| Wetter und Sex

Zwei Tage, nachdem Lorenz Mohn mittels eines hammer- und sichelartig geschwungenen Namenszugs sein Schicksal besiegelt hatte, begannen die Arbeiten an seinem zukünftigen Geschäft in der Rosmalenstraße. Ein Elektriker war erschienen und hatte mit Hilfe einer Taschenlampe festgestellt, daß der hintere, fensterlose Raum selbstverständlich über einen Lichtschalter verfügte, welcher indes an höchst ungewöhnlicher Stelle angebracht war, nämlich weit unten, wo man eigentlich eine Steckdose hätte vermuten dürfen. Der Sinn und Zweck einer solchen Tieflegung blieb rätselhaft. Weshalb auch der Elektriker den Auftrag erhielt, den Schalter nach oben hin zu versetzen, damit Leute, die nicht aus dem Märchen kamen, also keine aufrecht stehenden Mäuse oder untersetzten Wichtel waren, den Lichtschalter betätigen konnten. Übrigens war es nicht so, daß umgekehrt die Steckdosen in diesem Raum sich auf Bauch- oder Brusthöhe befanden, sondern sie waren ebenfalls in Bodennähe installiert worden, jedoch am anderen Ende des Raums, auf jener Seite, welche über eine Metalltüre verfügte. Das war die Türe, die nach Angabe des Maklers auf den Gang führte. Eine Aussage, die Lorenz, als er nun in dem von einer Glühlampe erhellten Raum stand, irritierte. Denn nach seiner Anschauung wies die Türe in Richtung Hinterhof, dorthin, wo Sera Biltens dichter Miniaturdschungel gedieh. In Kenntnis des Grundrisses von Geschäft und Haus mußte man freilich davon ausgehen, daß die Tür nicht direkt nach draußen führte, sondern sich ein weiterer, wenngleich recht schmaler Raum anschloß. Oder aber eine sehr dicke Mauer. Doch dann hätte es ja kaum eine Türe gegeben. Da nun allerdings ein Schlüssel für diese Türe fehlte und sich selbige auch mit einem simplen Bodycheck nicht würde öffnen lassen, vertagte Lorenz das Problem und vergaß es bald wieder, da er viel zu sehr mit der Gestaltung des Geschäftsraums und der Fassade beschäftigt war.

Eine befreundete Innenarchitektin, die während einer beschäftigungslosen Phase die Requisite von einigen Pornoproduktionen betreut hatte, übernahm es, Lorenz’ Ideen in professioneller, sprich realistischer Weise umzusetzen. Wobei das bestimmende ästhetische Prinzip darin bestand, einen neutralen Raum zu schaffen, in welchem die Farben der Wollknäuel zur vollen Geltung kommen würden. Gleichzeitig aber durfte die Gemütlichkeit – sozusagen eine Großmütterlichkeit –, die man allgemein mit Strickwaren verband, nicht verlorengehen. Das Großmütterliche mußte zumindest als Zitat bestehen. Man könnte auch sagen, ein Geruch von Kölnisch Wasser sollte den Raum durchwehen. So entstand also etwas, das man als eine Mischung aus klaren, geometrischen Formen einerseits und einer ornamentalen Verspieltheit andererseits bezeichnen konnte. Ohne daß es aber irgendwie schwul wirkte. Oder was man sich halt unter schwul vorstellte. Oder unter Gartenhausstil. Wobei es natürlich auch so war, daß das Konzept des Raums erst mittels der Präsenz der Kundschaft wirklich aufgehen würde. Während etwa Galerien und Autohäuser nur dann gut aussehen, wenn sich kein Mensch in ihnen aufhält, würde es bei einem Geschäft wie Plutos Liebe umgekehrt sein. Kennt man das nicht von sich selbst? Man betritt ein Geschäft oder auch eine Bar und erlebt sich plötzlich als Teil der Einrichtung, genau so, als würde man eine Lücke füllen. Daraus ergeben sich dann Stammgeschäfte und Stammkneipen. Wenn Frauen so gerne in Boutiquen herumstehen und Männer so gerne vor einem Tresen sitzen, dann eben nicht nur aus Modebewußtsein und Trunksucht heraus, sondern besagter Lücken wegen. Es tut gut, sie zu füllen. Zu Hause und in der Arbeit ist es ja meist anders.

