21 | Wasser

Manchmal besteht die ganze Enttäuschung darin, daß ein Horror ausbleibt. Daß der Mord nicht geschieht, die Katastrophe vereitelt wird, der Gefangene mit lachhafter Leichtigkeit sein tödliches Gefängnis sprengt. Und die größte Enttäuschung ist natürlich eine Wirklichkeit, die nicht mal ansatzweise an die Fiktion heranreicht. Das macht ja Figuren wie Donald Duck oder besagte Cheshire-Katze so unsterblich, daß für sie keine Entsprechung im realen Leben existiert, kein elendes Spiegelbild. Entenhausen gibt es Gott sei Dank nicht wirklich, »Gott sei Dank« nicht für uns, sondern »Gott sei Dank« für Entenhausen.

So mirakulös und bedrohlich und herrschaftlich Kubricks Overlook-Hotel ist, so vollkommen banal erscheint das Timberline Lodge, wenn man einmal davorsteht. Wie ja eigentlich alles explizit Touristische sich dadurch auszeichnet, ohne jeden Zauber zu sein. Ich weiß gar nicht, wie diese Leute aus der Tourismusbranche das hinkriegen, nämlich all die ursprünglich so wunderschönen und spannenden Orte und Landschaften in ausdruckslose Gesichter zu verwandeln. Man kann das gut an den Pyramiden oder den Alpen sehen, die unendlich müde und bei aller Höhe vollkommen flach dastehen. Durchaus vergleichbar Tieren, die, in einen Zoo gesperrt, ihre Würde und Kraft verloren haben. Was für Rilkes Panther gilt, gilt auch für die Akropolis und das Matterhorn.

Man könnte andererseits die Meinung vertreten, es sei besser, die ziemlich platte Wirklichkeit einer Sommerschifahrt zu erleben, als Teil jener »Shining«-Geschichte zu werden und von Jack Nicholson durch lange Gänge, vorbei an blutenden Aufzügen, hinein in ein eisiges Labyrinth gejagt zu werden. – Ist das wirklich besser? Jedenfalls erscheint es mir als absurde Farce, im Sommer auf einer Schipiste zu stehen. Fast so schlimm wie diese Leute, die im Winter in der Nordsee baden und dabei die ganze Zeit hysterisch lachen und so tun, als würden sie in einer warmen Wanne planschen.

Was soll’s. Maritta war begeistert. Wunderbares Wetter, herrlicher Schnee. Die geschmacklose Einrichtung des Zimmers, die wie ein Sedativ auf jeden Psychopathen gewirkt hätte, nahm sie als nebensächlich hin. Hauptsache Schifahren. Es versteht sich, daß ich ihr diese Freude gerne bereitete und mich sogar meinerseits auf die Bretter stellte. Nicht aber, um ihr hinterherzufahren, man muß nicht übertreiben. Ich blieb oben stehen, rauchte eine Zigarette – wobei mich die Leute anglotzten, als sei ich der Oberkellner aus »Shining«, der seine beiden Töchter zerhackt hat – und genoß die warme Sonne auf meiner Stubenhockerhaut. Maritta machte indessen ihre Abfahrt, kam mit dem Schlepplift wieder hoch, erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, ich nickte, redete irgendwas von phantastischer Gegend, dann glitt sie erneut den Hang hinunter. Für mich hingegen ist das Schifahren wie das Frühaufstehen. Am schönsten ist es, wenn man’s nicht tun muß.

»Haben Sie alles dabei?«

Ich schaute neben mich. Da stand ein Mann, der im Dickicht seiner Schiausrüstung kaum auszumachen war, mit seiner Brille aus rotorangeverspiegeltem Glas und der hochgeschlossenen schnittigen Jacke und dem breiten Stirnband mit japanischen Schriftzeichen. Wie viele andere Schifahrer, erinnerte er an einen Krieger, einen modernen Krieger, welcher unsichtbare Schneegespenster jagt. Der eigentliche Krieg wird sowieso gegen das Unsichtbare geführt. Darum sind wir auch so verrückt danach, hypothetische Teilchen aufzustöbern. Sicher nicht, um mit ihnen Frieden zu schließen. Wir wollen sie unterdrücken, unter Kontrolle bringen, in erster Linie ihre Unsichtbarkeit aufheben. Ihr Privileg zerstören. – Ich sage »wir«, weil ich mich als Mensch fühle. Ich stehe zu den Eigenarten dieser Spezies, zu ihrer Unfähigkeit, etwas Unsichtbares unsichtbar sein zu lassen, und ihrer Neigung, alles Heil in der Vernichtung zu suchen.

Ich fühle mich als Mensch, aber ich bin keiner.

Sowenig wie dieser Kerl hinter seinen alpinistischen Sonnengläsern, der mich jetzt fragte: »Schlafen Sie?«

»Ja«, gab ich zur Antwort.

»Na, dann wachen Sie endlich auf und fahren hinter mir her.«

Ohne mir die Chance zu geben, ihn zum Teufel zu wünschen, stieß er sich mit seinen Stöcken von der kleinen Rampe ab, glitt mit eng geführten Schiern auf die Piste hinüber und ließ sich in der Art eines Fallschirmspringers in ein Steilstück hineinfallen, welches er in rasch folgenden Bögen, die Kanten heftig in die verdichteten Kristalle stoßend, bewältigte. Es sah aus, als wollte er den Abhang zureiten, den Willen eines Pferdes unterdrücken.

Ich war weit entfernt, mich an dieser Zureiterei beteiligen zu wollen, weshalb ich ein Pistenstück auswählte, das flacher schien. Allerdings lag es im Schatten und entpuppte sich als eisig. Nicht, daß ich zum ersten Mal auf Brettern stand, aber ich tat mich ungemein schwer. Fühlte mich weniger wie auf einem Pferd, was schlimm genug gewesen wäre, sondern eher wie auf einem Krokodil, dessen Zähmung bekanntermaßen zu den tendenziell sinnlosen Aufgaben zählt.

Während ich auf eine zitternde Weise schräg abrutschte, erkannte ich von fern, wie der Mann auf der gegenüberliegenden Seite der Piste in einen Weg hineinfuhr, der zwischen den Bäumen lag. Also mühte ich mich noch ein Stück abwärts und querte dann den Hang, ohne mich groß um die Heruntersausenden zu kümmern, die alle besser fuhren als ich und also imstande waren, auszuweichen.

