7 | Ein halber Vogel und ein ganzer Toter
So harmonisch dieser Akt im Stehen auch gewesen war – getragen von beiderseitigem Einverständnis und beiderseitiger Überzeugung, das Richtige zu tun, getragen nicht minder vom Umstand passender Körpergröße, passenden Gewichts und passender Gelenkigkeit (denn die Vorstellung, behäbige See-Elefanten und grazile Antilopen könnten guten Sex miteinander haben, entwickeln ja bloß Menschen, denen nichts anderes übrigbleibt) –, so war es dennoch so, daß nach Beendigung dieser warmen Dusche die Bedürfnisse der beiden Liebenden auseinandergingen. Lorenz nämlich wäre nur allzugerne mit Sera in ein ebenso warmes Bett gekrochen, vielleicht um erneut mit ihr zu schlafen, vielleicht auch nur, um Arm in Arm in einen Schlaf zu sinken, in dem es hoffentlich keine Rieseneier zu schleppen gab. Sera aber erklärte, sie brauche jetzt ihre Ruhe.
»Was ist los?« fragte Lorenz. »Was habe ich falsch gemacht?«
»Mußt du erst etwas falsch machen, damit ich allein sein darf?«
»Natürlich nicht, aber…«
»Ja!« Sera wartete. Es war jetzt etwas in ihrem Blick, das Lorenz neu war. Gewissermaßen ein Schatten im Herbstgrün. Ein Nachtschatten. Wobei es falsch wäre, zu sagen, ein Schatten stehe für das Böse. Schatten sind sowenig böse wie Haie. Freilich, Haie sind Jäger, und Schatten sind dunkel. Und im Dunkeln kann der Mensch schlecht sehen.
»Ich hoffe einfach«, versuchte Lorenz seine Stimme in der Balance zu halten, »daß es nichts Schlechtes bedeutet, daß du jetzt ohne mich sein willst.«
»Wie kommst du auf die Idee, mein Schatz?« fragte Sera.
Schatz also. Wie wohl das tat, dieses Wort zu hören. »Schatz« ist ein Begriff aus der Kindheit. Einer der besten. Man denkt an Edelsteine und Golddukaten und an magische Bücher, in denen steht, wie man diese Golddukaten in Schokoeis verwandeln kann.
»Gut, Sera, ich gehe jetzt.«
»Magst du morgen zum Abendessen kommen?« fragte Sera.
»Gerne.«
»Acht Uhr«, sagte Sera, gab Lorenz einen Kuß und verschwand sodann unter einem Frotteehandtuch, mit dem sie ihr blaues Haar trockenrieb. Lorenz zog sich an und ging.
Draußen war es fortgesetzt dunkel, ohne daß klar war, wieviel Schwärze noch vom Gewitter und wieviel bereits vom Sonnenuntergang stammte. Die Kühle hingegen hatte abgenommen. Es tropfte, und das Licht der Straßenbeleuchtung spiegelte sich in silbrigen Pfützen. Die ganze Stadt war ein defekter Eisschrank.
Lorenz hatte vorgehabt, noch etwas trinken zu gehen und dann ab nach Hause. Aber er überlegte es sich und betrat nun seinen halbfertigen Laden, den soeben die Handwerker verließen. Lorenz durchschritt langsam den Verkaufsraum und betrachtete die leeren Regale, die im Licht der kleinen Spots brav und ruhig dalagen. Auf die Wolle wartend.
Nachdem er eine Weile in der Vorstellung des fertigen und mit Ware bestückten Geschäfts geschwelgt hatte, schaltete Lorenz das Licht aus und trat in den hinteren Raum, wo er den nach oben versetzten Schalter betätigte. Hier hing noch immer eine einzige Glühlampe vom Plafond und versetzte den Raum in ein schwaches, kaltes Licht. Als leuchte ein hartgekochtes Ei. Farbbehälter und Werkzeug standen herum, Leitern, ein Tapeziertisch und irgend jemandes Motorroller. In der Rosmalenstraße herrschte absolutes Parkverbot.