Plutos Liebe sollte ein Ort werden, an dem jeder Besucher sich wie in das Modell eines Moleküls einfügte. Sodaß im Idealfall, wenn also alle sich an ihrem richtigen Platz befanden, die Basis für neues Leben geschaffen war.

Noch aber war man damit beschäftigt, die Regale – Lorenz hatte sich für Birke entschieden – von der Tischlerei herüberzutransportieren und in dem mit weißer Farbe ausgemalten Raum aufzustellen. Wobei es sich um ein Weiß handelte, das ganz leicht ins Gelb hinüberwankte. Nicht im Sinn einer nikotinbedingten Patina oder gar hepatitischen Anfälligkeit, sondern so, als sei das Weiß der eigenen Reinheit müde und mache einfach einen winzigen Schritt Richtung Nachbarschaft, allerdings noch weit entfernt von einer Farbe wie Strohgelb. Der Parkettboden wiederum besaß eine bläulichgrüne Lasur, die dem hellen Holz den Eindruck des Transparenten verlieh. Man hatte das Gefühl, als liefe man über Wasser. Nicht aber tiefes Wasser, kein Ozean, sondern ein Bach, ein Bächlein, ein Ort der Milde und Demut. Ein Ort zum Dichten, während ja Ozeane immer nur zu großen Romanen herausfordern.

Ach ja, einen Gewerbeschein benötigte Lorenz natürlich auch. Was sich aber dank gesicherter Finanzierung als einfach erwies. Überhaupt befand man sich in einer Stadt, in welcher deutlicher als anderswo der einzelne Beamte entschied, was Rechtens war und was nicht. Beziehungsweise wie rasch oder langsam der Prozeß einer Genehmigung erfolgte. Nicht, daß die Beamten in einem klassischen Sinn bestechlich waren. Es nützte nichts, ihnen ein paar Geldscheine hinzustrecken. Auch nicht in einem Kuvert. Sie waren ganz anders programmiert. Selbstverständlich gab es hier ebenfalls Leute, die die Hand aufhielten, aber diese fand man eher in den höheren Sphären, wenn es um die wirklich großen Dinge ging. Je unbedeutender indes ein Anliegen war, umso weniger konnte man einen Beamten auf eine monetäre Weise für sich einnehmen. Viel wirkungsvoller war es da, einen Namen zu nennen, günstigerweise den richtigen Namen. Und weil nun Lorenz um solche Eigenheiten der österreichischen Bürokratie wußte, hatte er seinen schriftlichen Antrag bezüglich eines Gewerbescheins um den mündlichen Hinweis ergänzt, daß die Vorfinanzierung seines Ladenprojekts einer Dame namens Claire Montbard zu verdanken sei.

Zwar hatte der Beamte in einer betont verärgerten Weise erklärt, daß ihn das nicht interessiere, aber seine Gesichtszüge hatten eine andere Sprache gesprochen. Der Name Montbard war ja nicht nur in der Unterwelt ein schillernder, sondern nicht minder in der Oberwelt. Schillernd und gefährlich. Jedenfalls erwähnte Lorenz diesen Namen mehrmals, um gewisse behördliche Verfahren zu beschleunigen. Er war überzeugt, daß Frau Montbard erstens davon nichts erfuhr und daß sie zweitens gar nichts dagegen hatte. Indem sie ihm, Lorenz, einen Kredit gewährte, gewährte sie ihm auch das Privileg, ihren Namen zu erwähnen. Dachte Lorenz.

Doch zurück zum Geschäft. Für ein Ladenlokal gilt das gleiche wie für einen Planeten. Wenn man will, daß dort richtig was los ist, braucht man eine Atmosphäre. Und zwar im Sinne einer Lufthülle, also einer gleichzeitig schützenden wie schmückenden Umschalung. Eine Atmosphäre, die sich bei einem Geschäft aus der Fassade und der Auslage zusammensetzt. Und nicht zuletzt aus dem Hinweis auf den Namen des Lokals. Etwas, das Planeten abgeht. Weil bei denen ja nie draufsteht, wie sie heißen.

