure nicht sagen. Die Stärke ihrer Abhöranlage reichte nicht aus, um bis dorthin vorzudringen. Und auf Wanzen in Seras Wohnung hatte man verzichtet. So wichtig war ein toter Bäcker nun auch wieder nicht, um das volle Programm zu rechtfertigen. Da mußte schon mehr her: Drogen, Terror, Politik, vor allem aber Interna. Die normalen Bürger hätten gelacht, hätten sie gewußt, daß die Behörden in erster Linie sich selbst abhörten, ein Verein den anderen. Es gehörte richtiggehend zum Alltag, daß jemand aus der Justiz oder Polizei, der jemanden abhören ließ, solcherart vom eigenen Abgehörtwerden erfuhr. Ein großes Theater war im Gange, ein Abhörtheater, ein walzerartig sich wirbelndes Geben und Nehmen, eine Art von Der Kongreß tanzt.

Da nun aber bereits im Eßzimmer die Rede vom Archaeopteryx gewesen war, konnten die beiden Beobachter ihren Vorgesetzten Stirling darüber in Kenntnis setzen, daß Lorenz Mohn offensichtlich einen Gegenstand vom Tatort hatte mitgehen lassen, eine Karte mit einem Vogel drauf.

»So ein alter Vogel«, sprach der eine Polizist in sein Handy, »genauer gesagt, der Rest von einem alten Vogel. Ein Archae-Irgendwas. Ist das nicht ungemein interessant?«

Klang irgendwie zynisch. Kein Wunder, denn der wenig gutgebaute Beamte fand es überflüssig, hier herumzusitzen und diesen zwei Leuten ins Essen und ins Bett zu schauen, während im Fernsehen ein wichtiges Fußballspiel lief.

(Selbstredend war das ein Klischee, daß ein Mensch, der den Namen Archaeopteryx nicht aussprechen konnte, gerne Fußball sah. Aber das Klischee lebte und atmete.)

Stavros allerdings ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und meinte: »Ja, das ist in der Tat aufschlußreich. Ich danke Ihnen. Sie können bald gehen. Fünf Minuten noch, dann komme ich rauf und übernehme.«

Der schöne Grieche, dessen schwarzes Haar einen Schuß dunkles Grün besaß, Zauberwaldgrün, betrachtete die Pinnwand. Das war es also gewesen. Das Foto eines Urvogels. Und wenngleich es schien, daß Lorenz Mohn die Karte ohne guten Grund genommen hatte – eine Art Souvenir des eigenen Erschrockenseins –, so spürte auch Stavros, daß dem Vogel eine gewisse Bedeutung zukam.

Er beugte sich über den Arbeitstisch. Die Spurensicherung hatte die Dinge so gelassen, wie sie gewesen waren, mit dem ganzen Werkzeug und dem zu Dreiviertel freigelegten Fossil. Was eigentlich nicht hätte sein dürfen. Aber was hätte nicht alles nicht sein dürfen? Auf dem Fossil war kein Blut gewesen, ebensowenig auf der Gerätschaft, auch sonst keine Spuren. Man konnte nicht alles eintüten und ins Labor bringen. Ein geradezu notwendiges Prinzip der Spurensicherung lautete: nichts übertreiben.

Darum konnte Stavros Stirling nun den Arbeitsplatz des Herrn Nix genau in dem Zustand betrachten, in dem dieser ihn zurückgelassen hatte. Er studierte den Gesteinsbrocken durch die große Lupe, folgte der feinen Struktur der Versteinerung, den wellenartig geordneten, wie mit einem Rechen in feuchten Sand gesetzten Windungen. Auch Stavros schätzte, daß es sich um Ausscheidungen oder ein pflanzliches Gefüge handeln müsse. Die Gleichmäßigkeit allerdings irritierte ihn, erinnerte an einen mittels Bewegung und Kraft erfolgten Prozeß, wie bei Wasser oder Wind und…wie bei einem Artefakt. Was jedoch kaum in Frage kam. Nicht bei einem Mann wie Nix, der zwar Bäcker, aber kein Bildhauer gewesen war.

Stavros nahm den flachen Stein und drehte ihn um. Die Rückseite war ausgesprochen glatt und etwas dunkler. Rechts unten war mit einem Kugelschreiber eine Markierung vorgenommen worden, eine Zahlenreihe: 134340.

Sah aus eine wie eine Telefonnummer. Aber wahrscheinlich handelte es sich simplerweise um die Kennzeichnung des Steins.

