12 | Gelernt ist gelernt, und ein Pech ist ein Pech

Als ich in Wien ankam, lag eine drückende Schwüle auf der Stadt, hüllte die Stadt ein, einen jeden Passanten. Die Luft stand still und schnaubte ein wenig. In der Art dieser Gewichtheber, die da im Angesicht der zu stemmenden Last in eine meditative Ruhe versinken und einen Moment lang nichts anderes als gelockerte Kraft sind, bevor sie dann in einen Zustand höchster Anspannung und nachfolgender Explosion geraten.

So würde es auch mit dieser Wiener Luft geschehen.

Ich brachte meinen Koffer ins Hotel. Nun, es war kein richtiges Hotel, sondern eine Pension, die den Namen Leda trug und von einer merkwürdigen alten Frau geführt wurde, die hinter einer Theke aus fast schwarzem Holz stand und mir einen schweren Zimmerschlüssel unter die Nase hielt.

»Aus Deutschland also«, sagte sie mit einem dunklen Ton, der zwischen den erstaunlich weißen Zahnreihen hervordrang. Dabei blickte sie mich mit kleinen, runden, feuchten Augen an, als mache sie Unterwasserfotos.

»Aus Deutschland«, bestätigte ich. Aber ich sah ihr an, daß sie mir nicht glaubte.

Ich habe schon erwähnt, wie schwer es für Agenten ist, einen anderen Agenten zu erkennen. Woran denn auch? Doch bei dieser Frau hier überkam mich der Verdacht… Ich zitterte ein wenig. War das möglich? Konnte es sein, daß diese Frau ebenfalls von X stammte? Zwar würde ich noch erfahren, daß sie zwei Söhne hatte. Aber wenn man die beiden sah, konnte man sich schwer vorstellen, daß sie tatsächlich die leiblichen Kinder dieser resoluten Greisin waren. Eher wirkten sie wie gequälte Domestiken, die ein böses Schicksal unter die Kuratel einer autoritären Hexenmeisterin geweht hatte.

Natürlich hielt ich hinterm Berg. Kein Wort über X. Auch von ihrer Seite nicht. Aber in unserem gegenseitigen Anschauen lag ein Verdacht mit Zügen der Gewißheit.

Sie rief einen ihrer »Söhne«, welcher mich hinüber in mein Zimmer brachte. Ein leicht schäbiges, überaus stickiges Kabinett, in dem man sich wie in einer übergroßen Marlboropackung fühlte. Der Blick aus dem Fenster wies auf einen langgestreckten Rangierbahnhof. Das Öffnen dieses Fensters hätte ich mir sparen können. Luft, die sich nicht bewegte, hatte ich ohnehin genug im Zimmer. Ich legte mich eine Weile aufs Bett und schloß meine Augen. Mein Herz pochte so komisch. Nun, es war keine Kleinigkeit, nach all den Jahrzehnten einem anderen Agenten begegnet zu sein. Frau Leda stammte wohl aus der ersten Generation, die man auf die Erde entsendet hatte. Und offensichtlich gehörte sie zu denen, die nicht wieder heimkehren würden. Um statt dessen auf der Erde alt und älter zu werden.

Die eiserne Regel in der Pension Leda hieß: Schlüssel abgeben, wenn man das Haus verläßt.

»Gut möglich, daß ich erst spät in der Nacht heimkomme«, erklärte ich.

»Kommen Sie, wann Sie wollen. Der Schlüssel bleibt hier«, bestimmte Frau Leda.

»Na gut«, sagte ich. »Ich gehe davon aus, daß immer jemand da ist, der mir öffnet.«

Sie gab keine Antwort, nahm den Schlüssel und hängte ihn an ein Bord, das so dunkel war, daß der Schlüssel samt dem mächtigen silbernen Anhänger sein ganzes Licht inmitten der Schwärze verlor.

Es muß nun gesagt sein, daß die Straße, in der die Pension Leda lag, den Namen Universumstraße trug. Das klang ein wenig nach einem Witz. Aber der Witz stand auf festen Beinen.

Ich verließ das Hotel und fuhr mit dem Taxi zu einem versifften kleinen Café, wo ich Nix traf. Er erklärte mir, daß der »Vogel« sich in der ehemaligen Bäckerei befinde, in einem von einer Metalltüre abgesperrten Raum. Wir müßten aber warten, bis es spät genug wäre und keiner der Arbeiter, die gerade den Laden umbauten, mehr vor Ort sei. – Nun, es konnte mir nur recht sein, ein wenig sitzen zu bleiben, da gerade ein unglaubliches Gewitter vom Himmel brach. Als hätten sämtliche Götter gleichzeitig einen Heulkrampf. Die Besucher in dem Café jedoch schienen bester Laune, geradezu euphorisiert ob der kleinen Götterdämmerung draußen vor ihrer Türe. Mir waren die Wiener bis dahin nur aus Erzählungen vertraut gewesen, doch offenkundig handelt es sich um Leute, die ihre Klischees noch richtig ernst nehmen. Nie habe ich erlebt, daß Menschen mit derartiger Freude saufen und rauchen und dabei zusehen, wie Hagelkörner ihre Autos verbeulen.