Lorenz entschied sich dafür, den Schriftzug Plutos Liebe mittels leuchtender Neonröhren erstrahlen zu lassen. Den Hinweis einiger Freunde, solcherart einen Bezug zu den Dekorationen des Rotlichtmilieus und somit einen Bezug zur eigenen pornographischen Vergangenheit herzustellen, schlug Lorenz in den Wind. Zu Recht. Denn dank der ausgesprochen nüchternen und modernen Fassadengestaltung – zwei leicht auskragende, silberweiße Elemente, zwischen denen die Eingangstüre versteckartig dunkel, fast schwarz blieb – sowie dem Umstand, daß die Neonröhren von Buchstabe zu Buchstabe die Farben wechselten, ließ sich nicht die geringste Verbindung zu einer Bar oder einem Sexkino herstellen. Nein, es sah wirklich gut aus, wie der Name da aus der Helle seines Hintergrunds herausleuchtete, selbst an grellen Tagen noch. Auch paßte diese zeitgemäße Gestaltung überraschend harmonisch in das historisch geprägte Umfeld, sehr viel mehr als der Rest des Hauses. Selbst die älteren Bewohner der Straße schienen von Anfang an dem Projekt ihren Segen zu geben. Man kann sagen, daß offenbar schon der Name des Geschäfts die Leute mit Liebe erfüllte. – Na, alle natürlich nicht. Wenn Lorenz an Lou Bilten vorbeikam, giftete sie ihn in der bekannten Manier an. Was erneut dafür sprach, daß nicht sie es gewesen war, die den Brief verfaßt hatte. Einen Brief, den Lorenz nach einer Woche Arbeit beinahe vergessen hatte. Allerdings war er in dieser Zeit Sera gleichfalls selten begegnet, hatte sie immer nur kurz gesehen, kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Er wollte ihr ein wenig Zeit geben. Aber auch Zeit hat selbstverständlich seine Grenzen, so wie man sagt, Geduld hätte seine Grenzen.

Zu Beginn der zweiten Arbeitswoche bildete sich eine solche Grenze. Es war Dienstag abend. Soeben waren die kleinen, kreisrunden Beleuchtungskörper in den Plafond von Plutos Liebe eingelassen worden. Sie bildeten zusammen ein System, das an die Höhenlinien einer Landkarte erinnerte. Ein System, das sich auf dem bläulichgrünen Parkettboden widerspiegelte und es den Benutzern des Raums erleichterte, die Position zu finden, die sie im Sinne jenes zuvor erwähnten Molekülmodells aufzusuchen hatten. Daneben war natürlich auch der simple Vorteil gegeben, den Raum wirkungsvoll zu illuminieren. Was gerade jetzt ein Vorteil war, da nach Tagen lästiger Schwüle ein Gewitter nahte. Ein Gewitter, das eine beträchtliche Dunkelheit vorausgeschickt hatte. Es war so finster geworden, daß Lorenz und die Arbeiter auf die Straße getreten waren, um nachzusehen, ob nicht etwa ein nahender Meteor den Himmel verdüsterte.

»Teufel, ist das schwarz!« sagte jemand.

Bekanntlich ist kein Volk so sehr vom Weltuntergang überzeugt wie die Österreicher. Sie erwarten diesen Moment mit einer Art von Bange, der die Lust nicht abgesprochen werden kann. Wie am Ende eines sehr langen Walzers, wenn man kaum noch seine Beine spürt und der Schmerz in ein Gefühl der Freiheit übergeht. Man fliegt quasi in den Tod hinein.

»Haben Sie Sera gesehen?« Es war Lou, die vor Lorenz stehengeblieben war und ihn dazu zwang, seinen Blick von der Schwärze des Himmels zu nehmen.

»Wie meinen Sie?«

»Wie ich es sage. Ob Sie sie gesehen haben, wenn Sie schon den ganzen Tag hier herumstehen.«

Lorenz seufzte. Dann erklärte er, Sera nicht gesehen zu haben.