Einmal fiel ich hin, aber eigentlich nur als Folge meiner Langsamkeit. Doch ich schaffte es und erreichte den Pfad, auf dem der andere verschwunden war, steuerte in das Schattenreich hinein und gelangte in gemächlicher Fahrt an eine weitere Abzweigung. Ein Weg ging nach oben. Zwanzig Meter über mir stand der Mann und winkte. Ich stellte die Schier quer und quälte mich – wie jemand, der gezwungen ist, eine Serie Dominosteine wieder aufzustellen – das ansteigende Stück hoch. Beim letzten Stein angekommen, führte der Weg um eine Kurve herum und endete vor einer massiven, mit der Rückseite an den Fels grenzenden Holzhütte. Der Mann hatte seine Latten an die Wand gestellt. Ich tat es ihm gleich.

»Sie sind wohl kein großer Schifahrer?« meinte er.

»Sie sollten erst mal sehen, wie schlecht ich Golf spiele.«

Das war nicht nur ironisch gemeint. So dynamisch und gelenkig ich sein konnte, wenn es sich als absolut nötig erwies, so wenig war ich ein Freund des Sports. Der Sport macht die Menschen schlecht. Man kann es deutlich an jenen sehen, die vom Sport leben. Hand aufs Herz: Gab es je einen sympathischen Fußballspieler? Turnte je ein Mann am Reck, der echte Zuneigung verdiente? War je eine Damenvolleyballmannschaft imstande, einen Turniersieg anders als durch kollektive Entgleisung zu feiern?

Der Mann gab mir ein Zeichen. Ich setzte meine betonierten Füße in Bewegung und folgte ihm in das Innere der Hütte.

Die keine Hütte war. Sondern gewissermaßen ein Hangar. Der Raum weitete sich nach hinten in das Innere des Felsens. Dort lag eine Höhle im Licht mehrerer Spots. Es roch wie in einer Bäckerei. Über einer Mulde schwebte… Das muß man unseren Leuten wirklich lassen. So schlecht sie die Vögel im Griff haben, Raumschiffe können sie bauen. Das Objekt, das ein paar Meter über dem Boden schwebte und an die fünfzig Meter maß, besaß die perfekt aerodynamische Gestalt einer horizontalen, leicht in die Länge gezogenen Träne. Die Hülle bestand vollkommen aus Wasser, welches in einer stark verzögerten Bewegung dahinfloß und verschiedene Läufe bildete, die ständig ihre Struktur veränderten. Nur an manchen Stellen hatten sich gleichbleibende Wirbel gebildet, in der Art jenes großen, roten Flecks, den Jupiter beherbergt. Überhaupt funktionierten diese Strömungen mit ihren unterschiedlichen Richtungen und Geschwindigkeiten nicht unähnlich denen des großen Gasplaneten. Wobei die hochenergetischen »Flecken« das eigentliche Antriebssystem darstellten, während die veränderlichen »Streifen« die schützende Ummantelung bildeten. Zudem versorgten sie das Innere mit Sauerstoff und erzeugten im Zuge ihrer diversen Rotationen ein Gravitationsfeld. Das ganze Objekt erstrahlte in vielen Varianten von hellem Blau, wobei die Oberfläche wie mit Glas bedeckt schien, auch wenn sie das nicht war, sondern aus purem Wasser bestand. Welches freilich mittels seiner speziellen Strömungsanordnung so undurchdringlich geworden war, daß nicht nur heranrasende Körper, sondern vor allem gefährliche Strahlen– und man kann sagen, daß das Weltall vergiftet ist wie der Zahnputzbecher einer wegen ihrer Schönheit verhaßten Prinzessin –, daß also diese gefährlichen Strahlen von der Oberfläche des Schiffs abprallen würden.

Das ist überhaupt der entscheidende Punkt. Die Strahlung ist es nämlich, die die ganze bemannte Raumfahrt der Menschen zunichte macht und sie dazu zwingt, mit ihren Spaceshuttles im Orbit wie in einem Nichtschwimmerbecken herumzuplanschen. Die NASA ist einfach noch nicht aufs Wasser gekommen.

Stimmt, mit einem ähnlichen Objekt war ich vor gut fünfzig Jahren auf der Erde gelandet, aber dieses hier war ungleich eleganter. Zu meiner Zeit waren sie alle ein wenig klobig gewesen, da nun mal auch das Wasser eine gewisse Widerspenstigkeit aufweist, einen Unwillen, sich den geometrischen Konstruktionen der Ingenieure restlos unterzuordnen. Doch offensichtlich hatte man zwischenzeitlich gelernt, dem Wasser besser zuzureden. Es zu einer optimalen Verhaltensweise zu bewegen. Zumindest war das der optische Eindruck.

»Himmlisch«, sagte ich, gleichermaßen verzaubert und traurig. Wie gerne hätte ich einen Artikel über dieses Wunderwerk in meinem »Bürgerblatt« gebracht. Über diese Symbiose von Natur, Technik und guter Laune.

Der Mann, der sich jetzt die Brille vom Kopf nahm, allerdings noch immer sein lächerliches Japanstirnband trug (schließlich war er ja kein Japaner), rief mir zu, daß die anderen sich bereits im Inneren des Schiffs befinden würden. Und daß es gut wäre, würde ich nicht ewig herumstehen. Wenn ich denn schon beim Schifahren so habe trödeln müssen.

Einen Moment überkam mich der Schrecken, es könnte bereits hier und jetzt der Start erfolgen. Dann aber wurde mir klar, daß dies wohl kaum ohne den Picasso und das Archaeopteryxfossil geschehen würde. Und beide waren noch immer in meinem Hotelzimmer. – Ohne mich ging hier gar nichts.

Darum auch sagte ich zu dem Mann, er solle sich…nun, ich sagte, es solle sich nicht anscheißen.

Ich sah den Zorn in seinen Augen. Das würde ja nett werden, zusammen an die fünfzehn Jahre eingesperrt zu sein.