In einer solchen Atmosphäre kann man gar nichts anders, als selbst ein wenig zu rauchen und zu saufen. Nix natürlich sehr viel mehr als ich, aber er war ja hier auch der Einheimische. Außerdem setzten sich zwei Frauen an unseren Tisch, nette Frauen, wie ich zugeben muß. Frauen, die auf eine ordinäre Weise charmant und witzig waren, deren Vulgarität einen kunstvollen Eros zu bilden imstande war. Allerdings brauchte ich viel zu lange, um zu begreifen, daß es sich um Prostituierte handelte. Weil das nun aber nicht deren Schuld war, sondern meine, bezahlte ich die beiden auch ohne Sex. Nix wäre dazu kaum noch in der Lage gewesen, und ich selber bin ja verheiratet. Genauso erklärte ich es den beiden: »Ich bin verheiratet.« Sie sahen mich voller Bewunderung an und nahmen das Geld, das ich ihnen respektvoll unter dem Tisch hinhielt. (Die Wahrheit war freilich die, daß es nicht mein Verheiratetsein war, das mich abhielt, sondern die ganz grundsätzliche Einstellung, sich den Sex mit fremden Frauen erst einmal verdienen zu müssen. Und ich hatte ihn mir nun mal noch nicht verdient.)

Es war recht spät, als Nix und ich endlich aufbrachen, um den falschen Archaeopteryx abzuholen. Wir betraten das Haus durch die Hauptpforte, für die Nix noch immer den Schlüssel besaß. So wie er auch über einen Schlüssel für die Türe verfügte, die vom Gang her in einen Hinterraum des Geschäfts führte. Daß der Raum beleuchtet war, brauchte uns nicht zu irritieren, stellte es doch während solcher Renovierungsarbeiten eher die Regel dar. Sehr wohl irritierend war hingegen der Umstand einer aus dem Mauerwerk gebrochenen Metalltüre. Und nicht minder der Anblick eines Mannes, welcher in der nun offenen Werkstatt auf einem Bett lag. Er schlief tief und fest. Vielleicht ein Arbeiter, obwohl er so gar nicht nach Arbeiter aussah.

Wie sehen Arbeiter aus? Nun, ein wenig krank und ein wenig alt und ein wenig böse vom vielen harten Leben. Der Typ aber, der dieses schmale Bett ausfüllte, schien den ruhigen Schlaf derer zu schlafen, die das Schicksal noch nicht allzu fest angefaßt hat. Eher sah er aus, als stamme er geradewegs aus dem Werbefernsehen. Abteilung Gesichtspflege.

Gut, wenn der Mann schlafen wollte, sollte er schlafen. Wahrscheinlich hatte er Tabletten genommen. Ich drehte mich zu Nix, griff nach dessen Arm, zog ihn sachte in den Vorraum hinaus, um nicht flüstern zu müssen, und fragte: »Okay, wo ist der Vogel?«

»Wo ist das Geld?« fragte Nix zurück, als hätte er nicht gewußt, daß ich mir zuerst einmal seine Arbeit ansehen mußte. – Nicht, daß ich wirklich imstande gewesen wäre, die Qualität zu beurteilen. Aber so gestaltete sich nun mal das übliche Prozedere. Wie bei diesen Drogendealern, die sich immer erst ein bißchen Stoff aufs Zahnfleisch schmieren, bevor sie die Ware bezahlen.

Unglücklicherweise war Nix betrunken. Einer von denen, denen es nicht guttat, betrunken zu sein. (Ich konnte nicht ahnen, daß das für alle Wiener gilt, daß deren lustvolles und durchaus virtuos anmutendes Saufen und Rauchen geradewegs in den Abgrund fataler Selbstüberschätzung führt.)

»Zuerst das Geld«, sagte Nix, »oder Sie können gleich wieder ohne den Vogel nach Hause fahren. Außerdem verlange ich, daß Sie noch ein paar Scheine drauflegen. Das war eine richtige Scheißarbeit. Es ist sehr viel schwerer, was zu fälschen, was es schon gibt. Das ist wie…wie…«

Er griff sich an die Stirn. Es sah aus, als lege er einen Hebel um. Den Hebel zur Vernunft hin, hoffte ich. Doch die Hoffnung begrub sich rasch. Nix äußerte, er hätte einen Freund nach Solnhofen schicken müssen, um Fotos zu machen, präzise Fotos, Detailfotos, Profifotos. Dadurch würden sich die Unkosten erhöhen. Nicht zuletzt, damit dieser Freund nicht etwa auf die Idee komme, etwas auszuplaudern.

»Wenn Sie einen zweiten da mit reinziehen, ist das Ihre Sache«, erklärte ich Nix.

Es ging mir nicht ums Geld, keineswegs. Es ging mir darum, daß die Vereinbarungen eingehalten wurden. Das ist wichtig, im Kleinen wie im Großen, im Privaten wie im Öffentlichen. Wenn ein Haus teurer wird als geplant, ist das Unglück vorprogrammiert. Dann lieber nur ein halbes Haus zum veranschlagten Preis. Ich weiß – es gibt keine halben Häuser. Es gibt sie aber nur darum nicht, weil keiner sich das traut.

Ich hingegen traute mich sehr wohl. Ich zog ein Messer aus der Tasche, ein schönes, großes Gerät, dessen Klinge ich Nix quer entgegenhielt, sodaß er sein Spiegelbild darin erkennen konnte. Ich spekulierte, er würde auf diese Weise, im Angesicht der eigenen Besoffenheit, den Ernst der Lage erkennen. Doch er lachte nur blöde und sagte mir, daß der Vogel jetzt umso teurer werde.

Ich wendete die Klinge in die Horizontale. Jetzt brauchte sich Nix nicht mehr zu betrachten. Mit einer raschen, flüssigen Bewegung zog ich die Schneide durch die Vorderseite seines Halses, so tief, daß ich einen Moment meinte, sein Schädel reiße ab. Schnell trat ich hinter Nix und fing ihn auf. Er besaß noch die Kraft, sich mit beiden Händen auf die riesenhafte Wunde zu fassen. Aber die Kraft war schnell dahin. Während ich ihn in das Hinterzimmer zog, spürte ich seine grundsätzliche und endgültige Ermattung. Er hing in meinen Armen wie bei diesen Gesellschaftsspielen, wenn der eine sich ganz und gar auf den anderen verläßt. Und tatsächlich ließ ich Nix nicht einfach fallen, sondern legte ihn vorsichtig auf dem Boden ab und drückte ihn unter das Bett des immer noch schlafenden Mannes, der wahrscheinlich doch kein Arbeiter war.