»Na, vielleicht ist sie ja schon zu Hause«, sagte Lou. Und, zu sich selbst sprechend: »Wofür haben wir eigentlich Handys, wenn keiner rangeht.«

Richtig. Das war in der Tat ein Problem. Diese behauptete Erreichbarkeit von jedermann, die eben nicht stimmte. Fast alle besaßen so ein häßliches kleines Ding, das aussah wie ein glänzendes, flachgeklopftes Stück Rindsleber. Und jeder gab seine Nummer weiter. Aber nicht jeder hatte seine »Leber« auch eingeschaltet oder machte sich die Mühe, sich zu melden, wenn es klingelte. Sowenig es sicher war, daß all die Leute, die in ein Handy hineinredeten, auch wirklich jemanden an der Leitung hatten. Vielleicht redeten sie mit Geistern oder mit dem Weltall. Oder einfach mit ihrem Handy.

Lou beeilte sich, ihren massigen Körper nach drinnen zu bewegen. Wenig später öffnete sich ein Fenster, und die Meisterin der Scheren rief Lorenz zu, daß Sera und Paul noch nicht zu Hause seien. Um gleich darauf eine Anweisung zu geben: »Nehmen Sie einen Schirm, und gehen Sie ihnen entgegen! Die waren im Schwimmbad und kommen mit der Straßenbahn.«

Lorenz wußte, was gemeint war. In hundertfünfzig Metern Entfernung lag die Station der Straßenbahn, die jeder benutzte, der ohne Auto oder Rad unterwegs war.

»Ja, ich mach das«, sagte Lorenz, merkwürdig berührt von der Tatsache, daß Lou sich ausgerechnet an ihn wendete. Aber an wen auch sonst? Er stand halt gerade zur Verfügung. Und es war keine Frage, daß demnächst ein gewaltiger Schauer vom Himmel herunterbrechen würde. Der Sturm hatte bereits eingesetzt. Es wehte Fetzen von Tageszeitungen und anderen Müll durch die Straßen. Der Donner rückte näher. In der Ferne zuckendes Licht. Irgendwo stand der Wettergott und hatte eine dieser lustigen, schwarz und weiß gemusterten Startflaggen gehoben. Die Ampel stand auf Gelb.

Lorenz ließ sich von einem der Arbeiter einen Schirm geben und machte sich sodann auf den Weg. Als er bei der Haltestelle ankam, öffneten sich die Wolken und entließen ein Meer von Hagelkörnern. Gewaltige, schwere Dinger, im Stil dieser Golfbälle, die Menschen verletzen. Es war ein richtiges Bombardement. Lorenz stand unter dem durchsichtigen Dach der Station und sah auf eine Welt, die hinter der englinierten Fläche fallender Körper verschwand. Körper, die wie Zeichen waren, Buchstaben, Symbole, nur zu rasch unterwegs, als daß man hätte sagen können, sie seien griechisch oder japanisch. Es erinnerte an jene bewegte Struktur aus dem Film Matrix. Nur, daß die Zeichen nicht grün waren, sondern weiß.

Durch die Phalanx dieser flirrenden Wand brach nun die Straßenbahn und hielt an.

»Hier!« rief Lorenz, als er Sera und Paul sah. Er öffnete den Schirm, bewegte sich rasch auf die beiden zu und gab ihnen Schutz. Gemeinsam flüchtete man unter das Dach der Haltestelle.

Lorenz und Sera preßten den kleinen Paul zwischen sich und erzeugten solcherart eine Schale. Eine Schale aus Mann und Frau. Also eine ausgesprochen schöne Schale. Zusätzlich bildete der schräggestellte Schirm eine äußere Mauer. Welche auch nötig war, da der kräftige Wind die Hagelkörner unter das Dach trieb. Es war so laut, daß man sich nur schwer unterhalten konnte. Aber ohnehin war in dieser Situation nichts zu besprechen. Die Welt war jetzt wieder ganz Natur. Und das wohl wichtigste Prinzip in der Natur heißt: warten, bis es vorbei ist. Während ja Zivilisation genau im Gegenteil besteht, in der Unfähigkeit zu warten. Außer in der Kunst. Denn Kunst kommt bekanntermaßen von Warten. Ideen lassen sich nicht antreiben, weder durch Alkohol noch durch Benzin.