An einer Stelle des Mittelteils, dort, wo der Tränenkopf sich langsam verjüngte, berührte der Mann die Oberfläche, und mit einer tonlosen Bewegung teilte sich einer der Wasserströme und bildete eine ovale Pforte, durch die wir in das Innere gelangten. Hinter uns schloß sich die Luke. Augenblicklich standen wir im Dunkeln. Nur am Boden funkelten kleine Lichter, die halfen, sich zu orientieren.

(Damit kein Irrtum entsteht: Man geht in solchen Raumschiffen nicht wie auf Wasser. Vielmehr ist die Einrichtung eine konventionelle. Allein die Wände der Außenhülle verfügen an manchen Stellen, vor allem im Bereich des Cockpits, über eine Transparenz, die einem das Gefühl gibt, im Freien zu stehen. Und bei diesem Freien handelt es sich in der Regel um das Weltall. Was sich toller anhört, als es ist. Wenn man sich einmal an konventionelle Fenster gewöhnt hat, etwa an die kleinen, ovalen Scheiben in Flugzeugen, tut man sich schwer, den Eindruck zu ertragen, quasi außen auf einem Raumschiff zu sitzen. Die meisten anderen Räume hingegen unterscheiden sich kaum von dem, was man so kennt. Einige sind technisch hoch aufgerüstet, Labors, Toiletten, Funkräume, in den anderen herrscht eine private, saubere Gemütlichkeit vor. Schöner Wohnen für Astronauten.

Mit der Finsternis in den Gängen muß man sich anfreunden. Dabei handelt es sich um eine reine Energieersparnis. Während man sie durchschreitet, fühlt man sich wie auf einer nächtlichen Startbahn. Oder in einer Geisterbahn ohne Geister.)

Eine Türe öffnete sich, und wir traten in das Licht des Besatzungsraums, von dem aus man einen freien Blick auf die Wände der Höhle besaß. In der Mitte des mit einem vanillefarbenen Spannteppich ausgelegten Cockpits warteten drei Personen – zwei Frauen, ein Mann. Nun waren wir also komplett.

Die Begrüßung war so kühl wie die Luft hier. Offenkundig funktionierte die Heizung noch nicht optimal. Das war schon früher oft ein Problem gewesen. Ähnlich der leidigen Geschichte mit dem Bier. Wobei wir diesmal wenigstens mit einem terrestrischen Vorrat ausgerüstet sein würden. Freilich war es unmöglich, Bier für fünfzehn Jahre zu lagern.

Alle, die hier standen, hatten die letzte Zeit in einem deutschsprachigen Land zugebracht. Offensichtlich sollte uns das verbinden. So wie auch der Umstand gleichen Alters. Allerdings waren wir uns nie zuvor begegnet. Und ich war mir schon jetzt ziemlich sicher, daß wir selbst in fünfzehn Jahren nicht das werden würden, was der Titel eines berühmten Jugendbuchs verspricht, nämlich fünf Freunde.

Eine Frau namens Schindler hatte das Kommando. Sie sah so aus, als sei sie bei der guten Claire in die Lehre gegangen. Dominant und elegant und kultiviert, aber aus Eis. Glitzerndes Eis, keine Frage. Doch damit Eis Eis bleibt, muß es nun mal kalt sein. Immerhin war mir klar, daß ich mit ihr keine Probleme haben würde, solange ich meine Aufgaben erfüllte. Worin auch immer selbige in der Zukunft bestehen sollten. Ich war ja nicht etwa Bordingenieur oder ein Genie am Computer oder fühlte mich geeignet, den Boden zu schrubben (die Reinigung von Raumschiffen ist das große übergangene Thema der SF-Literatur, einer Literatur, die Dinge voraussieht, die längst existieren). Ich war Agent erster Klasse und hatte als solcher den Picasso und den Archaeopteryx von Europa nach Amerika befördert. Das machte mich in den Augen der übrigen Besatzung zu einer gleichzeitig bedeutungsvollen wie ominösen Person. Immerhin lautete meine Order, die beiden Objekte während der gesamten Reise bei mir zu behalten, wofür mir ein Safe in meiner Kabine zur Verfügung stand. Beinahe fürchtete ich, daß dies meine alleinige Funktion bleiben könnte: wie ein Wachhund vor einem Tresor zu sitzen.

Na, mal sehen.

Schindler stellte mich der restlichen Mannschaft vor. Nicht, daß ich mir die Namen gleich merkte. Wozu auch? Dafür wäre noch genügend Zeit. In eineinhalb Jahrzehnten würden die Namen dieser Menschen, die keine Menschen waren, eine deutliche Furche in mein Bewußtsein schlagen. Vielleicht sogar Wunden von der Art, die sich nicht schließen, solange man im gleichen Boot sitzt.

Nachdem der Etikette Genüge getan war und jeder die Hand des anderen für einen Moment in der eigenen getragen hatte, erklärte Schindler, daß für den nächsten Morgen der Start geplant sei. Erstaunlicherweise schien es ihr zu genügen, daß ich erst zu diesem Zeitpunkt die beiden Gegenstände, derentwegen diese ganze Unternehmung stattfand, an Bord brachte. Zumindest erwähnte sie nichts Gegenteiliges. Es sah so aus, als wollte man sowenig Worte wie möglich über unsere heilige Fracht verlieren.

Ich fragte mich zum wiederholten Male, ob das tatsächlich ein Picasso und ein Archaeopteryx waren, die ich da im Gepäck hatte, oder nicht eher eine Bombe und ein Virus. Eine Vogelbombe und ein Vogelvirus.

Der Start war für fünf in der Früh geplant. Spätestens um halb vier sollte ich an Bord erscheinen und die beide Objekte in meinem Tresor – keinem Stahlschrank, sondern natürlich einem Wasserschrank – deponieren.

»Und wenn ich verschlafe?« fragte ich. Es war mir einfach rausgerutscht. Alle sahen mich so entgeistert an, als hätte ich auf den Spannteppich gespuckt. Denn abgesehen davon, daß es empfehlenswert war, gar nicht erst schlafen zu gehen, klang es völlig abstrus, daß ein »Astronaut« seinen Start verschlief. – Kinder verschlafen, Angestellte verschlafen, niemals aber Astronauten. Wieso? Weil sie so wichtig sind? Wichtiger als Kinder und Angestellte?

