22 | Zu Hause ist es am schönsten

Drei Tage später saßen wir in der ersten Klasse eines Fliegers, der uns nach Frankfurt bringen würde. Draußen war Nacht. Unter uns das große Meer. Marittas Kopf lag an meiner Schulter. Ich meinte sie trotz des Gedröhns atmen zu hören. Wie kleine Kinder atmen, angestrengt und unschuldig. Vor uns schnarchte jemand im Stil der Kater-Karlo-Männer. Als wollte er im Traum ein Haus niederreißen oder einen Berg sprengen. Kaum jemand war noch wach. Eine gesunde Mischung aus Alkohol und Tabletten bescherte mir einen wohligen Zustand, so wohlig, daß ich ihn nicht an den Schlaf verlieren wollte. Also sah ich aus dem Fenster. Dieser biedermeierlich beschränkte Blick auf das Weltall war mir so viel lieber, als in der transparenten Hülle eines unserer Raumschiffe zu sitzen und mich wie ein Höhenkranker auf einer Wendeltreppe zu wähnen.

Am Morgen nach der Nacht, in der ich mich in meinen fidelen Rassismus geflüchtet hatte, war erneut der Hotelmanager erschienen, und man hatte mich in ein Krankenhaus transportiert. Dort war nichts festgestellt worden, was mich oder erst recht die Leitung des Timberline Lodge hätte aufregen müssen. Prellungen, wahrscheinlich eine leichte Gehirnerschütterung, ein ordentlicher Cut, all das, was zu einem guten Boxkampf gehörte, aber nicht mehr. Ich hatte mich geradezu vergnügt gefühlt ob des Krankenhauses und der vielen lieben Leute dort. Erst gegen Abend war ich zurück ins Hotel gekommen. Meine gute Stimmung hatte sich jählings in eine düstere Ahnung verwandelt. Umso erleichterter war ich gewesen, als ich feststellen durfte, daß der Picasso wie auch der Archaeopteryx aus meinem Zimmer verschwunden waren. Maritta hatte zwar gemeint, eine Tasche würde fehlen, doch ich hatte sie inniglich gebeten, sich nicht weiter darum zu kümmern. – Wie viele Frauen hätten jetzt zu nerven begonnen? Hätten lieber das Leben oder wenigstens die Liebe aufs Spiel gesetzt, als eine Tasche abzuschreiben! Keine Plastiktüte, sondern bestes Leder, Vuitton oder was ähnlich Braunes. Maritta indes hatte einfach meinen Wunsch akzeptiert. Ohne kritischen Blick, ohne ironischen Kommentar, ohne die leise Drohung, daß ich dafür einst würde büßen müssen. Sie hatte den Verlust der Tasche mit einer Leichtigkeit weggesteckt, als würde sie in ihrem Leben noch genug Taschen zu Gesicht bekommen. Was ja in der Tat der Fall wäre. Aber dies zu erkennen und sodann danach zu leben war echte Genialität gewesen.

Noch am selben Abend hatte ich unter der »therapeutischen Leitung« des Hoteldirektors meine vier Kontrahenten getroffen. Man hatte von Irrtümern und Mißverständnissen gesprochen und über die in ihren Bedeutungen nicht immer einfache deutsche Sprache, ja man unterhielt sich in bester Laune darüber, wo es den besten Schnee gäbe und ähnlich Wichtiges. Ich hatte natürlich von Botnang erzählt, von meinem literarischen Magazin, von der unaufgeregten Grazie Stuttgarts und wie sehr gerade diese Stadt das europäische Prinzip erfülle, nachdem auch urbane Räume Teil der Natur seien, selbst noch die verstopften Straßen.