Warum ich das tat? Vielleicht der Ordnung halber. Wie man ein Blatt unter das andere schiebt. Schlafende und Tote haben eben eine gewisse Gemeinsamkeit. – Na, was auch immer ich mir dachte, ich war in keiner Weise geschockt ob meiner Handlung. So hatte ich es gelernt. Rasch sein, effektiv sein. Und sich dabei nicht blutig machen. Und erst dann ins Grübeln kommen, wenn Zeit dafür war.

In diesem Moment aber galt nur eines: den Vogel finden. Was sich als nicht weiter schwer erwies. Denn selbstverständlich war Nix unvorbereitet gewesen. Er hatte ja gar nicht geplant gehabt, mehr Geld als vereinbart zu verlangen. Das war ihm einfach so eingefallen. Dumme Trinkerei! Dumme Wiener Angewohnheit, eine Eskalation herbeizubeten.

In einem Stahlschrank fand ich den in ein Tuch eingewickelten Stein. Ich legte das Fossil auf die Arbeitsfläche und betrachtete es. Soweit ich das beurteilen konnte, war es eine perfekte Arbeit. Natürlich war es das.

Ich sah hinüber zu Nix, wie er da unter dem Bett lag und ausblutete. Nun, um ehrlich zu sein, ich hätte ihn in jedem Fall umgebracht. Daß er tatsächlich jemanden beauftragt hatte, nach Solnhofen zu fahren und Fotos zu machen, glaubte ich nicht. Man hatte mir gesagt, daß Nix selbst oft genug in Solnhofen gewesen war. Er hatte diesen bestimmten Archaeopteryx in- und auswendig gekannt. Wenn sich da aber trotzdem irgendein Mitwisser herumtrieb, dann…was soll’s? Wenn der erst einmal vom traurigen Ende seines Freundes Nix erfahren hatte, würde er ganz sicher den Mund halten.

Ich packte den Stein wieder in das Tuch und tat ihn in eine Plastiktüte. Dann verließ ich den Raum. Ich versuchte gar nicht erst, nachzusehen, ob ich irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Wenn ja, dann war das halt so. Spuren gehören zum Leben. So richtig auffällig werden sie aber erst dann, wenn man sie verwischt. Verwischte Spuren sind wie diese Leute, die einen Furz lassen und sich dann scheinheilig nach einem Übeltäter umsehen.

Ich trat ins Freie hinaus. Die Luft war frisch und sauber. Man konnte sogar ein paar Sterne erkennen. Nicht, daß ich hätte sagen können, was für Sterne, nur weil dort oben meine Heimat lag. Wo überhaupt? Wenn ein Dortmunder auf dem Platz des Himmlischen Friedens steht, weiß er wahrscheinlich auch nicht, in welcher Richtung Dortmund liegt.

Ich bewegte mich eine ganze Weile vom Tatort weg, bevor ich in ein Taxi stieg und mich zur Pension Leda bringen ließ. Dort angekommen, drückte ich auf den Knopf der Gegensprechanlage. Denn schließlich war das Hotel bloß Teil eines normalen Wohnhauses, das vierte und fünfte Stockwerk belegend.

Ich klingelte erneut. Und dann noch einmal. Doch niemand rührte sich. Aus den Ritzen des Lautsprechers drang einzig ein Rauschen, das ganz wunderbar in eine Straße mit diesem Namen paßte. Mich selbst hingegen packte die Wut. Diese verdammte Leda-Hexe!

Richtig, sie hatte mit keinem Wort erklärt, daß während der Nachtzeit die Rezeption besetzt wäre. Von ihr oder einem ihrer sogenannten Söhne. Sie hatte nur erklärt, daß es für die Gäste Pflicht sei, beim Verlassen der Pension die Schlüssel abzugeben.

So verharrte ich also um drei Uhr morgens in der von der Straßenbeleuchtung nur leicht aufgehellten nächtlichen Universumstraße, in der Hand eine Plastiktüte, und wußte nicht so recht, was ich tun sollte. Sicher, ich hätte irgendwo anders läuten können, um wenigstens in das Haus zu gelangen und dann gegen die Türe der Pension zu trommeln. Doch ich verwarf diese Idee, wollte keine Aufmerksamkeit erzeugen. Schlimm genug, daß ich auf der Straße herumstand, als sei mein sehnlichster Wunsch, einem vorbeifahrenden Polizisten einen Grund zu geben anzuhalten.

Darum beschloß ich, mich in Bewegung zu setzen und durch die Gegend zu spazieren. Denn es ist weit weniger auffallend, zu gehen als zu stehen. Erstaunlicherweise! Die Bewegung suggeriert legalen Fleiß, das Stehen illegalen Profit. Es werden so gut wie nie gehende, sondern immer nur stehende Leute festgenommen. Und sogar die, die flüchten, flüchten quasi aus dem Stand heraus. Das gilt für Drogendealer wie für Wirtschaftsverbrecher.