»Schon gut«, sagte ich und trat wieder zurück in das Dunkel der Gänge.

Als ich zusammen mit dem Möchtegernjapaner, der mich hergebracht hatte, das Raumschiff durch die Öffnung in der Wasserwand verließ, erkundigte ich mich, wie es heiße.

»Wer?«

»Na, das Schiff.«

»Keine Ahnung.«

Die Leute, die von X stammen, haben es nicht so mit Namen wie die Menschen von der Erde. Sicher, es gibt auch auf X für alles eine Bezeichnung, eine Nummer, eine Formel, einen Code, doch ein Hund, als Beispiel, ist ein Hund, gleich, wie süß er einen anschaut. Man ruft ihn »Hund«, und der Hund kommt. Selbstverständlich würden auch die Hunde hier auf der Erde kommen, wenn man sie einfach »Hund« riefe, aber es würde trotzdem etwas fehlen. Das habe ich gelernt, daß alles, was einen Namen hat, dadurch einen Glanz besitzt. Auch Probleme, auch Krankheiten. Menschen wollen lieber an etwas sterben, was Krebs heißt, als an einer simplen Ordnungszahl.

Jetzt könnte man ja sagen, daß dieses tränenförmige, aus tausend rotierenden Flüssen zusammengesetzte Raumschiff schon genug glänzte, aber dennoch, fand ich, sollte es einen richtigen Namen haben. Darum überlegte ich kurz und sagte dann: »Emily. Ich nenne das Schiff Emily.«

Der Mann zuckte mit den Schultern und schenkte mir einen mitleidigen Blick. Ich ging nach draußen, und er folgte mir. Als wir uns die Schier anschnallten, fragte ich ihn, ob er eigentlich vorhabe, mir nicht mehr von der Seite zu weichen. Statt jedoch eine Antwort zu geben, setzte er sich mit raschen Skatingschwüngen in Bewegung und war auch schon außer Sicht. Immerhin.

Als ich zwanzig Minuten und einige Mühen später wieder die Stelle erreichte, wo ich schon den halben Vormittag stehend und rauchend zugebracht hatte, wartete Maritta dort auf mich. Sie zeigte sich erstaunt, daß ich bereits am ersten Tag eine richtige Abfahrt unternahm, während ich üblicherweise bloß meine Ausrüstung ein wenig eintrug und es mir dann mit einem Buch auf der Bergstation bequem machte. Darum lag so etwas wie Sorge in ihrer Stimme, als sie mich fragte, wo ich gewesen sei.

»Ich bin abgerutscht und konnte mich nicht mehr halten«, erklärte ich. »Also bin ich bis nach unten gefahren.«

»Du machst Witze.«

»Nein, so ähnlich war es wirklich.«

»Lügner«, sagte sie und gab mir einen Kuß auf die Wange. Es war ein wunderbarer Kuß. Aber er tat weh. Niemand in diesem Schiff, das Emily hieß, würde mich je küssen. In fünfzehn Jahren nicht. Darüber konnte kein Zweifel bestehen.

Ich küßte zurück. Dann gingen wir in die Hütte und tranken Tee.

Unser letzter Abend. – Ich hatte einen Tisch im Restaurant reserviert. Das war nicht gerade originell, doch was hätte ich tun sollen? Das Hotel anzünden? Den Berg sprengen? Immerhin hatte ich ein Geschenk dabei, das ich jetzt, nachdem wir unsere fünf Gänge bewältigt hatten und beim Cognac saßen, hinüber auf die Seite Marittas schob. Ein kleines rotes Samtkästchen.

»Für mich?« fragte sie, machte große Augen und kreuzte ihre geschickten Arzthände über der nackten Stelle, die der Ausschnitt ihres Abendkleids begrenzte und die ich schon den ganzen Abend mit dem Gefühl ewigen Verlusts betrachtet hatte.

Ich fand die Frage rührend. Hier war niemand außer ihr, der dieses Geschenk verdiente. Sie nahm die kleine Box mit einer Behutsamkeit, als handle es sich um einen dieser Vögel, die frühzeitig aus Nestern fallen und zumindest hier auf der Erde größtes Mitleid und tiefe Zuneigung ernten. Maritta sah mich an und stellte fest: »Wir sind aber schon verheiratet.«

Ich erwiderte: »Man kann nicht oft genug um die Hand einer schönen Frau anhalten.«

Da war ein Lächeln in ihrem Gesicht wie Medizin für alle und alles. Maritta öffnete das Kästchen. Ihr Blick fiel auf einen Diamantring. – Man könnte jetzt sagen, daß das etwa so einfallsreich war wie ein Fünf-Gänge-Menü. Doch es handelte sich immerhin um ein 6,66-Karat-Kleinod, das bei Sotheby’s New York für fast 200000 Dollar versteigert worden war. Ich hatte einen Auftrag gegeben und das Stück nach Portland schicken lassen. Im Grunde war es Geld, das mir nicht gehörte, Agentengeld, welches für diverse Interventionen zur Verfügung stand, Bestechungen und ähnliches. Aber was sollte ich mit diesem Geld jetzt noch tun? Es unnötigerweise mit nach X nehmen? Wo ich doch wußte, wie sehr Maritta für solchen Schmuck schwärmte.

Durchaus passend dazu, sagte sie, nachdem sie eine Weile gebührend sprachlos gewesen war: »Das muß ein Vermögen gekostet haben.«

So vornehm war sie. Allein den Umstand hoher Kosten feststellend, dabei die naheliegende Frage vermeidend, woher ich so viel Geld überhaupt habe. Auch wenn sie wahrscheinlich in diesem Moment noch nicht ahnen konnte, wie teuer dieser im Inneren völlig fehlerfreie und mittels Smaragdschliff gefertigte Stein wirklich war.