Trotz dieses versöhnlichen Ausgangs einer für mich in jeder Hinsicht erfolgreichen Konfrontation hatte ich Maritta gebeten, den Urlaub abzubrechen. Ich hatte so rasch wie möglich weg von hier gewollt, und sie hatte mich verstanden. Zwar falsch verstanden, aber das war gut so gewesen. Wie hätte ich ihr erklären sollen, daß ich fürchtete, doch noch dazu verpflichtet zu werden, meiner Funktion als Agent erster Klasse nachzukommen?

So groß diese Angst gewesen war, hatte es mich am Folgetag gleichwohl zu der Hütte hinüber gezogen, wo vielleicht noch immer… Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, eine Kanonenkugel, ein Elefant der Sorgen und was sonst so ein Herz beschweren kann. Allerdings war ich ziemlich verblüfft gewesen. Nicht darum, weil das Raumschiff verschwunden gewesen war – wofür ich Gott gedankt hatte. Aber auch die Höhle war verschwunden gewesen. Ich war in einer ganz normalen leeren Hütte gestanden. Bloß ein Tisch und ein paar Stühle. Zur Felswand hin eine leere Wand aus hölzernen Latten. Als ich dagegen geklopft hatte, war da nichts gewesen, was einen rückseitig gelegenen hohlen Raum verraten hätte. Sicher, der Umstand war recht verwirrend gewesen, dennoch war ich lieber verwirrt als im Weltall.

Am nächsten Tag waren wir abgereist. Man hatte uns gewinkt: das Personal, das Management, die Wachmannschaft, die vier Araber in ihren Norwegerpullovern. Doch es war wohl auch Erleichterung mitgeschwungen. Bei aller Freundschaft hatte wohl ein jeder gespürt, daß hier etwas ganz und gar Unkoscheres abgelaufen war.

Ich liebe diese Langstreckenflüge. Obwohl ich ja ungern auf Reisen bin. Im Flugzeug aber kommt es einem vor, als würde man im Grunde nicht transportiert werden, sondern Zeit geschenkt bekommen. Sinnlose Zeit. Zeit, mit der man nicht wirklich etwas anfangen kann. Übrigens auch die Geschäftsleute nicht, selbst wenn sie noch so energisch in ihre kleinen, armen Maschinchen hineinhämmern und noch so geräuschvoll in ihren Papieren blättern wie kleine Kinder, die sich verstecken, aber eigentlich gefunden werden wollen, und darum hüsteln und klopfen und zum zwanzigsten Mal »Geht schon!« rufen.

Sie ist wunderbar, diese sinnlose Zeit. Fliegen müßte viel teurer sein. Man sollte den Wert einer solchen Fortbewegung höher einschätzen. Wozu natürlich gehören würde, die Besserverdienenden nur noch selten in ein Flugzeug zu lassen. – Nein, die Geschäftswelt bräuchte nicht zusammenzubrechen, wenn all diese Kaufleute, anstatt in zehntausend Metern mit dem Papier zu rascheln, am Boden bleiben würden, wo sie hingehören, um dort ihre Arbeit zu machen.

Den Blick noch immer nach draußen gerichtet, im linken Ohr das Schnaufen meiner geliebten Frau, mußte ich erneut daran denken, daß absolut nichts in der Holzhütte darauf hingewiesen hatte, daß an genau dieser Stelle der Hangar und die Startrampe eines nicht gerade kleinen Raumschiffs gewesen waren. Für mich – der ich ja gewußt hatte, wonach zu suchen war – hätte sich eigentlich irgendeine Spur zeigen müssen.

Mit einem Mal stand ein Gedanke vor mir, der mich aber nur einen kleinen Moment erschreckte, um sogleich eine angenehme Wärme auszustrahlen. Der Gedanke, ich sei schlichterweise verrückt. Ein kleiner Irrer! Kein Wahnsinniger, der Blut an die Wand schmiert, nur ein Mann, der hin und wieder ein wenig phantasiert. Und sicher nicht der erste, der sich einbildet, ein Außerirdischer zu sein.