Lorenz fühlte eine drängende Müdigkeit. Am liebsten hätte er sich auf den Tisch gelegt. Er wollte hier bleiben. Er wollte in Seras Nähe sein. Wenn sein geographisches Empfinden ihn nicht täuschte, befand er sich genau über ihrem Schlafzimmer. Nein, nicht ganz. Denn Seras Schlafzimmer, ein recht schmales Kabinett, zeigte ja hinaus auf den Hinterhof.
So erschöpft Lorenz auch war, verspürte er ein zwingendes Bedürfnis, sich exakt unterhalb der Schlafstätte seiner Geliebten zu betten. Und sei es auf dem harten Boden. Jedenfalls sah er sich nun nach einem Gerät um, mit dem es gelingen konnte, jene Metalltüre zu öffnen, die ja noch immer verschlossen war. Er fand zwar kein Brecheisen, aber in einer der beiden Werkzeugkästen einen Hammer mit einer spitz zulaufenden Nagelklaue, die ihm ebenfalls geeignet schien. Er würde halt keinen Nagel ziehen, sondern eine ganze Türe.
Lorenz fügte die Spitze auf Höhe des Schlosses hinter die Kante und drückte den Griff zur Wand. Wie bereits erwähnt, war er kein Schläger, doch kräftig war er schon. Im Bankdrücken schaffte er neunzig Kilo. Und er schaffte diese Türe. Nicht gleich und auch nicht, als würde er Butter schneiden, aber nach mehreren Versuchen und nachdem er mit einem Meißel das alles andere als massive Mauerwerk gelockert hatte, brach er die Türe mitsamt dem ganzen Schloß auf. Gut, er hatte ohnehin vorgehabt, diese verrostete Platte entfernen zu lassen. Er öffnete sie jetzt ganz und trat in den dunklen Raum. Das Fehlen eines Fensters überraschte ihn nicht, denn hätte es existiert, wäre es ihm bereits – von der Hofseite her, vom Dschungel aus – aufgefallen. Und das war es nun mal nicht. Er griff zur Seite, einen Lichtschalter suchend. Als er keinen fand, ging er in die Knie. Und tatsächlich: Auch hier befand sich der Schalter tief unten, im Zwergen- und Wichtelbereich. Er legte den kleinen Hebel um. Zwei Neonröhren sprangen in ihrer typisch zögerlich-nervösen Art an und erhellten den kleinen Raum.
Lorenz hatte einen Abstellraum erwartet, doch was er jetzt sah, war eine sauber eingerichtete Werkstatt. Die Werkstatt eines Paläontologen oder wenigstens Hobbypaläontologen. So viel verstand Lorenz von der Sache, um die Gerätschaft auf dem Tisch, die zahnarztartige Ausrüstung, die Vergrößerungslampe, die Gesteinsbrocken mit den spiraligen Gehäusespuren ewig alter Tintenfische, um das alles richtig einzuordnen. Ja, hier war der Arbeitsplatz eines Menschen zu sehen, der aus alten Steinen alte Formen heraushämmerte und fräste und blies und pinselte.
Lorenz schaltete die Lampe an und betrachtete durch das Vergrößerungsglas einen flachen Brocken von der Größe einer Kinderhand, auf dem zu Dreiviertel eine Struktur freigelegt war. Etwas Pflanzliches. Vielleicht auch ein Wurm. So gut kannte sich Lorenz nun wieder nicht aus, um Seelilien von Würmern oder geringelten Exkrementen auseinanderhalten zu können.
Sein Blick ging nach oben, zur Wand hin. Auf einem Metallbrett waren, mit kleinen Magneten befestigt, mehrere handschriftliche Notizen fixiert. Geschrieben in einer unleserlichen Schrift, ergänzt von Zeichnungen, die nicht minder schwer zu entschlüsseln waren. Sehr genialisch. Das einzig halbwegs Konkrete war eine Fotografie, auf der ein Wesen abgebildet war, das Lorenz augenblicklich an die Kreatur erinnerte, welche ein verrückter Schweizer für den Film »Alien« entworfen hatte. Vor allem der dünne, lange, wie eine Peitsche angehobene Schwanz, aber ebenso die schlanke Gestalt, die Krallen, der helmartig glatte Schädel gemahnten an jenes cineastische Ungeheuer. Doch das Wesen auf dem Foto war kein Ungeheuer, sondern ein ehemaliges Missing link, wenngleich man die Auffassung vertreten kann, daß alle Zwischenformen etwas Monströses und Gespenstisches an sich haben. Viel weniger einen Übergang verkörpern als eine gruselige Unentschlossenheit, ein Verharren im Zustand des Halbfertigen. – Wäre es möglich, daß der Homo sapiens in ferner Zukunft als Bindeglied zwischen Vormenschen und Nachmenschen galt? Oder vielleicht zwischen Vormensch und Maschine?