Und was sie nun leider gar nie erfahren würde, war die Tatsache, daß diesen Ring einst Marilyn Monroe getragen hatte. Das war mir wichtig, nicht nur der hohe materielle, sondern vor allem ideelle Wert, zumindest, wenn man zu denen zählte, welche die Monroe als eine der ganz großen Schauspielerinnen empfanden. Und das taten meine Frau und ich in gleichem Maße. Daß Maritta in diesem einen Punkt jedoch unwissend bleiben würde, änderte nichts an der Bedeutung und Symbolik. Auch das habe ich auf der Erde gelernt. Die Magie des Sinnlosen zu erkennen. Wie wichtig gerade die Dinge sind, die jemand nicht weiß.

Maritta steckte sich den Ring an den Finger und betrachtete ihn wie das Kind, das uns nicht vergönnt gewesen war. Ich spürte das Strahlen, das tief in ihr vonstatten ging.

Sie legte ihr Kinn – eine Verlegenheit freundlich spielend – auf der eigenen Schulter ab und sagte: »Ich würde dir gerne um den Hals fallen. Aber nicht vor all den Leuten. Doch ich sage dir eines: Mein Herz gehört dir.« Und gleich darauf, belustigt: »Du siehst, wie bestechlich ich bin. Für einen Diamantring bin ich bereit, mein Herz zu verschenken.«

Ich lachte und sagte: »Erinnerst du dich an den Film mit der Monroe und Jane Russell?«

Sie hob ihr Kinn wie ihre Stimme leicht an und sang: »Diamonds are a girl’s best friend.«

»Wir sollten ihn uns wieder mal anschauen«, schlug ich vor.

»Genau das sollten wir«, antwortete sie.

Bitterkeit! Ich empfand tiefe, schwarze, stechende Bitterkeit. Verzweiflung…und – mit einem Mal – ein Gefühl des Aufbegehrens. Ein Gedanke flammte. Ich fragte mich, inwieweit es möglich wäre, das Schicksal zu provozieren. Eine Roulettekugel zu werfen. Und sodann die kaum durchschaubaren Gesetze walten zu lassen, denen diese Kugel im rotierenden Kessel der Glücks- und Unglücksmaschine ausgeliefert war.

Ich sah mich um. An einem der benachbarten Tische saß eine Gruppe von arabisch aussehenden Männern und Frauen. Sie trugen alle Schipullover, wie die meisten hier, mit so einem skandinavischen Muster, irgendwelchen stilisierten Rentieren und Schneekristallen. Ich fand es ziemlich niederträchtig, wenn Menschen, die es in keiner Weise nötig hatten, den Globus bereisten. Aus Langeweile und Anmaßung und Naturverachtung. Aus Gottesverachtung sowieso. Anders war das bei armen Leuten, denen selten viel mehr übrigblieb, als eine Heimat, die ihnen weder Arbeit noch Perspektive bot, zu verlassen, um dann irgendwo auf der Welt den Bessergestellten quasi den Hintern auszuwischen. Aber diese Typen hier, die aus irgendeiner verdammten Wüste Öl herauspumpten, oder welch gutgehende Geschäfte sie auch immer trieben, was hatten die auf einem amerikanischen Berg zu suchen? Warum trugen sie Norwegerpullover und tranken kalifornischen Wein? Warum sahen sie so unverschämt zu unserem Tisch herüber und gafften meiner Frau ins Dekolleté?

Nun, natürlich hätte man sich ebenso fragen können, ob ein solcher Vorwurf – das Schifahren von Arabern in Oregon – nicht genausogut auf eine in Botnang ansässige Allgemeinmedizinerin anzuwenden war. Ganz zu schweigen von einem Alien, das von der anderen Seite des Sonnensystems herstammte. Zudem hätte man den Blick eines dieser Männer vielleicht dahin gehend deuten können, daß er weniger den Ausschnitt Marittas betrachtete, sondern sich seinerseits gemustert fühlte. Nämlich von mir.

Und es war ja auch der Fall, daß ich mit dunkler werdender Miene hinüber zu dem Tisch schaute und diesen einen Mann fixierte, einen vielleicht dreißigjährigen, großen und breitschultrigen Menschen, der gleich einer gewollten Narbe die hochnäsigen Züge seiner Kaste trug.

Tatsächlich unterhielten sich die Leute an diesem Tisch in einer arabischen Sprache. Ebenso war davon auszugehen, daß sie bestens das Englische beherrschten. Vielleicht auch Französisch. Aber absolut nichts wies darauf hin, daß einer von ihnen, auch nicht der von mir Angestarrte, des Deutschen mächtig sei.

Und genau diese Unsicherheit – diese eher erhebliche Unsicherheit – bildete das notwendige Handikap. Denn wenn man sich von Gott eine Hilfe, zumindest einen Fingerzeig erwartet, kann man nicht den untersten Schwierigkeitsgrad wählen. Im Gegenteil.

Hätte ich jetzt begonnen, meine geplante Flegelei in englischer Sprache zu exekutieren, wäre das gewünschte Ergebnis viel zu naheliegend gewesen, um von einem Zeichen sprechen zu können. Von einer Willentlichkeit des Schicksals. Einem göttlichen Einsehen. Darum mußte es Deutsch sein.

Ich reckte meinen Kopf weiter in die Höhe, bemühte mich um den stärksten Ausdruck der Verachtung und sprach in Richtung des Mannes: »Du verdammter Kuhtreiber, was suchst du hier? Trinkst und säufst, während deine Leute zu Hause zwischen den Buchdeckeln des Korans feststecken. Sieh dich an in deinem weißen Schipullover! Du schaust aus wie ein Affe in einem Hochzeitskleid. Geradezu schwul. Fahr doch nach Hause und geh im Sand rodeln!«

Sind Araber Kuhtreiber oder nicht eher Kameltreiber? Da hatte ich mich wohl vertan. Aber darauf kam es nicht an. Denn die Kugel war geworfen, sprang über die Hindernisse des Kessels, beschleunigte mehrmals, wurde endlich müde und rollte schließlich wie eine weichgewordene Birne den kleinen Abhang hinunter, um dort…ja, sie landete allen Ernstes im richtigen Loch. – Der Mann hatte mich verstanden. Er war hochgesprungen, zeigte mit seinem Finger auf mich und sagte ziemlich akzentfrei: »Faschist!«

»Ach was?!« erwiderte ich. »Du bist also gar kein schwuler Araber, sondern Jude.«