Ein Gefühl der Klarheit überkam mich. Und der Freiheit. Ich hatte mir das alles nur eingebildet, diese sechs Jahrhunderte meines Lebens als Xler, als ein Mann, der Nachrichten aus Wassergläsern empfing. Völliger Blödsinn! Ich hatte nie einen Archaeopteryx gestohlen, sowenig wie ich in Wien gewesen war und einen unschuldigen kleinen Bäcker umgebracht hatte. Kein Picasso, keine Claire, kein aus Wasserflüssen zusammengesetztes schwebendes Vehikel. Nur das Leben eines Mannes, der eine unbedeutende Kulturzeitschrift herausgab und im übrigen halt ein bißchen plemplem war. Und dessen größte echte Sorge wahrscheinlich darin bestand, daß seine Frau so gern zum Schifahren ging.

Sicher, der Streit mit den vier Arabern war tatsächlich geschehen. Aber dies bedeutete nur, daß ich versucht hatte, auf rabiate Art meinem Wahn zu entkommen, als selbiger sich zugespitzt hatte und zu einer Bedrohung meines Geistes geworden war. – Jetzt war ich ihn endlich los, als hätte ich einen Parasiten aus mir herausgerissen. Mit einem einzigen heftigen Griff hatte sich die Sache erledigt.

Ja, das klang ein wenig einfach. Aber auch das Einfache hat seinen Platz in der Welt, sagte ich mir.

Ich nahm Marittas Kopf von meiner Schulter und lehnte ihn sachte gegen das Kissen. Mir war nach Bewegung. Und mir war nach einem Schluck Alkohol. Es handelte sich hier um ein großes Flugzeug, so groß, daß selbst eine Bar Platz hatte (auch Bars sind Teil der Natur, sie wachsen an für sie günstigen Orten).

Während ich an Maritta vorbeiging, blendete mich etwas. Dieses Etwas war an ihrer Hand, an ihrem Finger: ein Ring. – Nun, das war ein Problem. Woher hatte ich das Geld gehabt, um einen solchen Ring zu ersteigern? Oder war er gar nicht so wertvoll, wie ich glaubte? Mitnichten aus dem Besitz der Monroe stammend? Eher aus dem Besitz meiner Familie? – Meine Familie? Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Gut, das mußte nichts bedeuten. Vergeßlichkeit und Verdrängung waren wohl kaum das Privileg von Außerirdischen.

Ich betrat eine wirklich hübsche Bar, die da quasi aus dem Boden des Flugzeugs sich entfaltet hatte. Rotes Holz und weißes Glas. Eine oval geschwungene Theke, hinter der eine junge Frau stand, die eine steife beige Bluse trug und ihr Haar in der Art eines Muschelgehäuses hochgesteckt hatte. Als sei sie ein Einsiedlerkrebs, die Frau.

Leider war es etwas zu hell, aber das gehörte wohl zu den Sicherheitsvorschriften. Außer mir standen nur noch zwei andere Männer an der Bar und unterhielten sich. Ich setzte mich auf einen der festgeschraubten Hocker und orderte einen Martini. Durchaus im Bewußtsein, daß die Bestellung dieses Getränks stets eine unfreiwillige Komik beinhaltete.

Natürlich fragte mich die junge Barkeeperin nicht, ob ich den Martini denn geschüttelt oder gerührt haben wolle, sodaß ich auch nicht Casino-Royale-gemäß erwidern konnte, ob ich denn so aussehe, als würde mich das interessieren. Immerhin erkundigte sie sich nach der Olive. Olive oder Zitronenscheibe? Erstaunlicherweise verunsicherte mich die Frage. Mir kam es plötzlich so vor, als wäre jetzt äußerst wichtig, die richtige Antwort zu geben. Richtig inwiefern? – Ich fühlte mich außerstande, die magische Bedeutung einer Olive zu erkennen. Eine Bedeutung, die jedoch mit Sicherheit besteht.