Wenn eine Stunde zuvor Lorenz Mohn gegenüber Sera von einem Impuls gesprochen hatte, der ihn dazu verleitet hatte, die Archaeopteryxkarte von der Pinnwand zu holen, so war es wohl einer ähnlichen »Schwerkraft« zu verdanken, daß jetzt Stavros Stirling den Stein an sich nahm und somit den Fundort des Leichnams erneut schmälerte. Würde diese Geschichte nur lange genug dauern, dann würde…siehe Akropolis. Andererseits war ein solches Handeln, das Mitgehenlassen, zutiefst menschlich. Es war Teil tief verwurzelten Jagens und Sammelns, selbst noch, wenn es im Supermarkt geschah. Das würden die Supermarktbetreiber natürlich nie verstehen oder akzeptieren, aber es war so. Mit Diebstahl hatte das nichts zu tun. Die Natur konnte man nicht bestehlen. Und vom Standpunkt des Jägers und Sammlers war selbstverständlich alles Natur.

Stavros Stirling steckte sich den Gesteinsbrocken in die Tasche seines Sakkos und dachte: »Es wird schon für etwas gut sein.«

Sicherlich würde es das.

Als er wenig später das Kabinett betrat, von dem aus die Wohnung Sera Biltens beobachtet wurde, erhoben sich die beiden Polizisten augenblicklich. Nicht aus Respekt, sondern um den Raum so rasch als möglich zu verlassen.

»Haben Sie ein Problem damit, daß ich Grieche bin?« fragte Stavros.

»Wollen Sie eine ehrliche Antwort?« erkundigte sich jener wenig gutgebaute Endfünfziger.

»Wenn Sie mich so fragen, eigentlich nicht.«

Stavros ließ die beiden Männer ziehen und begab sich hinüber zu dem Fernrohr, das auf einem Stativ montiert war. Er hörte, wie einer der beiden die Türe zuschlug. Er war vor den Österreichern gewarnt worden. Aber das hatte ihn wenig beeindruckt. Und es beeindruckte ihn noch immer nicht. Klar, er wußte, daß sich die Österreicher besonders viel auf ihren Fremdenhaß einbildeten, daß sie meinten, selbiger sei gleichzeitig radikaler und kultivierter als anderswo. Doch nach Stirlings Anschauung war das Unfug, simple Mythenbildung – für Österreicher von Österreichern. Außerdem gab es auch nette Leute hier. Etwa seinen Vorgesetzten Spann. Dessen Schweigsamkeit besaß eine hohe Qualität. Wobei es keineswegs so war, daß Spann nie redete. Mit ihm, Stirling, redete er. Dann, wenn es nötig war.

Stirling blickte durch das Okular. Die Vorhänge zum Schlafzimmer waren nur halb zugezogen und bildeten solcherart ein reduziertes Format, so wie das früher im Kino gewesen war, wenn man einen Schmalfilm gezeigt hatte. Lorenz und Sera waren gut zu sehen und auch gut zu hören. Stirling mußte schmunzeln angesichts des Umstands, hier einen Mann, der jüngst noch in Pornos gespielt hatte, bei einem realen Liebesakt zu beobachten. Als würde man einem Profigolfspieler bei einer privaten Minigolfpartie zusehen. – Nein, das war ein blödsinniger Vergleich. Aber es blieb dabei, daß sich Stirling schwer vorstellen konnte, daß Leute, die Sex als Profession betrieben, ihren privaten Geschlechtsverkehr wirklich ernst nahmen. Etwa die Prostituierten, die jedem, der dafür bezahlte, sagten, wie unglaublich gut er sei. Und die doch wohl kaum noch in der Lage waren, es einmal auch tatsächlich so zu meinen. – Nun, das war die Sicht eines Laien, die Stirling da vertrat. Und eigentlich hätte ihm auffallen müssen, wie perfekt und anmutig das wirkte, was dort drüben geschah. Etwas, das genau in der Mitte lag zwischen den Affektationen eines Pornos und der traurigen Wirklichkeit grober Ungelenkigkeit und schneller Schüsse. Er hätte es nicht nur sehen, sondern auch hören müssen, wie hier zwei Menschen ihrer Leidenschaft Töne verliehen, die ebenfalls jene goldene Mitte bedienten. Es waren Töne, die das, was die beiden taten, weder dramatisierte noch abschwächte. Töne in der Art kleiner Hilferufe. Hilferufe wie bei Kindern, die spielen und deren Hilferufe sich nicht aus einer Not, sondern einer Freude am Rufen begründen.