Lorenz drehte das Foto um und wurde durch einen Aufdruck in der linken oberen Ecke davon in Kenntnis gesetzt, daß es sich bei der Abbildung um das Fossil eines Urvogels handelte, eines Archaeo-pteryx lithographica, und zwar um das sogenannte Solnhofer Exemplar. Auf der freien Schreibfläche hatte jemand mit einer Schrift, die um einiges leserlicher war als die auf den Notizblättern, folgenden Rat erteilt:
Keine Angst vor alten Tieren!
Mehr stand da nicht. Kein Gruß, kein Name. Allerdings war die Karte frankiert und abgestempelt und wies eine Adresse auf, die der Bäckerei Nix.
Lorenz betrachtete nochmals die Abbildung auf der Vorderseite. Der Bezug zu einer Echse oder eben einem Alien erschien ihm sehr viel offenkundiger als zu einem Vogel. Kein Wunder, denn bei diesem Exemplar fehlten die Federn, fehlte ein deutlich erkennbarer Schnabel, die Beine muteten viel zu lang an, dazu kam der Eindruck einer aufrechten Haltung. Dabei war der Vogel ganz sicher nicht in aufrechter Haltung gestorben, aber so sah es nun mal aus.
Ohne nur eine Sekunde über Sinn oder Unsinn seiner Handlung nachzudenken, steckte Lorenz die Karte ein. Dann blickte er sich weiter um. In einer Ecke des Raums war ein modernes Waschbecken montiert. Rechts davon ein schmales Regal mit Fachliteratur, links ein Stahlschrank. Am anderen Ende des Raums stand ein Bett. Ein Bett für einen Mann oder eine Frau. Unmöglich, daß zwei Personen darauf hätten Platz finden können. Vielmehr handelte es sich um die Liegestatt eines arbeitenden Menschen, kein Himmelbett, ein Erdenbett. Und genau als einen solchen Menschen empfand sich Lorenz im Moment, auch wenn er an diesem Abend eigentlich nicht gearbeitet hatte. Aber das Gefühl der Arbeit und der aus ihr resultierenden Erschöpfung steckte ganz tief und mächtig in seinen Gliedern. Er überlegte nicht weiter, schaltete das Licht aus und ließ sich auf das mit einer Wolldecke bespannte Bett fallen. Er war so rasch eingeschlafen, daß selbst der Tod keine Chance gehabt hätte, ihn einzuholen.
Der Schlaf, der ihn ereilte, war ein Schlaf ohne Eier. Ein Schlaf, als treibe jemand kopflos durchs Weltall.
Als Lorenz erwachte, war da weiterhin die Dunkelheit. Natürlich war sie das, da weder in diesem noch im benachbarten Raum ein Fenster den frühen Tag – einen Tag, den die Uhr verkündete – hereingelassen hätte. Das wenige Licht stammte von der geduldig brennenden Glühlampe im Nebenraum. Nun, dieses wenige Licht war es ja auch nicht, was Lorenz geweckt hatte. Sondern ein Geräusch. Nein, kein Geräusch, vielmehr ein Geruch. Aber eben ein Geruch von der Art eines Geräuschs, eines heftigen, durchdringenden Geräuschs. Lorenz setzte sich auf.
»Was ist das?« fragte er laut. Seine Füße standen in einer Lache. Klebrig, wie bei Dispersion. Lorenz sah auf den Boden. Farbe war das nicht. Zumindest keine weiße.