Indem ich nun aber stumm blieb, meinte die junge Frau die Entscheidung für mich treffen zu müssen und servierte mir den Martini mit einer Zitronenscheibe. Ich lächelte sie ängstlich an, als sei sie eine verquere Art von guter Fee.

»Glaubst du im Ernst, damit durchzukommen?«

Es war nicht die »gute Fee«, die gesprochen hatte. Die Stimme kam von der Seite. Eine Frau hatte sich neben mich gesetzt. Sie bestellte einen Espresso und einen Aschenbecher. Auf den Hinweis der Barkeeperin, daß im gesamten Flugzeug ein Rauchverbot bestehe, beugte sich die Frau leicht vor und meinte: »Schätzchen, was wollen Sie dagegen tun, wenn ich mir jetzt eine Zigarette anzünde? Mitten in der Nacht? Alle Kinder sind im Bett. Niemand wird mich verraten. Oder wollen Sie vielleicht zu Ihrem Captain laufen und ein bißchen petzen?«

»Darum geht es nicht«, sagte die Barkeeperin.

»Stimmt. Es geht darum, daß ich jetzt sofort mein Quantum Nikotin nötig habe, weil ich sonst ganz unausstehlich werde. – Tun Sie, was Sie wollen, rufen Sie Ihren Skymarshal, aber stellen Sie mir endlich einen Aschenbecher hin. Ich habe keine Lust, das Erdnußbeige dieses Spannteppichs zu versauen.«

Die Barkeeperin überlegte kurz, dann brachte sie eine Untertasse und sagte so leise wie eindringlich: »Wäre es möglich, nur diese eine zu rauchen?«

Die Frau zündete sich ihre Zigarette an, blies einen schönen geraden Strahl über das Oval der Theke und meinte: »Von mir aus, Schätzchen. Wenn Sie sich dann besser fühlen.«

Die beiden Männer sahen kurz herüber, widmeten sich aber gleich wieder ihrem Gespräch. Sie gehörten nicht zu denen, die sich mit einer solchen Domina anlegen wollten.

Keine Frage, ich hätte auch allzugerne darauf verzichtet, mich mit ihr unterhalten zu müssen. Doch daran führte kein Weg vorbei. Die Frau, die hier saß und in der Art eines schlanken und eleganten Alptraums die Luft verpestete, war Claire – und ich also doch nicht verrückt. Wie traurig, wie unendlich traurig!

Sie sah mich mit ihren grau und violett schimmernden Perlenaugen von der Seite her an und wiederholte die Frage, wie ich mir das eigentlich vorgestellt habe. Mich auf die blödsinnigste Weise in eine Bredouille zu befördern, eine Schlägerei heraufzubeschwören, um solcherart meiner Verpflichtung zu entgehen.

»Dachtest du im Ernst«, äußerte Claire mit einer Stimme von großer Voltzahl, »daß wir das einfach akzeptieren? Und zu allem Überfluß hast du auch noch Staatsgelder veruntreut. Schon möglich, daß, wenn du brav deinem Auftrag nachgekommen wärst, man über diese sentimentale Geschichte mit dem Ring für deine Frau hinweggesehen hätte. Aber so? Ich bitte dich! – Ich hätte große Lust, dich auf der Stelle zu erwürgen. Und du weißt, daß ich dazu sowohl befugt als auch in der Lage wäre. Aber angesichts dessen, daß die Zicke dort drüben schon wegen einer einzigen Zigarette nervös wird, muß ich es wohl auf später verschieben.«

»Du hast mich die ganze Zeit beobachtet?«

»Na, Gott sei Dank, muß man sagen. Sonst hätten wir den Start verschieben müssen. Eine Verschiebung zieht immer die nächste nach sich. Man hinkt von Anfang an hinterher. Und wer bitte möchte bei einer fünfzehnjährigen Durchquerung des Sonnensystems hinterherhinken? Als ich sah, wie du da im Restaurant einen Streit vom Zaun gebrochen hast, war mir sofort klar, was du im Sinn hast. Alter Bastard!«

Claire schilderte, wie sie augenblicklich nach oben gegangen und in mein Zimmer eingebrochen war, um die Tasche mit den beiden Objekten an sich zu nehmen.