Doch worauf Stavros Stirling sich jetzt konzentrierte, war etwas ganz anderes. Er dachte an den Stein in seiner Sakkotasche. Die merkwürdige Struktur darauf, vor allem aber die Numerierung. Er nahm sein Auge vom Okular, drehte die Lautstärke des Aufnahmegeräts etwas leiser und setzte sich hinüber an den Tisch, wo der obligate Laptop stand. Er klinkte sich in die Welt saftiger grüner Kuhwiesen ein und suchte nach Entsprechungen für die Ziffernfolge 134340.

So ergab sich eine Folge von Mausklicken, was freilich weniger nach Maus klang, eher nach der steten Benutzung einer Nagelzwicke.

Was hatte Stirling sich erwartet? Daß jemand auf die Idee gekommen war, den Code des eigenen Tresors ins Internet zu stellen?

Nun, ganz so absurd war das nicht. Und doch mußte Stirling mit einigem Erstaunen feststellen, daß sämtliche Eintragungen, die sich auf seinem Bildschirm zeigten, ein und dasselbe Thema hatten: die Kleinplanetennummer des Planeten Pluto. Beziehungsweise bestand diese Nummer ja allein deshalb, weil Pluto eben kein Planet mehr war und man ihm genau aus diesem Grund eine solche Nummer verabreicht hatte. Was ganz typisch war: Entweder war man ein Individuum mit einem richtigen Status, oder man war eine bloße Nummer und der eigene Status eine reine Karikatur. So war das. Sogar im Weltall.

»Ich werde mit ihm reden. Ja, das tue ich.«

Es war die Stimme Lorenz Mohns, die Stirling aus seinen Gedanken bezüglich eines Planeten, der keiner mehr war, herausriß. Er schob sich auf den Rollen des Bürostuhls wieder hinüber zum Aufnahmegerät und stellte den Ton lauter.

»Und worüber?« fragte Sera.

»Über die Postkarte. Daß ich sie eingesteckt habe. Ich glaube, dieser halbe Engländer oder halbe Grieche ist ein vernünftiger Mann. Sicher, er muß seinen Job machen. Doch er gehört nicht zu denen, die in der Not auch einen Unschuldigen nehmen, wenn sie keinen Schuldigen bekommen können.«

»Paß nur auf, daß du keine schlafenden Hunde weckst«, mahnte Sera.

»Wie meinst du das?«

»So ist das oft, daß jemand sich für unschuldig hält. Umsomehr er aber in einer Geschichte herumkramt, in der Vergangenheit wühlt, umsomehr erkennt er seinen Anteil an der Schuld.«

»Da kannst du schon recht haben«, sagte Lorenz. »Trotzdem. Ich werde Stirling von dem Vogel erzählen.«

»Du mußt wissen, was du tust.«

»Wenn ich…nach Solnhofen fahre, kommst du dann mit?«

»Nein«, sagte Sera. »Ich will meine Kunden nicht alleine lassen.«

»Nicht mal eine halbe Woche?«

»Ein Heiratsinstitut ist eine Art Tierheim. Man kann nicht einfach weggehen und die Tiere ein paar Tage nicht füttern.«

»Das ist ein komischer Vergleich«, fand Lorenz.

»Das ist richtiger Vergleich«, erwiderte Sera. »Und jetzt gib Frieden und leg dich her.«

Stirling sah ein letztes Mal durch das Fernrohr. Er konnte erkennen, daß Lorenz seinen Kopf auf Seras Brust gebettet hatte. Sera wiederum legte eine Hand auf Lorenz’ Scheitel ab. Auf diesem Handrücken plazierte nun auch Lorenz seine fünf Finger. Nette Stapelung! Als würden ein paar Schalentiere die Bremer Stadtmusikanten imitieren.

Stirling beschloß, die Observation abzubrechen. Er zog die Kabel aus den Geräten, fügte das Fernglas, die Kamera, die Antenne, die Aufnahmegeräte in die Einbuchtungen der Koffer und tat dies alles mit der größten Fürsorge. Ein wenig wie man sich vorstellt, daß Killer ihre Waffen nach getaner Arbeit ohne jede Eile auseinandernehmen und einpacken, um sodann im Stil eines Handelsvertreters das Gebäude zu verlassen. Und genau so sah es ja auch aus, als Stirling wenig später auf die Rosmalenstraße trat, schwer bepackt, um hinüber zur Kirche zu gehen, hinter der sein Auto geparkt stand.

Dort angekommen, verstaute er die Koffer. Doch bevor er in den Wagen stieg, blickte er hinauf in den Nachthimmel, der ein überaus klares, ja für städtische und sommerliche Verhältnisse geradezu unwirklich scharfes Bild bot. Ein weihnachtliches Weltall.

Und irgendwo da draußen lag also 134340 und zog seine ewig lange Bahn. Ein Zwerg auf Umwegen.