So bemühte ich mich also, gehenderweise den Eindruck des Legalen zu vermitteln. Ich passierte eine breite, von einem einzigen Wagen frequentierte Straße, durchschritt die Unterführung einer Bahntrasse, kam an einem Krankenhaus vorbei und gelangte in eine Gegend, die so einfach und still in dieser Nacht einsaß, wie man das vielleicht von Dingen sagt, die in Konservendosen stecken. Übrigens ahnte ich nicht, wie nahe ich mich an der Donau befand. Der Umstand, unser doppeltes Sonnensystem in seiner ganzen Breite durchquert zu haben, änderte nichts an meiner grundlegenden Unfähigkeit, mich zu orientieren. Ich gehöre zu den Leuten, die ohne Taxis längst tot wären.

Sowenig die Orientierung meine Sache ist, so wenig sind das auch Nachtclubs. Dennoch war ich froh, als ich – angezogen von einer Leuchtreklame, einem spitzköpfigen rosa Drachen – vor einem Lokal ankam, welches geöffnet hatte. Zwar bremste mich eine kleine Scheu, andererseits wollte ich nicht ein weiteres Mal auffällig lange herumstehen. Folglich trat ich ein, stieg eine schmale, mit braunem Velours ausgelegte Treppe abwärts und gelangte in einen quadratischen, niedrigen Raum von vergnügter Schäbigkeit. Die Luft war derart drückend, als habe sich die Schwüle des Nachmittags hier herunter geflüchtet, um zu warten, bis sich die nächtliche Frische draußen erledigt haben würde.

Ich stellte mich an die Bar, hinter der ein weißhaariger Mann stand, der unpassenderweise einen Smoking trug. So wie er unpassenderweise gleichzeitig steif und würdevoll und respektabel wirkte. Alte Schule. Kein Mann, der hierher gehörte. Sehr viel passender war da die junge Frau, die sich nur ein paar Sekunden später neben mich stellte und mir aus einem Mund, der aussah wie eine kleine, rote Lederhose, ein »Na, Schatzi, gibst d’ an Schampus aus?« entgegenhauchte. Wobei selbiger Hauch Spuren der Verwesung transportierte. Verdorbenes und Verstorbenes. Ein bakterieller Nebel, in dem die Worte wie Schwerverbrecher an Ketten hingen.

»Wenn ich eine Flasche bezahle«, fragte ich, »lassen Sie mich dann in Ruhe?«

»Aber freilich, Schatzi. Wenns d’ zahlen tust, darfst d’ sogar allein sein. Wenns d’ auf so was stehst.«

Sie gab dem Barkeeper ein Zeichen, schwang sich wieder vom Hocker herunter, zischte eine süße Abfälligkeit zwischen den speckigen Lippen hervor und bewegte sich zu ihren beiden Kolleginnen, die um einen kleinen, runden Tisch saßen, der wie ein flachgedrückter Globus anmutete, ein Globus für eine Welt als Scheibe.

»Möchten der Herr ebenfalls ein Glas serviert bekommen?« fragte mich der Barkeeper, der eine Flasche Sekt, die man hier als Champagner verkaufte, bedächtig öffnete, ihr einen serviettenen Mantel umhängte und sie nicht weniger bedächtig in einem silbernen Kübel abstellte.

»Nein danke«, sagte ich und bestellte einen Espresso.

Während ich auf den Kaffee wartete, sah ich mich um. Die drei Grazien hatten die Köpfe zusammengesteckt und lachten in der Art von Erbsen. Ich weiß schon, Erbsen können nicht lachen, doch könnten sie es, dann… Ein weiterer Gast saß mit einer Frau in einer Ecke. Sie schienen sich ganz normal zu unterhalten. Gut, warum auch nicht? Das hier war ein Animierlokal und kein Swingerclub. An der Bar standen noch zwei andere Männer, die aber wohl eher zum Ambiente gehörten.

Als ich jetzt zur anderen Seite hinsah, erblickte ich einen einzelnen Mann. Ganz der Zuhältertyp. Er trug einen Anzug, der im orangefarbenen Licht an das glänzende Auge eines Spiegeleis erinnerte. Seine Hände waren tätowiert, ebenso der Hals, und man konnte sich gut vorstellen, daß sein Gesicht der einzige undekorierte Bereich an ihm war. Doch immerhin war dieses Gesicht von einer blonden Fönfrisur umrahmt. Dazu Goldkettchen, goldene Uhr, weiße Schuhe – die Parodie als Wirklichkeit. Er rauchte still vor sich hin und sah hinunter auf den Tisch. Beziehungsweise auf das Brett auf dem Tisch und die Figuren auf dem Brett. Ein Schachspiel.

Ich erwartete, daß jeden Moment ein zweiter Spieler von der Toilette zurückkam. Aber selbst nachdem ich meinen Espresso bekommen und eine ganze Weile daran genippt hatte, tauchte niemand auf, der sich als Gegner anbot.

Ich mag Schach. Ich mochte es schon, als ich noch zu Hause auf X war, wo sich das Schachspiel kaum von dem, wie es heute auf der Erde gespielt wird, unterscheidet. Sieht man davon ab, daß unsere Damen nicht ganz soviel Macht besitzen. Das Schöne am Schach ist eigentlich die Ausgangssituation. Daß man mit dem exakt gleichen Material antritt. Wo gibt’s das im Leben? Kaum ist man auf der Welt, hat der eine seinen feinen Popo in einem schicken Seidenhöschen von irgendeinem Luxuslabel, und der andere steckt in einem abgetragenen Ding aus der Flohmarktkiste. Und dann geht’s erst richtig los. Im Schach hingegen… Dieser wunderbare Anfang, wenn alle Figuren aufgestellt sind, allein durch die zwei Farben (die bezeichnenderweise gar nicht richtige Farben sind) sich voneinander abhebend, nicht aber mittels der Form. Da steht also nie ein mickriger, schwächlicher König einer aufrecht selbstherrlichen Majestät gegenüber. Wenn mickrig, dann beide. Und diese Gleichheit vor der Eröffnung zieht sich trotz aller Unterschiede, die sich in der Folge aus dem Spiel ergeben, bis zum Ende hin. Darum auch ist das Ende immer ehrenvoll. Keine Demütigung, lediglich die Feststellung einer Aussichtslosigkeit. Den feindlichen König freundlich auf etwas hinzuweisen, was dieser König ohnehin bereits weiß. Welcher in der Folge bloß einen kurzen Moment aristokratischer Verwirrtheit kultiviert: Ach, und Sie meinen, ich kann wirklich nicht…

Ich winkte dem Barkeeper, der sich leicht nach vorn beugte und mir durch eine motorisch anmutende Drehung des Kopfes sein rechtes Ohr zuwendete.