Es dauerte zehn lange Minuten, in denen die Welt wenigstens ein bißchen unterging, dann nahm die Heftigkeit wieder ab. Der Hagel wurde von einem starken Regen ersetzt, das Gewitterbrüllen entfernte sich. Jedenfalls war es nicht mehr so, als stehe man in der ersten Reihe eines dieser Schönheit-durch-Lärm-Konzerte. Dafür aber in der ersten Reihe einer Delphinshow. Der unter das Dach gepreßte Regen brachte es nämlich mit sich, daß der Mann und die Frau trotz des Schirms bald vollständig durchnäßt waren, wenn schon nicht das perlenartig zwischen ihnen eingeklemmte Kind. Welches allerdings fror. Mit dem stürmischen Niederschlag hatte sich die Luft deutlich abgekühlt. Der Wind fuhr herum und verteilte die Kälte derart gleichmäßig, als handle es sich um Brot für die Welt.

»Wir sollten los und den Kleinen nach Hause bringen«, meinte Lorenz.

Sera nickte. Man machte sich auf den Weg, marschierte durch die winterlich weißen Straßen, trat über das Eis gehäufter Körner oder geriet in tiefe Pfützen. Nach wie vor dominierte die Natur. Der Eindruck einer Schneelandschaft wechselte zu dem einer im Unwetter verunglückten Kirschblüte. Dann das Geheul erster Sirenen. Es klang, als rufe jemand: Wir leben!

Auf dem Weg in die Rosmalenstraße wurden Sera und Lorenz noch nasser, als sie ohnehin schon waren. Und auch am kleinen Paul tanzte das Wasser hoch.

Endlich erreichte man das Haus und stieg rasch die Stufen hinauf ins zweite Stockwerk. Lou Bilten wartete bereits auf dem Gang, das Kind mit ihren fleischigen Armen in Empfang nehmend. Sie brachte den Jungen ohne Kommentar ins Badezimmer, wo eine Wanne voll mit warmem Wasser sowie eine Tasse Fencheltee und eine Gruppe von Robotern aus dem Hause Lego warteten. Lou zog den wehrlosen Paul mit flinken Griffen aus und hob ihn ins Wasser. Schneller geht es gar nicht. Ja, wenn Lou wollte, konnte sie so rasch wie effizient sein. Wenn Lou wollte, war auch das wirkliche Leben für sie ein gekonnter Scherenschnitt. Ritsch und ratsch und fertig!

Während Lou Bilten also mit geordneter Rasanz tat, was zu tun war, standen Sera und Lorenz noch ein wenig im Stiegenhaus herum. Wie man halt so dasteht, patschnaß, frierend, zudem unschlüssig. Sera hatte gleich neben Lou ihre eigene Wohnung, nach hinten hinaus, mit Blick auf ihren Dschungel, der jetzt wohl bißchen zersaust aussah. Lorenz wiederum hatte zwar ein Geschäft in diesem Haus, mitnichten war dort jedoch eine Dusche installiert. Was übrigens keine schlechte Idee war. Und genau das sagte er jetzt: »Ich sollte mir im Laden eine Dusche machen lassen.«

»Sie können ja, wenn Sie wollen, bei mir duschen«, sagte Sera. »Bevor Sie sich einen Schnupfen holen.«

Als sei das wirklich ein Problem, ob sich ein Mann erkältet oder nicht. Mein Gott, der Schnupfen gehört zum Leben. Wie eben auch hin und wieder ein Gewitter, im Zuge dessen man sich hin und wieder einen Schnupfen einfängt. Kein Grund jedenfalls, einen Mann in die Wohnung zu lassen und auf eine Dusche einzuladen.

Aber Sera machte nun mal dieses Angebot. Und Lorenz wiederum hätte lieber allen Heiligen einen Korb gegeben, als diese Einladung auszuschlagen. Freilich: Als man die Wohnung betreten hatte, beeilte er sich zu erklären: »Sie zuerst.«

»Was? Damit Sie sich erst recht erkälten? Da hätte ich Sie ja gar nicht hereinbitten müssen.«

»Und Sie? Sie sind nicht weniger naß.«

»Ich bin robust«, versicherte Sera, die hellhäutig und blauhaarig Schlanke.

»Ich bin auch nicht aus Papier«, entgegnete Lorenz.

»Also, bevor wir uns streiten, wer hier wem das Leben retten darf, und wir nachher beide krank sind, würde ich vorschlagen…«

»Was?«

»Wir könnten gemeinsam duschen«, meinte Sera.