Ich kann es nicht ändern. Es machte Spaß. Da war ein Gefühl grenzenloser Freiheit. Freiheit zur Bösartigkeit. Dies alles indes unterlegt mit einem hehren Ziel. Und diesem Ziel näherte ich mich mit großen Schritten. Es gab jetzt kein Halten mehr. Ich sah, wie der Mann am Explodieren war. Die irritierten Gesichter seiner Freunde verrieten mir, daß ich offensichtlich genau den einen von ihnen ausgewählt hatte, der aus welchen Gründen auch immer der deutschen Sprache mächtig war. Er mußte den anderen erst begreiflich machen, was ich da gesagt hatte. Nacheinander erhoben sich die vier Männer, während ihre drei Begleiterinnen nach draußen geschickt wurden. Ich meinerseits hätte Maritta auch gerne angewiesen, den Raum zu verlassen. Aber mit ihr konnte man das natürlich nicht machen. Freilich war sie völlig perplex. Eine Katastrophe geschah. Eben noch war ihr durch mein diamantenes Geschenk ein großes Glück widerfahren. Und gleich darauf schien ich verrückt geworden zu sein. Wie konnte sie ahnen, daß das, was ich hier unternahm, einen Rettungsversuch darstellte. Den Versuch, eine Eskalation hervorzurufen. Eine Eskalation von solcher Wucht, daß ich außerstande sein würde, in der gleichen Nacht meinen Auftrag zu erfüllen und mit dem Picasso und dem Archaeopteryx die Reise nach X anzutreten. Dazu war allerdings nötig, daß mehr geschah als ein paar ungehörige Beleidigungen meinerseits. Und es geschah auch mehr. Die vier Männer umstellten unseren Tisch. Man hätte meinen können, eine saudi-arabische Viererbobmannschaft bilde einen olympischen Ring. Währenddessen sprach ich ganz ruhig zu Maritta, sie solle völlig unbesorgt bleiben, ich wisse genau, was ich tue. Aus ihrem Blick schloß ich, daß sie, bei aller Bestürzung und der größten Sorge um mich, mir dennoch glaubte. Sie kannte mich ja, sie wußte, daß ich nicht irre war. Und daß dieses völlig unverständliche Handeln einen Zweck besitzen mußte.

Ich bat sie nun doch zu gehen. Ich sagte: »Tu mir den Gefallen. Bitte!«

Sie biß sich kurz auf die Lippe, nickte sodann, stand auf und drängte sich an zwei der Männer vorbei, um das Restaurant zu verlassen. Gleichzeitig waren mehrere Kellner erschienen, ferner jemand vom Hotelmanagement sowie einer, der sagte, er sei der Hausdetektiv. Es war wie in einer Verwechslungskomödie, wenn endlich alle auftreten und eine letzte große Krisis durchlebt wird, bevor sich dann alles in Wohlgefallen auflöst. Aber an einer Krisis kommt eben auch die Komödie nicht vorbei.

Damit nun nicht doch alles dem Bemühen nach Schlichtung zum Opfer fiel, machte ich noch eine abfällige Bemerkung über den Propheten. Gleich, wie religiös oder weltlich diese Araber waren, das konnten sie nicht zulassen. Was jeder verstehen kann, ich selbst am allerbesten. Die vier attackierten mich. Ich erwischte eine Ohrfeige und einen Schlag auf den Hinterkopf. Die Leute vom Hotel versuchten einzugreifen, bekamen ihrerseits etwas ab. Auch andere Gäste des Restaurants mischten sich ein. Viele schienen zu glauben, ich hätte irgendwie die Vormachtstellung der Amerikaner– wirklich nicht mein Lieblingsland – verteidigt. Wie gesagt: Verwechslungskomödie.

Doch selbst jetzt gab ich nicht auf, immer weiter auf einen Kulminationspunkt zusteuernd. Ich erwähnte es bereits: Wenn ich will, bin ich beweglich. Und ich wollte, wich einem Schlag aus, sprang in die Höhe, fuhr die Faust aus und traf so punktgenau die Nase jenes Mannes, den ich von Anfang an im Visier gehabt hatte, daß er zurückfiel und auf einer Tischplatte landete. Nun ging es erst richtig los. So muskulös die Araber auch waren, richtig geschickt waren sie nicht. Dennoch bemühte ich mich um ein Gleichgewicht der Kräfte, eine Ausgewogenheit des Schlagens und Geschlagenwerdens.

Endlich erschienen mehrere uniformierte Männer, die wohl eine Art Privatpolizei oder Schipolizei oder sonst was darstellten, jedenfalls bewaffnet waren. Ich hatte Blut im Gesicht und konnte nicht so richtig gut sehen. Ich spürte, wie man nach mir faßte, mich auf den Boden drückte, meine Arme nach hinten riß und mit einem Plastikband meine Handgelenke zusammenschnürte. Nicht einmal Handschellen hatten sie hier. Genau das sagte ich auch, jetzt natürlich auf Englisch: »Habt ihr denn nicht einmal Handschellen, ihr weißen Ärsche?«

Jemand trat mir in die Hüfte. Ich lachte vor Schmerzen. Dann wurde ich hochgehoben, machte aber keine Anstalten, meine Füße ordentlich aufzusetzen. Sie mußten mich nach draußen schleifen. Dort stellten sie mich gerade hin, und einer von ihnen schlug mir in den Magen. Ich hätte nicht gedacht, wie weh so etwas tun kann. Man meint wirklich, die Faust stülpe sich durch den Nabel ins Innere, um dort nach den Eingeweiden zu fassen und die größte Unordnung anzurichten.

Nun gut, das gehörte dazu. Es wäre naiv gewesen, zu meinen, die halbe Arbeit würde ausreichen. Die halbe Arbeit reicht nie aus. Sowenig, wie man halb sterben oder halb leben kann. Oder es möglich wäre, jemanden bloß zu einem Viertel umzubringen oder nur zu zwei Dritteln zu belügen. – Ich weiß, daß die Menschen glauben, genau das würde funktionieren. Süßer Traum.