»Wer ist der Mann dort?«

»Der Besitzer des Etablissements. Herr Mick.«

»Und gegen wen spielt er da?«

»Tut mir leid, der Herr, das weiß ich nicht.«

Es war übrigens nicht so, daß dieser Mick während der ganzen Zeit einen einzigen Zug getan hatte. Er saß nur da und starrte auf das Brett, rauchte, trank hin und wieder einen Schluck Mineralwasser und fuhr sich hin und wieder über den dünnen Schnurrbart, dessen Schwärze zusammen mit den dunklen Augenbrauen die Blondheit des Haupthaars in den Verdacht brachte, eine Fälschung zu sein. Vorausgesetzt, es war nicht umgekehrt.

Ich glitt von meinem Hocker und bewegte mich auf ihn zu.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe. Darf ich mich dazusetzen?«

Mick wies mit einer beiläufigen Geste auf den leeren Stuhl seines absenten Kontrahenten.

Ich dankte, nahm Platz und legte die Tasche mit dem Fossil neben mich auf eine dunkle Lederbank. Dann blickte ich auf das Brett und machte mir ein Bild von der Situation. Mick spielte Weiß, zumindest saß er auf der weißen Seite. Das Spiel befand sich in einer entscheidenden Phase, an dem Punkt, wo etwas geschehen würde, weil es sich eben nicht mehr aufschieben ließ. Auch im Schach muß sich irgendwann das Unglück durchsetzen. Man kann nicht ewig herumlavieren, ewig darauf achten, daß nichts passiert. Man kann sich nicht ewig darauf beschränken, ein Rühr-mich-nicht-an-ich-rühr-dich-auch-nicht-an-Spiel zu spielen. Oder zu meinen, kleine Geschenke erhielten die Freundschaft. Irgendwann ist die Eröffnung zu Ende.

»Wer ist am Zug?« fragte ich.

»Sie«, sagte Mick. Seine Stimme war ein kleines Unterseeboot. Über Wasser kaum zu hören, aber unter Wasser… Gewissermaßen begab ich mich also in die Tiefe eines Gewässers, indem ich mich auf ein Gespräch mit Mick einließ und ihn darauf aufmerksam machte, nicht sein Gegner zu sein.

»Warum sitzen Sie dann hier?«

Ich ignorierte die Frage und erkundigte mich nach der Person, welche Schwarz spielte.

»Der scheint heute nicht zu kommen«, sagte Mick. Nun, das war jetzt eher die Stimme eines großen Unterseebootes. So wie diese russischen, von denen man nicht weiß, ob sie so gefährlich sind wegen ihrer starken Bewaffnung oder ihres desolaten Zustands.

Eine Weile schwiegen wir. Dann meinte Mick, es wäre doch vollkommen in Ordnung, wenn ich Schwarz übernehmen würde. Immerhin befinde man sich in einer ausgeglichenen Situation.

»Aber ich weiß doch gar nicht, was für eine Strategie…«

»Spielen Sie, oder spielen Sie nicht?« fragte Mick und sah zum ersten Mal auf. Er besaß stechend türkisene Augen, Bergseeaugen. Nie und nimmer konnten die echt seien. Also, ich meine, er trug gefärbte Kontaktlinsen. Der ganze Mann war gefärbt. Er hatte auch Make-up im Gesicht. Nicht so wie bei Tunten. Immerhin war er hier der harte Mann, der Chef, der Boß, der die Mädchen im Visier hatte, wahrscheinlich sogar die beiden Typen an der Bar. – Und er hatte selbstverständlich recht. Entweder ich stand augenblicklich auf und ging zurück an die Bar, oder ich übernahm es, eine fremde Partie zu meiner eigenen zu machen.

»Gut«, sagte ich. »Lassen Sie mir ein wenig Zeit. Ich muß erst vertraut werden.«

»Nehmen Sie sich Zeit, soviel Sie wollen«, zeigte sich Mick großzügig. Dann stand er auf, wechselte zu den drei Grazien und gab eine Anweisung. Die Frauen erhoben sich und kamen herüber, um sich an unseren Tisch zu setzen. Ich mußte die Tüte mit dem Archaeopteryx ein wenig zur Seite schieben, damit ein rothaariges Wesen mit Wimpern aus den Siebzigerjahren sich auf der Sitzbank niederlassen konnte. Ich sah zu Mick auf und fragte ihn, was das solle.

»Gesellschaft«, sagte Mick.

»Ich brauche beim Schach keine Gesellschaft.«

»Ich schon«, erwiderte Mick, was sich komisch anhörte, wenn man bedachte, daß er die letzte Stunde allein vor dem Brett gesessen hatte. Aber gut, da hatte er ja auch noch keinen Gegner gehabt.

Ich ließ ihm seinen Willen und war bemüht, mich auf die Figuren zu konzentrieren. Was ja bedeutete, zu versuchen, in die Zukunft zu sehen. In verschiedene Zukünfte. Und was einem in diesen Zukünften alles zustoßen könnte.