Mein Gott, wie schön sie das sagte! Es klang wie ein Gedicht. Ein gutes Gedicht. Wie man manchmal auch ein Essen als ein Gedicht bezeichnet.

Andererseits war das jetzt eine durch und durch pornographische Ausgangssituation, wie Lorenz sie eigentlich hätte meiden müssen, um nicht an sein altes Leben erinnert zu werden. Doch wozu hätte er Verzicht üben sollen? Um einen besseren Moment abzuwarten? Einen weniger pornographisch angehauchten? Bessere Momente waren wie lebende Fossilien: eher unwahrscheinlich.

Darum sagte Lorenz jetzt mit derselben Entschlossenheit, mit der vielleicht ein christlicher Märtyrer »Nein« gesagt hätte: »Ja.«

»Gut«, erklärte Sera und ging voraus.

Lorenz überlegte, was in einer solchen Situation das Wort »gut« alles bedeuten konnte. Nun, das würde sich bald herausstellen.

Durch einen langen Flur, in dem gerahmte Schwarzweißfotos von Hochzeitspaaren hingen, ging es links ins Badezimmer. Ein wenig hatte Lorenz eine dieser todschicken, großzügig proportionierten Naßzellen erwartet, die aussahen, als wollte man darin eine ganze Gruppe von Pinguinen einquartieren. Und wo also zwei Menschen zur gleichen Zeit duschen konnten, ohne in eine ungebührliche Nähe zu geraten. Doch dies war hier keineswegs der Fall. Der kleine Raum war mit alten, vergilbten Kacheln ausgekleidet und lag im schwachen Licht einer Schrankleuchte. Die ebenfalls gekachelte Badewanne war nicht viel länger als ein Gitterbett. Von einer leicht geknickten Metallstange hing ein zur Seite geschobener, durchsichtiger Duschvorhang. Obgleich es im Grunde ein sauberer Raum und nirgends Schimmel zu erkennen war, herrschte das für Parasiten und Pilzwuchs typische Klima. Dampfig. Es roch nach lebenden Seifen. Nun, auch hier fehlte ein Fenster. Aber das war gut so. So konnte die Welt draußen bleiben. Wer braucht schon ein Fenster, wenn er badet?

»Kannst du mir helfen?« fragte Sera. Das nasse Gewand klebte ihr geradezu am Körper.

Lorenz trat hinter sie und griff nach dem Saum des Kleides. Vorsichtig, wie um nicht Seras Haut zu berühren, zog er den Stoff nach oben und führte ihn über die gestreckten Arme. Eine Weile hielt er das Wäscheknäuel hilflos in der Hand und sah auf Seras Rücken. – Er hätte nie gedacht, daß ein Rücken so schön sein konnte. Das ist nämlich sowieso ein Fehler, diese Vernachlässigung der Rücken angesichts der Dominanz der mit Brüsten bewachsenen Vorderseiten. Für nicht wenige Männer fängt die Rückseite einer Frau erst mit dem Hintern an. Sie sehen keine Schulterblätter, sehen nicht die feine Linie der Wirbelsäule, die kompakte Form der Lende, dieses gleichzeitig panzerartige und einladende Wesen des Rückens. Man muß einen Rücken nicht unbedingt massieren, um sich seiner bewußt zu werden.

Jedenfalls hatte es Lorenz noch nie erlebt, sich derart in eine Rückenansicht zu vergucken, derart gebannt die zarte Struktur wahrzunehmen, den Umstand leichter Wellung und sanfter Schwingung. Seras Rücken erschien ihm wie das Versprechen, daß die Welt einmal eine bessere sein würde. Einfacher, barmherziger, versöhnlicher, zudem eleganter und vornehmer.

In gewisser Weise hätte Lorenz dieser Rücken genügt, um glücklich zu werden. Aber so ist es ja oft. Wir bekommen immer mehr, als wir eigentlich nötig haben. Als wir eigentlich vertragen. Wir wollen im Lotto gewinnen, um unsere Schulden zu bezahlen. Und gewinnen plötzlich ein Vermögen. Viel zuviel Geld, sodaß wir uns ein Haus kaufen müssen, einen Porsche, einen zweiten Porsche, eine neue Frau oder einen neuen Mann, und wenn schon keine neuen Kinder, dann einen neuen Hund, Gerolf von Hildesheim oder wie der dann heißt. Dabei wollten wir doch nur unsere Schulden loswerden. Schließlich stehen wir da und heulen bittere Tränen, weil wir uns nach unserem alten Hund sehnen.