Er brauchte ein paar Sekunden, dann begriff er, daß er in einer Pfütze von Blut stand. Eigenes Blut? Er spürte nichts, keine Wunde oder so. Und das hätte ja auch eine ziemlich große Wunde sein müssen, um diesen ganzen See zu bewerkstelligen.
Er war noch genügend betäubt von seinem schweren Schlaf, um nicht gleich in Panik zu geraten. Statt dessen erhob er sich, trat aus der Flüssigkeit heraus und schritt hinüber zum tiefgelegten Lichtschalter.
Tk, Tk, Sssrrupa! Die Neonröhren sprangen an.
Ja, das war eine schöne Sauerei. In der Tat Blut, auch wenn es dunkler war, als sich Lorenz das gedacht hatte, welcher Blut ja nur vor dem hellen Hintergrund der eigenen Haut kannte, nicht jedoch vor dem Hintergrund eines schwärzlichen Steinbodens. Und nicht in dieser Menge. Die Lache führte unter dem Bett hervor und reichte beinahe bis zur Mitte des Raums.
Gleich nachdem Lorenz den Lichtschalter betätigt hatte, war er wieder aufgestanden. Um nun aber erneut in die Knie zu gehen und mit einer Schnelligkeit – mit derselben, mit der man ein Kuvert öffnet, um rasch die schlechte Nachricht bestätigt zu bekommen – unter das Bett zu sehen.
Ganz klar, wo Blut ist, braucht es eine Quelle. Und diese Quelle befand sich tatsächlich unterhalb des Gestells, in dem Lorenz die Nacht verbracht hatte. Er rutschte näher, erneut in die Lache geratend, jetzt auch mit den Händen. Aber er merkte es kaum, stierte gebannt auf die Stelle. Dort lag ein Mensch. Und als Lorenz jetzt nahe genug war, erkannte er die Wunde am Hals, eine mächtige Spalte. Der Mann war tot. Sein Mund stand offen wie eine kleine Falle. Eine Fliegenfalle. Doch keine Frage, dieser Mann hier würde nichts mehr fangen.
Lorenz richtete sich halb auf. Endlich bemerkte er das viele Blut, das nicht bloß an seinen Schuhen klebte. Seine Hände waren voll davon. Er wischte es an der Hose ab. Na, fehlte nur noch, daß er sich das Zeug ins Gesicht schmierte. Er benötigte ein paar tiefe Atemzüge, dann kam er so weit zur Vernunft, nicht weiter fremdes Blut über die eigene Kleidung zu verteilen, ging vollständig in die Höhe und trat hinüber zum Waschbecken, um sich so gut als möglich zu säubern. – Aber es ist schon wie im Film. Blut ist nicht nur ein besonderer Saft, sondern auch voll mit hartnäckigen Farbstoffen, die man sich nicht so mir nichts, dir nichts von der Haut und aus den Textilien spülen kann.
Als er nun da stand, tropfend, naß vom Wasser, dennoch alles andere als sauber, dachte er angestrengt nach. Sicher, er mußte die Polizei anrufen. Aber war es nicht vielleicht besser, zuvor unter die Dusche zu gehen und die Kleidung zu wechseln? Doch welche Dusche und welche Kleidung? Er stand ja nicht in seiner Wohnung. Vor allem waren solche Manöver des Verbergens dazu angetan, später entlarvt und dann erst recht mißverstanden zu werden. Zudem war es nur normal, daß, wenn man aus dem Bett direkt in eine Blutlache hineinstieg, man etwas von diesem Blut abbekam. Nein, es würde nichts bringen, die Sache kaschieren zu wollen. Nur die Wahrheit brachte etwas ein. Aha, nur die Wahrheit also! Wo hatte der gute Lorenz das bloß aufgeschnappt?
Jedenfalls zog er sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Polizei. Eine freundliche Frauenstimme erkundigte sich, worum es gehe.
»Hier liegt ein Toter«, sagte Lorenz.
»Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und wo Sie sich gerade befinden.«
Lorenz tat es.
Die Frau fragte ihn, ob er sich bezüglich des Todes der betreffenden Person sicher sei.