Interessanterweise sprach nun auch Mick von der Zukunft. Er redete mit den Mädchen, ich war mir aber sicher, daß er das alles nur erzählte, um meine Konzentration zu stören. Er fragte die drei Grazien: »Kennt ihr die Geschichte von diesem Schriftstellertypen, der da in ein blödes Zeitloch fällt und sich in diesem Loch den Schädel anhaut, und als er dann aufwacht, ist er halt in der Zukunft. In so einem Raumschiff. Zusammen mit einer netten Frau, die jedoch keine Frau ist, sondern ein hübscher Roboter. Aber mit allem dran, was dazugehört.«

Die Grazien verdrehten die Augen.

»Verdammt, Mädels, hört ihr mir eigentlich zu?«

»Na klar, Mick, hör’n wir dir zu.«

»Gut«, brummte Mick und setzte fort: »Der Typ sitzt also in so einem gemütlichen Cockpit und wird plötzlich ganz sentimental. Weil da draußen halt das Weltall ist und die ganzen Sterne und die ganzen Galaxien und die kleinen Sonden und das Nichts. Und da quatscht er diese Roboterfrau an und erklärt ihr, daß er wahrscheinlich nur darum in das Zeitloch gefallen ist, weil er es in seinem alten Leben nicht mehr ausgehalten hat. Warum das denn? fragt ihn die Roboterfrau. Also erzählt er ihr, er sei früher, als Schriftsteller, ein absoluter Versager gewesen. Und wie ihn das krank gemacht hätte, dauernd davon zu lesen, wie da andere die Preise abräumen und die Bestsellerlisten anführen und jeden Tag hundert Mails von ihren Fans kriegen und von den Titelseiten heruntergrinsen und bei jeder Talkshow ihr Maul aufreißen. Während er dahockt und seine Romane schreibt, die zwar am Markt sind, aber so, als seien sie unsichtbar. Kaum ein Kritiker, der sich dafür interessiert, und die Leser sowieso nicht. Und wie unglücklich er damit gewesen sei und wie sehr er sich dafür geniert habe vor seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Gar nicht nur wegen des Geldes, das auch, aber der Mensch braucht halt Anerkennung. Und weil das alles so deprimierend gewesen sei, ja, darum wäre er in dieses Zeitloch gefallen. Andere laufen mehr oder weniger absichtlich-unabsichtlich in ein Auto hinein oder verwechseln eine Tagesdosis Blutdrucktabletten mit einer Jahresration. Und einige stolpern eben in irgend so ein Raum-Zeit-Ding hinein und sind nachher weg von ihrem alten Leben.«

»Und was macht er jetzt in diesem Raumschiff?« fragte die Rothaarige. »Bumst er den Roboter?«

»He, red ned so schiach«, mahnte Mick und hob den Zeigefinger. »Das ist kein Spaß, diese Geschichte. Das muß man begreifen. Einerseits ist der Typ erleichtert, daß er sein Versagerdasein hinter sich hat. Ein paar Jahrtausende und ein paar tausend Lichtjahre weg von Bachmann-Preisen und Talkshows braucht er sich nicht zu grämen, wie schlecht er ist und wie gut die anderen. Andererseits ist er Familienvater, beziehungsweise ist er das jetzt nicht mehr. Und das macht ihn dann schon unglücklich. Und weil er unglücklich ist, lehnt er sich halt an diese Roboterfrau an.«

»Das meinte ich doch«, sagte die Rothaarige.

»Kannst du zwischen anlehnen und bumsen nicht unterscheiden, du Schnalln? Der Mann da steckt in einem Dilemma, verstehst du? Irgendwie froh um das Zeitloch und irgendwie eben nicht. Jedenfalls ist diese Roboterfrau eine von den guten und läßt es sich gefallen, daß er sich an ihrem Busen ausheult. Sie fragt ihn, wie er heißt. Na, er sagt es ihr. Und dann fragt sie ihn, wann er gelebt hat. Hm, das ist ein bißchen komisch gefragt. Aber sie hat ja recht. Also sagt er es ihr. Das macht ihn so traurig, daß er gleich wieder mit seiner Winselei anfangt. Irgendwann schläft er dabei ein. Als er aufwacht, klebt er noch immer an dieser Roboterfrau. Sie blickt ihn aber so komisch an. Was ist? fragt er. Sie sagt, sie hätte nachgesehen. Nachgesehen? Was denn nachgesehen? fragt er. Über dein Leben, sagt sie und erklärt ihm, daß sie, während er geschlafen hat, im Computer war. Die Sache liegt zwar verdammt lange zurück, doch der Computer ist ganz gut drauf und hat die alten Daten ausgespuckt. Leben im 21. Jahrhundert. Irgendwie drollig. Na, jedenfalls habe sie mal geschaut, ob etwas über ihn zu finden sei. Über mich?! lacht er laut auf. Was hast du gefunden? Die Liste sämtlicher Sozialhilfeempfänger? Sie aber sagt: Da gab es so einen Preis zu deiner Zeit, den wichtigsten damals, den für die ganz großen Dichter. Also… kurz bevor du verschwunden bist, na, da hast du diesen Preis bekommen. Ich habe Fotos gesehen, wie man dir Blumen in die Hand drückt und du irgendwelche Hände schüttelst und eine Rede hältst und der Held der Welt bist. Zumindest der Held unter den Gscheiten.«

»Aha«, sagte die dritte der Grazien, »das soll jetzt wohl ein Symbol für was sein. Wie schrecklich Erfolg ist. Oder wie soll ich das verstehn?«

»Du sollst dein Hirn zusammenreißen«, empfahl Mick. »Du sollst begreifen, daß man sogar für einen Erfolg bereit sein muß. Daß es mindestens so schwierig ist, ein Glück wie ein Unglück auszuhalten. Wir fürchten uns immer nur vor der Niederlage, nie vor dem Sieg. Immer nur vor der Krankheit, nie vor dem Gesundbleiben. Es gibt aber Triumphe, die bringen dich um.«

»Na, das kann uns sicher nicht passieren«, meinte die Rothaarige.