Natürlich empfand es Lorenz dennoch als ein großes Glück, als sich jetzt Sera halb zu ihm hindrehte und er somit auch ihrer Vorderseite ansichtig wurde. Sie warf ihm aus ihren herbstgrünen Augen einen frühlingshaft glitzernden Blick zu. Gleichzeitig sagte sie: »Du kannst mein Kleid auf den Boden werfen.«

Ach ja, das Kleid. Er ließ es fallen und schlüpfte seinerseits aus der kalten, nassen Wäsche. Dann stieg er zu Sera in die Wanne und zog den Vorhang vor. Der heiße Wasserstrahl stand freundlich zwischen ihnen. Sie hielten beide ihre Hände hinein, ohne sich zu berühren. Sie sahen sich an, ganz ohne Scham. Darum ohne Scham, weil da nämlich nichts war – zumindest nicht auf diesen ersten Blick –, was den einen am anderen störte. Man konnte sich also anblicken, ohne schon jetzt das ungute Gefühl zu haben, später einmal mit einem gewissen Ekel diesem anderen Menschen zu begegnen. Dann, wenn die erste Leidenschaft verflogen sein und der gleich zu Beginn registrierte Makel immer deutlicher ins eigene Bewußtsein rücken würde. – Das ist eine unumstößliche Tatsache, wenngleich die Schönredner es gerne anders hätten und von den inneren Werten der Menschen reden. Nichts gegen innere Werte, aber sie machen die Häßlichkeit eines bestimmten Körpers nicht wett. Wie denn auch? Was umgekehrt nicht heißen soll, daß man aussehen muß, als sei man aus einem Bastelbogen der Firma Oil of Olaz herausgeschnitten worden. Seras Schönheit war eigenwillig. Ihr Körper mutete ein wenig unregelmäßig an, ein wenig schief, als sei eins ihrer schlanken Beine eine Spur kürzer. Oder vielleicht ein Arm länger. Selbst ihre beiden Brüste wirkten unterschiedlich, die rechte voller und mehr zur Seite stehend. Doch es hatte nichts Monströses, sondern stellte eine interessante Abweichung dar, eine individuelle Note, wie vieles an Sera. Nichts, was ihrem Aussehen abträglich gewesen wäre, sondern selbigem eine persönliche Signatur verlieh. Ähnlich den vier Muttermalen an ihrem Hals und der Art und Weise, wie sie an den Dingen vorbeisah, so, als würde sie ein klein wenig schielen. Man sagt wohl Silberblick dazu.

Lorenz’ Aussehen war im Vergleich dazu eher konventionell, doch erinnerte sein Körper bei aller Muskularität nicht an eine Sportart. Ein Körper, dem man den Sport auch wirklich ansieht, wirkt immer lächerlich. Man braucht nur Schwimmer zu betrachten: völlig verbaut. Am schlimmsten sind Stemmer und am allerschlimmsten Bodenturnerinnen. Und es ist wahrscheinlich ein Glück, daß man von Bogenschützen und Dressurreitern so wenig nackte Haut zu Gesicht bekommt. Nein, Lorenz’ Sportlichkeit schien ohne Sport auszukommen. Eher so, als verdanke er seinen wohlgestalteten Körper dem vielen Bücherlesen. Oder dem Hören klassischer Musik.

Wie auch immer. Sera und Lorenz sahen sich an und empfanden weder Zweifel noch Unbehagen. Lorenz lenkte seinen Arm in den warmen Strahl und faßte Sera an der Schulter. Er zog sie wie durch einen Spiegel zu sich heran. Selbst ohne Schuhe besaß sie genau die richtige Größe für einen Kuß. Zudem war es gewissermaßen so, als stehe der Kuß bereits zwischen ihnen und als würden sie also weniger ihre Lippen aneinanderlegen, sondern vielmehr diesen Kuß küssen, diesen Punkt in der Luft, diese kleine, ungemein flache Fläche, welche seit langer Zeit hier gestanden und darauf gewartet hatte, von beiden Seiten berührt zu werden. – Es gibt Küsse, die sind purer, dummer Zufall und nicht selten der Beginn großer Qualen. Und es gibt Küsse, die einem intelligenten Plan zu verdanken sind. Das hier war so ein Kuß.