»Er atmet nicht. Er bewegt sich nicht. Und er hat einen ziemlich großen Schnitt im Hals.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen.«
Es waren dann aber zwei Notärzte, ein Mann und eine Frau, die als erste eintrafen. Beide sagten nur: »Scheiße!« Und waren tunlichst bemüht, nichts anzufassen.
»Und wenn er vielleicht doch noch lebt? Ein bißchen wenigstens«, fragte Lorenz, der sich jetzt besser gefühlt hätte, wenn auch die beiden Notärzte etwas Blut auf die Finger bekommen hätten.
»Das würden wir merken«, äußerte die Frau.
»Ach ja? Mittels Telepathie?« Lorenz verzog das Gesicht, als versuche er, sich die Oberlippe ins Nasenloch zu stopfen.
»Und was ist mit Ihnen?« fragte die Notfalldame. »Sind Sie verletzt?«
»Sollte ich?«
»Nun, wenn es ein Kampf war…«
»Ich habe den Mann nur gefunden«, erklärte Lorenz. Um gleich darauf anzufügen: »Aber das geht Sie nichts an.«
»Nein, das geht uns nichts an.« Die beiden hatten sich zur Türe gestellt. Die Nähe des Fluchtweges suchend.
Wenige Minuten später wurden die Notärzte aus ihrer eigenen Not befreit. Die Polizei traf ein. Zuerst ein paar Uniformierte, sodann die Kripo.
Erneut erklärte Lorenz, diesmal jedoch so eindringlich wie möglich, den Toten nur gefunden und dabei »irgendwie ins Blut« geraten zu sein.
»Sie haben den Toten also angefaßt?« erkundigte sich der jüngere der beiden Kriminalpolizisten, die wie Vater und Sohn wirkten, der eine weißhaarig und mit weißem Bart, der andere ein richtiger Schönling mit dunklem Teint. Man hätte sagen können, daß die zwei zusammen ein Schwarzweißbild ergaben.
Der junge Schönling fragte also mit einem präzisen, gleichzeitig pigmentierten Tonfall, der verriet, daß Deutsch nicht seine Muttersprache war, ob Lorenz den Toten angefaßt habe.
»Nein.«
»Dann verstehe ich nicht, warum Sie voller Blut sind.«
»Ich bin nicht voller Blut«, wehrte sich Lorenz. »Ich bin nur mit den Füßen hier reingetreten.«
»Das ist blöd, nicht wahr?« kommentierte der Polizist, der den Namen Stirling trug.
»Ersparen Sie mir Ihren Zynismus«, bat Lorenz. »Es ist kein Spaß, so was zu erleben.«
»Das behauptet auch niemand. Aber Sie werden verstehen, daß es uns interessiert, wie das Blut des Toten auf Ihre Hände kommt. Ein Toter, der offenkundig ein ermordeter Toter ist.«
»Ich lag in diesem Bett«, schlug Lorenz den geplanten Weg der Wahrheit ein. »Und als ich aufstand, ja, da war das Blut. Und als ich unter dem Bett nachsah, ja, da war der Mann. Mehr kann ich nicht sagen, weil mehr nicht zu sagen ist.«
»Sie kennen ihn also nicht«, sagte Stirling, dessen Vorname Stavros war. Er zeigte auf den Toten, den zu betrachten man nicht mehr in die Knie gehen mußte, da das Bett zur Seite gehoben worden war. So tot der Tote offensichtlich war, hatte man dennoch das vorschriftsmäßige EKG gemacht und begann nun, Leichnam und Tatort von allen Seiten zu fotografieren.
Lorenz warf einen kurzen Blick auf den offen Daliegenden und sagte: »Nein, ich kenne ihn nicht.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, faßte Stirling zusammen, »dann haben Sie hier geschlafen. Und als Sie aufgewacht sind, lag dieser Ihnen unbekannte tote Mann unter dem Bett.«
»Wie ich schon sagte, zuerst habe ich nur das Blut gesehen. Denn ich gehöre nicht zu denen, die gleich nach dem Aufwachen den Kopf unters Bett halten, um nachzusehen, ob sich da jemand versteckt.«
»Ein Schlafzimmer ist das hier aber nicht«, äußerte Stirling und drehte seinen hübschen Schädel von der linken zur rechten Schulter. Überhaupt konnte man sagen, daß mit Lorenz Mohn und Stavros Stirling praktisch zwei Männer aufeinandertrafen, die wie im Märchen darum konkurrierten, der Schönste im Land zu sein. Obgleich diesbezüglich kein einziges Wort fiel. Man war nicht im Märchen, sondern im Krimi. Beziehungsweise in einer von Krimielementen beherrschten Wirklichkeit.