Als am nächsten Vormittag Lorenz Mohn das Büro von Stavros Stirling betrat und eine Karte auf den Tisch legte, sagte Stirling: »Ein Archaeopteryx, na und?«

»Meine Güte!« staunte Lorenz. »Sie sind aber ganz schön gebildet.«

Stirling genierte sich ein wenig. Vor Gott. Denn er glaubte an Gott, an einen allseits präsenten Gott, der unsere kleinen und großen Lügen registrierte und daraus ein Bild strickte, das einst auf uns zufallen würde. Darum sagte er jetzt: »Reiner Zufall.«

Erklärte das jedoch nicht weiter, sondern drehte die Karte um und las den kurzen Satz. Dann blickte er zu Lorenz auf und fragte: »Und?«

Lorenz berichtete, die Karte von der Pinnwand genommen zu haben. Er wisse, daß das ein Fehler gewesen sei. Aber irgendeine Macht habe ihn dazu gezwungen…

»Eine Macht?«

»Kommt es Ihnen nicht manchmal vor, daß wir alle nur Figuren in einem Buch sind? Daß die Dinge, die wir tun, eben auch die sinnlosen – nein gerade die sinnlosen – einer Dramaturgie entsprechen?«

»Na, dann will ich mal hoffen«, sagte Stirling, »daß wir uns in einem guten Buch befinden.«

»Es wäre echte Freiheit«, sagte Lorenz, »sich genau das aussuchen zu dürfen.«

»Aber so läuft es nicht.«

»Nein, so läuft es nicht.«

»Na, wenigstens gibt es in diesem Roman guten Kaffee«, meinte Stirling, griff zum Telefon und gab jemand Anordnung, hinüber zur Aida zu gehen und zwei große Braune zu holen.

In den zehn Minuten, die es dauerte, bis der Kaffee kam, sprach man über Privates, damit einer den anderen besser einschätzen konnte. Das war zwar so, als würde bei einer Analyse auch der Analytiker sein Leben ausbreiten, aber warum nicht? Mohn und Stirling spürten wahrscheinlich, daß sie in der nächsten Zeit miteinander verbunden sein würden. Verbunden durch Gott, wie Stirling in Abkehr zur eigentlichen Bedeutung es ausgedrückt hätte. Während Mohn gesagt hätte, verbunden durch einen Roman.

Als der Kaffee kam, ließ man das Private hinter sich und wechselte zum Archaeopteryx. Stirling erklärte, daß dieselbe Macht, die ihn dazu verleitet hatte, die Karte von der Pinnwand zu nehmen, ihn nun dazu dränge, den Ort Solnhofen aufzusuchen, dort, wo sich das originale Fossil befinde.

»Warum denken Sie, daß Sie das weiterbringt?« fragte Stirling.

»Das denke ich gar nicht. Ich denke nur, daß ich es tun muß. Wie man sagt, man möchte einmal auf Hawaii gewesen sein, so sage ich, ich möchte einmal diesen Vogel gesehen haben.«

»Solnhofen liegt nicht gerade um die Ecke.«

»Immerhin näher als Hawaii. – Sehen Sie, ich bin hier, um zu fragen, ob Sie mich weiterhin verdächtigen. Wenn nicht, dann werde ich diese Reise machen.«

»Ich habe Sie nie verdächtigt«, erklärte Stirling. »Doch Sie stecken nun mal in dieser Geschichte drin, und zwar beträchtlich. Sie können das noch nicht wissen, aber unsere Leute vom Labor haben festgestellt, daß der Brief mit der Drohung an Sie mit größter Wahrscheinlichkeit von Herrn Nix stammt. Damit haben wir jetzt sogar so etwas wie ein Motiv. Gleichwohl kein zwingendes, wie ich gern gestehe. Vor allem darum nicht, weil Sie uns diesen Brief ja selbst ausgehändigt haben. Wären Sie der Täter, müßten Sie ganz schön dumm sein. Oder ein kleiner Masochist. Und beides glaube ich nicht.«

»Danke.«

»Oder Sie müßten auf eine für mich unnachvollziehbare Weise raffiniert sein. Aber auch das glaube ich nicht.«

»Soll ich jetzt beleidigt sein?« fragte Mohn.

