28 | Rotwein verstellt den Blick

Der Killer ist da. Ich weiß nicht, wie er heißt. Er hat nicht einmal einen Deck- oder Kosenamen. Ein echter Geheimnistuer. Aber bitte, das ist seine Sache. Solange er nur seinen Job zufriedenstellend erledigt, kann er von mir aus inwendig aus Schokolade bestehen. Ich bezahle ihn, weil es heißt, er würde keine Fehler machen, wenigstens keine groben.

Daß er sich ausgerechnet zu diesem Lorenz Mohn setzt…nun, irgendwo muß er ja Platz nehmen. Des Buches wegen. Das Buch muß liegenbleiben. Hernach, wenn dann alles vorbei ist, wird man dieses Buch finden. Es wird der maßgebliche Hinweis auf den Täter sein. Nicht den wirklichen, sondern einen anderen, einen, der durchaus einen Decknamen besitzt und von dem alle schon mal gehört haben. Er nennt sich der Lyriker. Hat es folglich mit Gedichten. Was ich peinlich finde, wenn sich Auftragsmörder einen poetischen oder irgendwie exzentrischen Anstrich verleihen. Auf genial machen, auf künstlerisch und philosophisch. Jedenfalls weiß man in Ermittlerkreisen, daß dieser Lyriker gerne ausgewählte Gedichtbände an den Tatorten zurückläßt. Trakl bei Frauen, Auden bei Männern. Und es ist bekannt, daß er hin und wieder in Europa für die CIA arbeitet, weil die sich nämlich in Europa einfach schlecht zurechtfindet. Europa ist der CIA unheimlich. Als wär’s ein Film, der rückwärts läuft. Und noch dazu in Schwarzweiß und ohne Ton und auf eine altmodische Weise experimentell. Ja, man könnte sagen, für die CIA ist ganz Europa ein verdammter expressionistischer Kunstfilm. Und darum…

Wenn die Polizei das Buch findet, wird es keinen Zweifel mehr geben, weshalb der afrikanische Diplomat hat sterben müssen. Man wird sich sagen: Die blöde CIA, können die nicht in Amerika bleiben. Können die nicht wenigstens warten, bis der Afrikaner wieder in Afrika ist und dorthin ihren Killer schicken. Hier ist schließlich Wien, hier ist die Kultur zu Hause, die Kammermusik, das Volksstück, hier liegt das Verbrechen noch im Schoß der Familie…

Nun, was auch immer die Wiener Polizei anzuprangern gedenkt, sie dürften es wohl kaum wagen, sich bei den Amerikanern offiziell zu beschweren. Nein, sie werden nach einem ersten kleinen Geheul ihr übliches Glücklich-ist-wer-vergißt anstimmen. Und in diesem Zusammenhang notwendiger- und praktischerweise auch den Tod Claire Montbards so bedauernd wie achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Und mitnichten eine Obduktion vornehmen, bei welcher zumindest ein sehr aufmerksamer Pathologe sich über einige kleine, aber erstaunliche Divergenzen zur üblichen Anatomie würde wundern müssen. Denn so vollkommen identisch sind die Xler und die Menschen nun doch wieder nicht.

Gibt es überhaupt aufmerksame Pathologen?

Nun, Maritta würde sagen, man kann das nicht ausschließen. Es gebe schließlich auch intelligente Zahnärzte und hin und wieder freundliche Busfahrer und gesunde Sechslinge und Schnee schon im Oktober und …

Richtig! Weshalb ich zuerst an den Einsatz einer Bombe dachte. Was in jedem Fall die einfachere und wegen besagter organischer Auffälligkeiten die sicherere Lösung gewesen wäre. Aber andererseits ist es doch so, daß Bomben zur Übertreibung und zur Ungenauigkeit tendieren. Sie reißen stets mehr Leute mit in den Tod als nötig, und nicht immer die richtigen. Es widerstrebt mir, ein Blutbad im Prinzipal zu verantworten. Nein, es sollen nur so viele Menschen sterben wie absolut nötig. Und das sind im konkreten Fall zwei. Der Diplomat und Claire. Wobei die Aufgabe des Killers darin besteht, den Mann aus Afrika mit sechs, sieben Projektilen niederzustrecken, Claire jedoch mit einem einzigen Schuß aus dem Verkehr zu ziehen. Das nennt man dann »verirrte Kugel«. Um nun aber das Risiko, Claire bloß zu verletzen anstatt zu töten, zu minimieren, wird unser Killer gleich als erstes auf sie schießen und sodann die verbliebene Fülle seines Magazins im offiziellen Opfer unterbringen. Kaum anzunehmen, daß irgend jemand die falsche Reihenfolge bemerkt. Es wird alles viel zu schnell gehen. Wenn Menschen eine Pistole sehen, dann machen sie automatisch die Augen zu. Nun, Claire allerdings kaum, aber die ist ja auch kein Mensch. Andererseits wird ihr das wenig nützen, offenen Auges zu erkennen, daß das Spiel zu Ende ist.

Jetzt steht er auf, der Mann ohne Namen. Er geht nach hinten, zu den Toiletten. Dort wird er sich vorbereiten, sich und seine Waffe.

Stimmt, da sind noch die Bodyguards, zwei vor dem Extraraum, einer im Hof. Aber die werden kein Problem sein. Bodyguards enden nur als Helden, wenn sie nicht rechtzeitig zur Seite gehen. Diese drei hier wollen keine Helden sein. Dafür habe ich gesorgt.

Ich sehe hinüber auf den Tisch. Das Buch liegt, wo es liegen soll. Aber… Der Strickwarenmensch nimmt es in die Hand, sieht sich das Cover an: Auden, klar, auch wenn Trakl korrekter wäre. – Was will dieser Lorenz Mohn? Ich sollte hinübergehen und ihm verbieten, fremde Bücher anzufassen.

Immerhin, er steckt den Band nicht etwa ein, sondern legt ihn zurück an seinen Platz. Allerdings sind jetzt Mohns Fingerabdrücke auf dem Umschlag, während unser Killer so etwas wie Fingerabdrücke gar nicht besitzt. Mir gruselt bei der Vorstellung, was es für Folgen haben kann, daß Lorenz Mohn, immerhin einst Verdächtiger im Mordfall Nix, auf diesem Buch, welches sehr bald ein wichtiges Beweisstück sein wird, den dummen Abdruck seiner dummen Fingerkuppen hinterläßt.

Ich fühle mich unwohl. Ich gebe Oskar ein Zeichen, dem Mann hinter der Theke. Früher hat er in einer kleinen Bar gearbeitet. Ich habe ihn hierhergeholt. – Wären nur alle Menschen wie Oskar. Er weiß sofort, was ich meine, und schenkt mir ein Glas Wein ein. Nicht das Zeug, das wir den Leuten als magischen Tropfen andrehen, sondern einen richtig guten Roten aus dem heiligen Burgenland. Ich hebe das Glas an, trinke.

In diesem Moment ist mir der Blick verstellt. Aber man kann eben nicht alles haben.