»Wegen dir«, hielt sie mir vor, »mußte ich mitten in der Nacht durch den Schnee stampfen. Sehe ich so aus, als sei ich dafür geboren?«

Ich konnte nicht anders. Anstatt die Frage als die rhetorische zu akzeptieren, die sie war, blickte ich hinunter auf Claires lange, dünne, bereits etwas knochig zu nennende Beine, die in sehr schmale und sehr rote und sehr luftige Spangenpumps mündeten, mit deren hohen Absätzen man den Schnee vielleicht quälen oder schwer verletzen, doch sicher schlecht überwinden konnte.

Ich bemühte mich um eine Gelassenheit, die zu meinem olivenlosen, jedoch zitronenbesetzten Martini paßte, und sagte ihr: »Aber du hast es ja offensichtlich geschafft.«

»Denkst du, du könntest dich retten, indem du frech wirst?«

»Ich bin nicht frech, ich stelle nur fest, daß im Grunde alles gut ausgegangen ist. Niemand auf diesem Raumschiff braucht mich. Das Gemälde und der Vogel jedoch sind an Bord. Ich selbst wäre bloß ein unnötiger Esser gewesen.«

Sie fragte mich, ob ich Fieber hätte. Die da oben – und dabei zeigte sie in die ungefähre Richtung von X – würden toben, wenn sie erführen, was geschehen war. »Wahrscheinlich«, kündigte Claire an, »wird man beschließen, dich liquidieren zu lassen. Dich und deine kleine Frau. Hast du vergessen, daß ein Agent erster Klasse nicht einfach ausscheren kann? Nicht einfach in Rente gehen kann, wenn’s ihm paßt? Und am allerwenigsten am Höhepunkt seiner Karriere. Du hättest ein Held werden können. Jetzt, mein lieber Soonwald, wirst du es maximal zum toten Mann bringen.«

Ja, sie hatte recht. Ich hatte mir das alles nicht genau überlegt. Nicht genau überlegen wollen.

Dennoch erklärte ich warnend: »Laß die Finger von meiner Frau!«

»Oha! Meinst du wirklich, ich würde das entscheiden, welche Finger hier wen oder was anfassen werden?«

»Du könntest mir helfen, wenn du willst.«

Claire schenkte mir einen chirurgischen Blick und sagte: »Vielleicht. Aber warum sollte ich? Beinahe hätte ich mir in dem blöden Schnee die Beine gebrochen.«

Ich schaute noch einmal an ihr hinunter und urteilte: »Deine Beine sind eins a.«

»Was soll das jetzt?«

Ja, was sollte das? Glaubte ich wirklich, damit die Sache zum Guten wenden zu können? Durch ein Lob der Beine?

Ich richtete meinen Blick auf und bot ihr an: »Sag mir einfach, was du von mir verlangst. Was ich tun soll. Und da gibt es doch sicher einige Dinge, oder?«

»Ich kann gute Männer immer gebrauchen«, meinte Claire. »Und du bist ja eigentlich ein guter Mann. Dumm nur, daß du dein Herz an die Erde und an die Menschen verloren hast.«