Stirling vollzog eine abwehrende Geste, sodann erklärte er, daß die Obduktion der Leiche keine neuen Erkenntnisse gebracht hätte. Er sagte: »Wie es scheint, wurde Nix tatsächlich in der Rosmalenstraße umgebracht. Drinnen im Laden. Wenn auch nicht direkt unter Ihrem Bett. Es ist zumindest schwer vorstellbar, wie das abgelaufen sein soll. Eher scheint es, daß man Nix die tödlichen Verletzungen in dem Raum vor der Werkstatt zugefügt hat und ihn dann erst nach hinten geschleppt und unter das Bett geschoben hat.– Eine Frage: Haben Sie einen guten Schlaf?«

»Den habe ich ganz offenkundig«, antwortete Lorenz. Und dann, ernster: »Ich war schon als Kind ein guter Schläfer. Ich benötige immer nur ein paar Sekunden, dann bin ich weg. Und es braucht schon einen heftigen Lärm, um mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu holen. Sie können sich gerne bei meinen Exfreundinnen erkundigen. Manche fanden das ziemlich daneben. Wenn Frauen schreien, dann wollen sie schon gehört werden.«

»Ich glaube Ihnen auch so«, sagte Stirling. »Wobei mich der Neid frißt. Bei mir ist das nämlich eine Katastrophe. Mein Schlaf ist ein Kartenhaus. Mich weckt das Summen einer Fliege.«

»Ja, ein guter Schlaf ist viel wert. Wer weiß, ob ich noch leben würde, wenn ich aufgewacht wäre.«

Stirling nickte. Das hatte etwas für sich. Er nahm einen Schluck Kaffee, erhob sich, ging einmal um den verkümmerten Kaktus herum, blieb schließlich an der linken Seite des sitzenden Lorenz Mohn stehen und sagte: »Wenn Sie wollen, bringe ich Sie nach Solnhofen.«

Lorenz machte große Augen. »Ich verstehe nicht ganz…«

»Wir setzen uns morgen, so zeitig wie möglich, in meinen Wagen und fahren hinauf zu diesem Steinbruch. Das ist noch ein Stückchen über Ingolstadt. Ich denke, in sieben Stunden sind wir dort. Sie haben doch nichts gegen italienische Autos, oder?«

»Nein … eigentlich nicht. Aber ich begreife trotzdem nicht, weshalb…«

»Betrachten Sie es so: Ich will auch mal ein wenig aus Wien raus. Und immerhin dreht es sich ja um den Fall.«

»Wirklich? Denken Sie, das Fossil hat eine solche Bedeutung?«

»Es geht mir wie Ihnen«, sagte Stirling. »Wenn ich das Ding gesehen habe, werde ich mich nachher vielleicht besser fühlen. Außerdem möchte ich Sie nicht alleine lassen. Solange wir nicht den Hintergrund der Tat kennen, ist es schwer zu sagen, ob Sie gefährdet sind oder nicht. Ich kann Ihnen zwar keinen vierundzwanzigstündigen Personenschutz zuordnen, doch ein wenig aufpassen kann ich schon auf Sie.«

Lorenz überlegte. Dann fragte er, um welchen italienischen Wagen es sich denn handle.

»Um einen Fiat Barchetta. Das ist ein kleiner Sportwagen. Ein gutes Auto. Ein braves Auto. Braver als jeder Porsche. Ich hatte mal einen Porsche. Das ist, als sitze man im Bauch eines Feindes.«

»Das sehen viele Leute aber anders.«

»Das merkt man diesen Leuten auch an«, fand Stirling. »Sie wirken, als seien sie zu lange in Magensäure geschwommen.«

»Jetzt übertreiben Sie«, meinte Lorenz lachend.

Stirlings Miene blieb finster und versteinert. Es sah aus, als halte er Porsches tatsächlich für eine ernsthafte Bedrohung der Menschheit. Dann erklärte er: »Ich hole Sie morgen in der Früh ab. Sieben Uhr. Und jetzt habe ich noch zu tun.«

»Gut«, sagte Lorenz, dankte für den Aida-Kaffee und verließ das Zimmer.

Im Gang holte er sein Handy aus der Tasche und rief Sera an, um ihr zu sagen, daß er mit Stirling nach Solnhofen fahren werde.

»Im Ernst?« fragte Sera.

»Im Ernst.«

»Ich hoffe, der Kerl ist nicht schwul.«

»Er hat Familie.«

»Na und?«

»Er ist nicht schwul.«

»Und du?«

»Ich bitte dich, Sera. Ich will dich heiraten.«

»Das machen viele Schwule. Da kenn ich mich aus.«

»Willst du mich jetzt ärgern?«

»Vielleicht.«

»Ich liebe dich.«

»Na gut«, sagte Sera.

Mein Gott, was sollte er davon halten? Sera war lange nicht so unkompliziert, wie er sich das gedacht hatte. Aber das war ja nichts Neues. Das Komplizierte war die treibende Kraft im Universum. Man betrachte nur die exzentrische Umlaufbahn von 134340.