Die beiden hielten sich jetzt fest umschlungen. Ein Doppelsternsystem. Einer den anderen umkreisend. Einer den Ring des anderen bildend. Es herrschte tiefe, echte Harmonie. Keine Eroberung, kein Krieg, keine Supernova, deren logisches Ziel darin besteht, alles in der nächsten Umgebung zu verschlucken. Sie küßten sich lange und ausgiebig, diesen einen in der Luft stehenden Punkt immer wieder mit neuer Energie versehend. Ja, sie spendeten Energie, und die Energie kam doppelt zurück, erfüllte sie mit Leidenschaft. Lorenz schob seine Hände unter die beiden Pohälften seiner Geliebten und hob sie zu sich hoch. Sera fühlte sich sehr viel leichter an, als sie war. Sie griff nach Lorenz’ Glied und führte es so locker und einfach in sich, als bediene sie einen Vibrator. – Das mag komisch klingen, aber in Wirklichkeit fehlt dem meisten Geschlechtsverkehr jene Selbstverständlichkeit und milde Empathie, die etwa bei der Onanie oder im Umgang mit künstlichen Geschlechtsteilen kein Problem zu sein scheint.

Lorenz schob Sera mit dem Rücken gegen die Kachelwand und drang mit einer Rhythmik, die nun doch ein wenig seiner sexuellen Routine zu verdanken war, in Sera ein. Aber daran war in diesem Moment wirklich nichts Schlechtes. Sera verstellte den Duschhahn, sodaß das Wasser zwischen ihre Körper drang und sie beide mit einer warmen Hülle versah. Sie liebten sich inniglich und tauschten nicht nur Körpersäfte aus, so gesund das sein mag, sondern auch ihre Herzen und ihre Seelen. Verschmelzen ist etwas anderes. Verschmelzen ist eine Unmöglichkeit. Menschen sind kein Metall. Aber Austausch ist gleichfalls eine gute Sache. Mehr kann man nicht verlangen. – Und eingedenk einer der häßlichsten Formulierungen im radikalpornographischen Bereich, nämlich jemandem die Seele aus dem Leib zu ficken, kann man im Falle von Lorenz sagen, daß er vielmehr die eigene Seele so sachte wie bestimmt in Seras Körper ablegte. Nun, seinen Samen freilich ebenso. Denn die Frage nach einer Verhütung war in keiner Sekunde durch die Köpfe der beiden gegangen. Sie vertrauten sich. Und sie vertrauten jenem Plan, der sie zusammengeführt hatte und welcher sicher nicht darin bestehen würde, daß einer den anderen mit einer Krankheit ansteckte. Und daß dies alles ohne ein einziges Wort abgelaufen war, störte gleichfalls nicht. Manches läßt sich sowieso nicht sagen.

Nachdem Lorenz wieder aus Sera geschlüpft war und sie mit einer etwas übertriebenen Vorsicht abgestellt hatte (als wäre sie bereits schwanger), standen die beiden nebeneinander im Sprühregen des in viele Tröpfchen gespaltenen Wassers und hielten sich an den Händen. Sodann trockneten sie sich ab, cremten sich ein und waren hernach so sauber und frisch und warm und glücklich, wie man es zwei guten Menschen in dieser Welt nur wünschen kann.

Wäre das hier ein Roman, dann würde sich jetzt für den Autor eine schwierige Frage stellen: Soll er den zwei Liebenden eine Fortführung ihres Glücks zugestehen? Soll er sie »gefährliche Abenteuer« überstehen lassen? Oder sie doch lieber in ein dramatisches Unglück stürzen? Oder soll er die beiden ganz einfach dem schlichten Auf und Ab eines durchschnittlichen Alltags überantworten?

Aber dies ist nun mal kein Roman. Es geschieht, was geschehen muß, und niemand kann daran etwas ändern.