»Genau das ist der Fehler«, sagte Mick. »So hat es wohl auch der Mann in dieser Geschichte gesehen. Manche glauben, sie seien vor dem Glück gefeit. Und wenn das Glück dann kommt, kriegen sie einen Schlag, einen Schlag ins Gesicht oder einen Herzschlag, oder sie verlieren ein bisserl den Verstand.«

Die Frau, die ich zuvor auf einen falschen Champagner eingeladen hatte, fragte jetzt: »Na gut. Wie geht’s weiter? Ich mein, in dem Raumschiff.«

»Der Typ war vollkommen fertig«, berichtete Mick. »Wollte unbedingt zurück in sein altes Leben. Seinen blöden Dichterpreis genießen. Hat nicht kapiert, daß ihn dieser Preis umgebracht hat. Das tun Preise meistens. Sogar die Preise vom Preisausschreiben. Da steckt immer der Teufel mit drin. Man muß schon clever sein, um einen Preis zu gewinnen und danach gesund im Kopf zu bleiben.«

»Wie viele Preise hast du eigentlich schon gewonnen, Mickilein?«

»Oha! Sind wir heute denn besonders mutig?« erkundigte sich der Mann, der Mick war. Seine Augen waren jetzt kein Bergsee mehr, sondern ganz aus Senf.

Die drei Grazien senkten ihre Blicke. Man war am Ende des Spaßes angelangt. Mick sagte: »Zurück auf eure Plätze!«

Die drei Frauen erhoben sich und balancierten auf dünnen Absätzen wieder an ihren alten Tisch.

Mick verschränkte seine beringten Finger zu einer kleinen Drahtskulptur und sagte: »Wie wär’s, wenn Sie jetzt einen Zug tun täten? Nicht, daß ich Sie drängen will.«

»Ihre kleine Geschichte hat mich ein wenig abgelenkt«, sagte ich ihm. »Aber das war ja wohl auch der Sinn der Übung.«

»Ich hoffe, Sie sind keine Mimose«, meinte Mick.

»Eher bin ich ein Roboter.«

Meine Güte, was wollte ich denn damit gesagt haben? Nun, ich war mir nicht sicher. Wie ich schon erwähnt habe, besitze ich alles andere als ein maschinenhaftes Gedächtnis. Ich bin kein Rechner, ich bin vergeßlich. Auch wenn man sich natürlich gut vorstellen kann, daß eine Maschine, etwa ein Androide, welcher vergeßlich ist, genau diese Vergeßlichkeit als Beweis dafür ansieht, kein künstlicher, sondern ein richtiger Mensch zu sein. Maschinen tendieren dazu, den Makel als menschlich anzusehen. Sie idealisieren den Makel. Sie wünschen sich eine versaute Kindheit, eine ansteckende Krankheit, eine Schwäche (und sei’s auch nur eine Schwäche für die Poesie), einen fehlenden Arm, einen Alterungsprozeß oder eben eine individualistisch anmutende Vergeßlichkeit.

Doch Vergeßlichkeit ist ganz sicher kein Privileg der Menschen. Und fotografisch genaue Erinnerungen wiederum kein Privileg der Maschinen. Und obgleich ich weder ein Mensch noch eine Maschine bin und prinzipiell mit einem eher schlechten Gedächtnis ausgestattet, überkam mich in diesem Moment die Überzeugung, daß ich die Konstellation, wie sie hier auf dem Schachbrett gegeben war, schon einmal gesehen hatte. Da stand ein weißer Springer, der von der Ostflanke in den schwarzen Westen vorgedrungen und dort offensichtlich eins meiner Pferde geschlagen hatte. Wobei es sich nun aufdrängte, mit einem Bauern zurückzuschlagen. Eine Bilderbuchsituation dafür, daß jeder sein Pferd verliert, aber keiner sein Gesicht, und danach vor allem ein wenig mehr Raum vorhanden ist. – Nichts gegen Pferde, doch diese Reiterei ist wirklich nicht das Leben.

Richtig, jetzt fiel es mir wieder ein. Mein schlechtes Gedächtnis hatte mich nicht getrogen. Das, was ich hier sah, war exakt die gleiche Situation wie im Spiel zwischen dem verrückten Bobby Fischer, diesem Glenn Gould der Schachkunst, und einem Journalisten namens Robert Byrne. Allerdings hatte Byrne damals zu Fischers Erstaunen nicht das getan, was sich so zwingend angeboten hatte. Er hatte das weiße Pferd nicht geschlagen, hatte sich geradezu blindgestellt ob der Verführung. Wie jemand, der einem Kuß widersteht. Sodann hatte Byrne seinen Königsläufer neben dem weißen Pferd in Stellung gebracht, um der schwarzen Dame Deckung zu geben, wenn diese darangehen würde, einen Bauern zu eliminieren und den weißen König schachmatt zu setzen.