Lorenz erklärte nun, warum er in diesem Raum genächtigt hatte. Wobei er die Wahrheit halbierte und die eine Hälfte davon wegließ. Sprich, er ließ es unerwähnt, mit Sera Bilten geduscht zu haben. Statt dessen berichtete er, am Abend zuvor in seinem zukünftigen Geschäft gewesen zu sein und in der Folge – wie schon längst geplant – die Metalltüre aufgebrochen und schließlich das Faktum eines Bettes genutzt zu haben, um seiner beträchtlichen Müdigkeit nachzugeben.
»Waren Sie denn nicht überrascht, eine solche Werkstatt vorzufinden?« fragte Stirling.
»Der Tote heute morgen hat mich mehr überrascht«, antwortete Lorenz.
»Sie werden verstehen, daß wir Ihre Fingerabdrücke benötigen.«
»Natürlich. Umso besser, wenn Sie dann feststellen, daß ich den Toten tatsächlich nicht angefaßt habe. Nicht auszudenken, ich hätte versucht, seinen Puls zu fühlen.«
»Wäre nicht so schlimm«, bemerkte Stirling. »Es ist keineswegs unser Stil, als Mörder immer den Nächstbesten zu nehmen. Nur dann, wenn der Nächstbeste auch wirklich der Mörder ist.«
»Das beruhigt mich.«
»Das sollte es wirklich«, sagte Stavros Stirling und lächelte mit seinen grünen, zur Mitte hin ins Blaue wechselnden Augen. Er war Grieche, ein grünblauäugiger Grieche, dessen Vater aus England stammte. Er hatte eine perfekte Schulbildung genossen und dabei auch Deutsch erlernt. Diesen Kenntnissen war es zu verdanken, daß er seit einem Monat im Dienst der österreichischen Polizei stand. So wie man früher vielleicht nach Afrika gegangen war. Nicht, daß die Griechen den Auftrag hatten, die österreichische Polizei zu reformieren – das wäre gewesen, als versuche ein Grottenmolch einem Maulwurf das Sehen beizubringen –, aber es war doch so, daß auch die griechische Regierung gewisse Interessen in Österreich nicht nur auf diplomatischem Wege vertrat. Es hieß ja immer, Europa würde zusammenwachsen. Nun, in gewissen Bereichen tat es das tatsächlich.
Der österreichische Teil dieser Paarung, der weißhaarige Chefermittler, hatte bisher noch kein einziges Wort gesprochen. Er war weniger korrekt gekleidet als sein griechischer Assistent, eher bohemienhaft, das Sakko schmuddelig, während die dünne, schwarze Krawatte wie eine lange Zunge aus dem schmalen, faltigen Hals herauszuhängen schien. Der ganze Mann war schmal. Dank Spitzbart und dem etwas hochstehenden Haar besaß er ein stark gestrecktes Dreiecksgesicht. Er erinnerte an Ezra Pound, den Autor der so berühmten wie extrem verschlüsselten Cantos-Gedichte, diesen Wegbereiter der Moderne, dessen Kapitalismuskritik ihn schnurstracks zu einem ausgiebigen und inniglichen Tanz mit dem italienischen Faschismus verführt hatte.
Jetzt war also nur noch die Frage, ob der ältliche Hauptkommissar, welcher den Namen Boris Spann trug, gleichwohl in seinem Denken und Reden eine Ähnlichkeit zu jenem amerikanischen Dichterheroen aufwies. Aber das ließ sich im Moment nicht feststellen, da Spann weiterhin seinen Mund nicht auftat. Er stand herum, betrachtete die Dinge, nickte vielleicht oder kämpfte auch nur mit der Müdigkeit oder dem Alter oder beidem, jedenfalls sagte er kein Wort. Es war einzig und allein Stirling, der hier sprach, also nicht nur Lorenz befragte, sondern ebenso den Leuten von der Spurensicherung sowie dem bald erschienenen Gerichtsmediziner Anweisungen gab. Irgendwann tauchte zudem der Staatsanwalt auf, reichte Spann die Hand, redete auf ihn ein. Spann hörte zu. Mehr tat er nicht. Es war dann Stirlings Aufgabe, den Staatsanwalt über die Fakten zu informieren.