Nachdem mich die Kerle ordentlich verprügelt hatten und ich gar nichts mehr sehen konnte, schleppte man mich woanders hin und ließ mich auf den Boden fallen. Ich will nicht sagen, daß ich noch gut hören konnte, aber ich meinte doch, das Geräusch des sich im Schloß drehenden Schlüssels zu vernehmen. Offenkundig hatte man mich zur Beruhigung in irgendeine Abstellkammer gesperrt. Das hier war schließlich das Timberline Lodge und kein Gefängnis. Randalierende Gäste waren wohl eher eine Seltenheit. Wahrscheinlich wollte man zuerst versuchen, den Sachverhalt zu klären, bevor man mich zur nächsten Polizeistation transportierte. In keinem Fall jedoch würde ich es schaffen – und das war das hehre Ziel –, zur rechten Zeit mein Raumschiff zu erreichen. Man muß ja nicht unbedingt verschlafen. Es gibt auch andere Wege.

Mir war speiübel. Jeder Atemzug verursachte mir Schmerzen, erst recht die geringste Bewegung. Trotzdem war ich glücklich. Ich sah eine Zukunft mit Maritta. Selbst wenn meine Gedanken unklar waren und ich weder an den Picasso in meinem Zimmer dachte noch an den Umstand meiner im Vergleich mit Maritta stark verzögerten Alterung. Schon gar nicht war in meinem dröhnenden Schädel Platz dafür, mir die 200000 Dollar zu vergegenwärtigen, die ein hübscher kleiner Ring gekostet hatte.

Ich verlor ein wenig das Bewußtsein. Nun, »ein wenig das Bewußtsein verlieren« ist in etwa so blödsinnig wie »zu zwei Dritteln lügen«.

Als ich wieder zu mir kam, war ein Auge zu und eines offen. Mit dem offenen sah ich die vielen Kartons, die hier gelagert waren, sowie die Türe aus verdrahtetem Glas und das Deckenlicht aus Neonröhren. Ich setzte mich auf und hielt mir eine Weile den Schädel, wie man das mit Dingen tut, die man festzukleben versucht. Aber ich war alles andere als ein Arzt meiner selbst. Wie gut war es darum, daß nach einiger Zeit die Türe aufging und Maritta zusammen mit einem Mann, dessen weiße Haare mir wie die Verdoppelung des Lichts erschienen, den Raum betrat. Maritta kniete sich sofort zu mir hin, faßte mich an der Schulter, drehte mich ein wenig und betrachtete mit dem detektivischen Blick ihres Berufs mein stark lädiertes Gesicht.

»Großer Gott, mein Liebling, die verdammten Schweine!« rief sie aus.

»Das ist schon in Ordnung«, meinte ich.

Der Mann mit den strahlendweißen Haaren zeigte sich untröstlich. Er sprach von einem Irrtum, einem Mißverständnis. Zeugen hätten bestätigt, daß in dieser Sache ich das Opfer gewesen sei. Keine Frage, daß die Männer von der Security übereilt und die falschen Mittel einsetzend gehandelt hätten. Ganz abgesehen davon, daß sie diese falschen Mittel dann auch noch am falschen Mann zur Anwendung gebracht hatten.

Nun, ich hätte ihm gerne gesagt, daß das nicht stimmte. Daß diese Schipolizisten ganz sicher den richtigen Mann erwischt hatten, wenngleich man mir wegen des Ausdrucks »weiße Ärsche« nicht in den Magen hätte treten müssen. Aber im Grunde war alles nach Plan gelaufen, und ich hatte bekommen, was ich verdiente. Hatte erreicht, was ich hatte erreichen wollen. – Freilich konnte ich das so nicht sagen. Andererseits war ich nicht im mindesten daran interessiert, daß man mich jetzt in mein Hotelzimmer zurückbrachte und sich solcherart doch noch die Gelegenheit ergab, mit Picasso & Archaeopteryx das Raumschiff zu erreichen.

Man kann sich fragen, warum ich es mir nicht einfacher gemacht und ohne großes Theater meinen Auftrag unerfüllt gelassen habe. Warum ich überhaupt nach Amerika gereist war. Aber ist das nicht vergleichbar mit all den Menschen, die sich Tag für Tag wünschen, daß ein Unglück geschehe, daß man in eine Straßenbahn laufe, von einem herabfallenden Gegenstand getroffen werde, in irgendeine fatale Situation gerate, bloß, um endlich nicht mehr den gehaßten Arbeitsplatz zu erreichen? Unfähig, ihren Job einfach zu kündigen, ergehen sich die Menschen in Phantasien des Unglücks. Nicht, daß sie dabei sterben wollen. Aber sie würden selbst eine schwere Verletzung in Kauf nehmen, nur damit eine Veränderung geschähe, die man ebensogut mit ein paar deutlichen Worten bewerkstelligen könnte.

Nein, ein anderer, ein »normaler« Weg war mir nicht möglich gewesen. Auch wenn ich wenig Gefallen daran fand, mit geschwollenen Augen und vielen blauen Flecken und dem fortgesetzten Gefühl einer fremden Faust in meinem Magen hier am Boden zu sitzen und meiner geliebten Frau Sorgen zu bereiten.

Diese geliebte Frau half mir nun vorsichtig in die Höhe, und zusammen mit dem Hotelmanager, oder was auch immer er darstellte, brachte man mich in die kleine hauseigene Arztpraxis. Wo in der Tat ein Arzt wartete, welcher es aber selbstredend Maritta überließ, den eigenen Gatten wieder zusammenzuflicken. Ich war ja nicht ernsthaft verletzt, denn der Schlag in den Magen war ein kontrollierter gewesen. Freilich würde man mich am nächsten Morgen in ein Spital bringen müssen, um eine eingehende Kontrolle vornehmen zu lassen. Wir waren hier in Amerika, und ich war Gast in diesem Hotel. Man fürchtete eine juristische Intervention meinerseits. Ich beeilte mich zu erklären, daß ich nichts dergleichen vorhabe. Ich sei Europäer und als solcher sehr viel eher bereit, das chaotische Wesen eben nicht nur der Natur, sondern nicht minder der Gesellschaft zu akzeptieren. Wie auch diese gewisse Tendenz von Konflikten, sich ins Unübersichtliche zu steigern. Eine Unübersichtlichkeit, für die man die Wachorgane nicht verantwortlich machen könne. Nein, es würde mir reichen, wenn man mich für den Rest dieser Nacht in einem anderen Zimmer unterbringen könnte. Nur um ganz sicher zu sein, daß diese vier – fast wäre mir das Wort »Kameltreiber« herausgerutscht – Araber nicht noch mal versuchten, mich zu verprügeln. Von anderen Forderungen wolle ich Abstand nehmen.