Es ist völlig klar, daß Fischer sich gegen ein solches Unterfangen wappnete und seinen bedrohten Bauern ein Feld vorschickte. Doch selbst jetzt noch unterließ es Byrne, Fischers weißen Springer, der ja fortgesetzt gleich einem übereifrigen Schulkind auf sich aufmerksam machte, vom Brett zu befördern. Nein, Byrne schlug vielmehr den vor der weißen Königin stehenden Läufer, begab sich auf diese Weise in die Schutzsphäre der eigenen Dame und kassierte in der Folge auch noch einen feindlichen Turm. Woraus sich etwas ergab, was man im Schach »Materialvorteil« nennt, ein Phänomen, das sich gleichfalls sehr schön vom wirklichen Leben unterscheidet. Weil ja im wirklichen Leben das Prinzip der Aufrüstung besteht, der Anhäufung und der Übertreibung. Im wirklichen Leben dominiert die Tendenz, eine zweite und dritte Dame anzuschaffen, am besten eine Armee von Damen, anstatt sich wie im Schach auf die Armee der Bauern zu verlassen, deren einzelne Mitglieder unter anderem die hehre Fähigkeit besitzen, durch Vordringen bis an die gegnerische Kante sich zu opfern und eine verlorene Dame wieder ins Spiel zurückzubringen. Solche Bauern braucht das Land. Allerdings braucht das Land auch eine solche Königin, die überhaupt bereit ist, sich von einem Bauern retten zu lassen. Im Unterschied zu diesen auftoupierten First Ladys, die dümmlich neben ihren Gatten grinsen und dank wohltätiger Stiftungen ihr schlechtes Gewissen zauberhutartig in ein gutes verwandeln. Wie Leute, die einen abgeschlagenen Schädel wieder auf den Rumpf setzen, mit ein bißchen Spucke die Bruchstellen verschließen und dann so tun, als sei alles in bester Ordnung.

Na gut, die Stellung hier auf dem Brett entsprach also der Fischer-Byrne-Situation. Und darum entschloß ich mich, so wie einst Byrne es getan hatte, das weiße Pferd zu ignorieren und statt dessen mit dem Läufer auf d6 zu gehen, um ein Schachmatt vorzubereiten, welches natürlich nicht wirklich eintreten würde, sondern eben bloß als etwas Mögliches funktionierte, als eine Warnung, eine Bedrohung, eine Ablenkung. Außer…außer dieser Mick war eine Niete.

Doch das war Mick nicht. Er durchschaute, was es zu durchschauen gab, und tat sodann denselben Zug, den auch Bobby Fischer getan hatte: mit dem Bauern nach vorn.

Es war nun keineswegs so, daß ich sämtliche Züge, wie sie einst vollzogen worden waren, vollständig im Kopf hatte. Sondern es ergaben sich chronologisch auftauchende Brocken der Erinnerung. Darum konnte ich auch gar nicht sagen, wer eigentlich damals das Spiel gewonnen hatte, ob also die gewagten Manöver eines inspirierten Laien dazu geführt hatten, das Schachgenie Fischer zu besiegen.

Aber bis ans Ende kamen wir sowieso nicht. Obgleich auch Mick sich haargenau an die Züge Bobby Fischers hielt, unterbrach er zum Schluß hin die Partie und erklärte, daß er zu tun habe. Geschäftliches. Und außerdem schließe das Lokal in einer halben Stunde.

Ich war mir jetzt sicher, daß ich die Partie gewonnen hätte. Beziehungsweise, daß in der legendären Partie Robert Byrne als Sieger hervorgegangen war.

»Sie flüchten doch nicht etwa?« fragte ich Mick, der bereits im Gehen begriffen war.

»Wenn Sie mich mal flüchten sehen, alter Mann, wird Wien nicht mehr lange stehen. Und Wien steht sicher ewig.«

Ja, für ihn mochte ich ein alter Mann sein. Na gut, ich ließ ihm seinen Willen. Ich rege mich nur auf, wenn es auch lohnt, sich aufzuregen.

Doch gleich darauf gab es genau dafür ausreichend Grund. Nachdem ich nämlich die Schachfiguren vom Feld genommen und sie im Innenraum des Bretts verstaut hatte, erhob ich mich, um zur Theke zu wechseln und den Kaffee und Sekt zu bezahlen. Ich beugte mich hinunter zur Lederbank und wollte die Plastiktüte mit dem Archaeopteryx fassen. Aber da gab es nichts zu fassen. Die Bank war vollkommen leer.

»Was soll das?« fuhr ich hoch. Ich sah hinüber zu dem Tisch mit den drei Grazien. Mist, die Frauen waren verschwunden. Überhaupt schien ich der letzte Gast zu sein. Nur noch der Barkeeper stand ruhig und hoheitsvoll hinter seinem Tresen.

»Wo sind die verdammten Weiber?«

Eigentlich gehört der Ausdruck »Weiber« nicht zu meinem Vokabular, und wenn, dann nur als Zitat. Doch ich war jetzt wirklich sauer. Für dieses Fossil hatte ich Stunden zuvor einen Mann umgebracht. Und jetzt ließ ich mir das Ding von irgendeiner Hure praktisch unterm Hintern wegklauen.

»Also?« Ich sah den Barkeeper eindringlich an.

»Die Damen haben jetzt Feierabend«, erklärte der Mann im Smoking.

»Dann bringen Sie mich zu Herrn Mick. Der hat ja wohl hier irgendwo sein Büro, oder?«

»In der Tat. Aber ich denke nicht, daß er jetzt…er hat geschäftlich zu tun, wie er bereits, glaube ich, Ihnen gegenüber angedeutet hat.«

»Da werden die Geschäfte kurz ruhen müssen«, machte ich klar. Und: »Ich habe mit Mick zu sprechen. Sagen Sie ihm, daß das jetzt kein Schachspiel mehr ist.«

»Gut. Wenn Sie darauf bestehen.«

»Das tue ich ganz sicher.«