»Na gut, Stirling, Sie kriegen das sicher bestens hin«, sagte der Jurist und war schon wieder verschwunden. Er hatte Lorenz nicht einmal angesehen.
»Haben Sie eine Ahnung«, richtete sich Stirling erneut an Lorenz, »welchem Hobby in diesem Hobbyraum nachgegangen wurde?«
»Das können Sie doch selbst sehen«, antwortete Lorenz. »Fossilien. Ein gar harmloses Hobby.«
»Was für Hobbys haben Sie eigentlich?« fragte Stirling.
»Keine. Mir war noch nie langweilig genug, um mich ablenken zu müssen.«
»Aber soweit ich gehört habe, wollen Sie hier ein Strickwarengeschäft eröffnen. Stricken ist ja nun wohl das Hobby überhaupt.«
»Irrtum. Frauen, die stricken, stricken an der Zukunft.«
»Ein schönes Bild«, fand Stirling.
»Mehr als ein Bild. Jedenfalls werde ich mit meinem Geschäft nicht das Zubehör für irgendeinen blöden Zeitvertreib liefern, sondern für etwas Wesentliches und Grundsätzliches.«
»Das klingt, als wollten Sie die Welt retten.«
»Ja, das wäre fein, wenn mir das ein wenig gelänge.«
»Und was haben Sie bisher gemacht?« fragte Stirling.
»Wieso? Hat das irgendeine Bedeutung?«
»Das werde ich beurteilen, wenn ich es weiß.«
Lorenz schwieg. Er hatte einfach keine Lust, hier und jetzt über das Pornogeschäft zu sprechen. Wo man doch eben noch so nett über Strickwaren und Weltrettung geplaudert hatte.
Stirling zuckte mit den Schultern und sagte: »Lassen Sie uns aufs Kommissariat fahren. Ich nehme Ihre Personalien auf, Sie geben mir Ihre Fingerabdrücke. Und dann versuchen wir draufzukommen, wie da eine Leiche unter Ihr Bett kommen konnte, während Sie hübsch brav geschlafen haben. – Wenn ich das glauben soll.«
Als sie den Raum verließen, griff Lorenz in seine Hosentasche. Es war ein Reflex, als überprüfe er, ob er die obligaten Taschentücher dabei habe. Hatte er auch. Aber zwischen diesen Taschentüchern spürte er die scharfe Kante eines Kartons. Die Karte mit dem Vogel. Beziehungsweise Urvogel.
Er hätte sie herausnehmen und Stirling aushändigen müssen. So harmlos sie ihm noch gestern abend erschienen war, jetzt war nichts mehr harmlos. Man könnte sagen: Alles schwamm im Blut.
Lorenz ließ die Karte jedoch, wo sie war, und zog dafür seine leere Hand aus der Tasche. Man trat hinaus auf die Straße. Eine Gruppe Neugieriger hatte sich um die Polizeiabsperrung versammelt.
»Man wird mich für den Mörder halten«, sagte Lorenz.
»Aber nicht doch. Mörder tragen Handschellen.«
»Trotzdem. Es bleibt immer etwas hängen.«
»Vielleicht bleibt ja etwas Gutes hängen«, meinte Stirling. Und fügte an: »Zumindest der Nimbus des Außerordentlichen.«
Ja, das stimmte wohl. Lorenz mußte damit rechnen, daß sein Strickwarenladen eine Aura erhielt, die nicht nur vom Umstand geprägt wurde, daß er, Lorenz Mohn, einst in Pornos aufgetreten war, sondern jetzt auch davon, daß in Plutos Liebe eine Leiche gefunden worden war.
War das Werbung für seinen Laden? Nun, es würde die Leute sicher nicht kaltlassen.