Der Hotelmanager schien nicht zu wissen, ob er sich freuen oder sich fürchten sollte. Fürchten davor, daß mein Gerede auf eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres zurückzuführen war… oder ob dies tatsächlich jenes befremdliche europäische Bedürfnis widerspiegelte, auf Geld zu verzichten, wenn man statt dessen als ein intellektueller Humanist dastehen durfte.

Maritta sagte mit einer Stimme aus eisenharten Kamillenblüten: »Ja, so ist mein Mann.«

»Das ist sehr großzügig«, meinte Herr Weißhaar, auch wenn er es gerne schriftlich gehabt hätte. Aber dafür war es wohl noch zu früh. Beziehungsweise war es ja recht spät in der Nacht, halb drei. Spätestens jetzt hätte ich aufbrechen müssen, mit einer Taschenlampe bewaffnet, den Stein und die eingerollte Leinwand im Gepäck, um bei Mondlicht die Hütte zu erreichen, in welcher eine mit Wasser angetriebene Schönheit namens Emily zum Start bereit stand. Ein Start, den man nun würde verschieben müssen. – Es war freilich anzunehmen, daß Schindler bereits wußte, was geschehen war, und sie jetzt versuchen würde, der beiden wertvollen Objekte in meinem Zimmer habhaft zu werden. Welche nicht etwa im Tresor lagen, der dafür zu klein gewesen wäre, sondern ganz einfach in einer meiner Reisetaschen. Jedenfalls war das einer der wahren Gründe, diese Nacht woanders zubringen zu wollen.

Mit der größten Freude wurde mein Wunsch erfüllt. Man brachte mich in die Hochzeitssuite, was ich mehr als passend fand. Eingedenk des Ringes, den ich Maritta geschenkt hatte. Und eingedenk dessen, daß ja wirklich ein weiterer Lebensabschnitt für uns beide begann, sowenig Maritta dies ahnen konnte. Mein verwundetes Gesicht war somit ein fundamentaler Ausdruck des Neubeginns. Ja, ich kam mir nun wirklich gereinigt vor. Das körperliche Leid verwandelte sich in eine seelische Euphorie.

Als ich in dem überbreiten Himmelbett lag (so groß, daß darauf Zirkusturner komplizierten Sex hätten haben können), erfüllte mich ein starkes Begehren nach Maritta. Welche sich aber noch in der Position der Heilpflegerin befand und mir zwei Tabletten in den Mund zu schieben versuchte, damit ich trotz der Schmerzen würde schlafen können.

Ich wollte jedoch nicht schlafen und nahm statt der Medizin die Medizinerin fest in meine Arme.

»Aber Klaus…«

»Kein Aber. Ich brauche jetzt eine Arznei, die auch wirkt.«

Maritta, als Ärztin alles andere als dogmatisch, ließ die Tabletten fallen und befreite sich nur darum aus meiner Umarmung, um sich ihr Abendkleid über den Kopf zu ziehen, der Unterwäsche zu entledigen und sich sodann mit der allergrößten Fürsorge auf meinen Unterleib zu setzen und das längst aufgerichtete Glied in sich aufzunehmen.

Ich muß gestehen: Ein wenig begriff ich, was diese Leute antreibt, die sich aus lauter Liebe Schmerzen zufügen lassen. Nicht, daß das hier geschah. Im Gegenteil, da Maritta mich ja weder fesselte noch anderswie traktierte, sondern mit sanften Bewegungen eher auf mir schwebte als sonstwas. Dennoch spürte ich meine Knochen wie unter einem liebevollen Hieb, als geschähe eine milde Demütigung, eine Verwundung, in welcher gleichzeitig das Prinzip der Heilung steckte.

In dem Moment, da es mir kam, war es zum ersten Mal genau so, wie manche Menschen es beschreiben: ein kleiner Tod. Ein guter kleiner Tod.

Maritta legte sich neben mich, blieb ganz dicht an mir und sagte: »Ich bin so froh, daß ich mit dir zusammen alt werden kann.«

»Ich auch«, gab ich zur Antwort.

Das war ausgesprochen unrealistisch. Doch ich spürte die Macht des Unrealistischen. Zumindest spürte ich die wohltuende Versuchung, etwas zu tun, was der Natur widersprach. Nämlich nicht alt zu werden. Nicht in einem Xschen Sinn. Also nicht noch weitere vierhundert Jahre am Leben zu bleiben. Ohne freilich gleich sterben zu müssen. Nein, was ich im Sinn hatte, waren ein, zwei Dutzend gute Jahre. Aber wer hat das nicht im Sinn? Selbst Achtzehnjährige reden so, ganz zu schweigen von Achtzigjährigen, die sagen: Zehn gute Jahre noch, dann soll mich der Teufel holen.

Als ich einschlief, hörte ich Musik. Musik aus dem Nachbarzimmer. Merkwürdige Musik. Merkwürdig angesichts dessen, daß ich mich im Timberline Lodge befand, inmitten von schifahrenden Arabern und anderen Leuten ohne Anstand und Würde. Diese Musik jedoch…Berg oder Schönberg?

Nun, es war ja nur der hübsche Gleichklang der Namen, der mich zu dieser Frage verführte. Eine Frage, die ich vor kurzem schon einmal…

In den zwei, drei Sekunden, bevor man richtig einschläft, erkennt man endlich die ganze Wahrheit. Schade nur, daß man sie, wenn man aufwacht, wieder vergessen hat. Ja, man könnte fast meinen, daß dies der eigentliche Grund ihres Bestehens ist. Wahrheit ist wie eine Fliege, die man mit der Hand fängt. Zerdrückt man sie, kann man sie betrachten, doch dann ist sie tot. Wer aber braucht eine tote Wahrheit? Öffnet man hingegen die Hand, ist sie weg. Wie nie geschaut.