»Du denn nicht?« fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

»Wie kommst du drauf?« Claires aufmerksamer Chirurgenblick verwandelte sich in den mitleidlosen einer Anästhesistin. »Für mich sind die Menschen wilde Tiere, die eher zufällig in die Kultur hineingeraten sind. Was ihnen nicht viel gebracht zu haben scheint. Es besteht die pure Schizophrenie. Affen, die sich rasieren, Gänse, die sich schminken. Wir würden sagen, die Menschen fressen wie die Schweine, aber sie tun es mit Besteck. Wobei sie dieses Besteck gleichsam einer Waffe in den Händen halten. So tot kann ein Steak gar nicht sein, daß es nicht aussieht, als würden sie es noch toter machen wollen. Wenn Menschen telefonieren, könnte man meinen, sie versuchten entweder eine weit entfernte Person zu erschießen oder sich selbst oder beide. Hebt einer einen Kugelschreiber hoch, entsteht der Eindruck einer Messerattacke. Die Menschen sind kaum in der Lage, über das Prinzip der Bewaffnung und des Kampfes hinauszudenken. Wenn sie es sich leisten können, Kunst anzuhäufen, dann tun sie das mit dem Herzen eines Kriegsherrn. Sie wollen ihre Feinde mit dieser Kunst plattfahren.«

»Und die Musik?« fragte ich eingedenk des Umstands, daß die gute Claire scheinbar eine gewisse Liebe zur Zweiten Wiener Schule entwickelt hatte.

»Die Musik ist überhaupt das Schlimmste. Entweder ist sie barbarisch – nehmen wir nur die Rolling Stones, Musik von Barbaren für Barbaren; ein dummer, obszöner Zwerg, der wie ein elektrifiziertes Huhn über die Bühne hüpft und ein masochistisches Publikum anschreit; und ich will mir gar nicht vorstellen, dieser Mann könnte einer von uns sein und noch ein paar hundert Jahre sein Unwesen treiben. Oder aber die Musik ist die Bombe der Privilegierten gegen die Unterschicht, und Opern und Konzerthäuser sind Raketenabschußrampen.«

»Schön ist diese Musik dennoch«, wandte ich ein. »Und es sind Menschen, die sie komponiert haben. Schubert war ein Mensch. Schönberg war ein Mensch.«

»Ich glaube nicht, daß die beiden als Menschen viel wert waren. Kleinmütig, verbittert, inkonsequent. Aber offensichtlich sind einige dieser Kleinmütigen, Verbitterten, Inkonsequenten in der Lage, wohlklingende Töne hervorzubringen.«

»Himmlische Töne«, sagte ich. – Wobei erwähnt werden muß, daß auf X die Musik eine sehr viel geringere Bedeutung besitzt. Sie gilt als reines Ornament, als Untermalung im Film und im Supermarkt, als Begleitung sich öffnender Aufzugtüren und sich schließender Backrohre. Und was wir vom Gesang der Vögel halten, brauche ich hier ja nicht mehr auszuführen.

Es war offensichtlich, wie unterschiedlich Claire und ich das Wesen der Menschen beurteilten, wenngleich ich zugeben muß, daß eine kriegerische Note tatsächlich tief in der menschlichen Psyche steckt, sie dominiert. Aber ich erkenne neben dem Krieger und der Kriegerin eben auch den Kulturmenschen, ich erkenne das Bedürfnis nach Harmonie, nach einer Veredelung des Geistes und nicht nur nach einer Veredelung der Granaten.

Meine Vermutung war, daß Claire bloß darum so sprach, weil sie in den Jahrzehnten, die sie auf der Erde zugebracht hatte, der Musik gnadenlos verfallen war. Gerade jener Musik, die allgemein als schwierig galt. Ihre Verachtung für die Rolling Stones war sicher echt, doch mindestens so groß war ihre Liebe zu den Neutönern. Das paßte zu ihr, diese ausgeprägte Arroganz des Artifiziellen. Hinwendung zu einer Musik, die im herkömmlichen Sinn gar nicht verstanden werden wollte, schon gar nicht von den selbsternannten Musikliebhabern, sondern nur von Leuten, für welche Liebe und Verstand ineinandergriffen. Man sah Claire diese Haltung sogar an, wenn sie eine Zigarette rauchte. Das war nicht nur einfach mondän, sondern zudem elaboriert. Sie rauchte so, als begreife sie jeden chemischen und sonstigen Prozeß, der damit einherging, und als verstehe sie es zugleich, sich selbst in ein perfektes Verhältnis zu diesen Prozessen zu setzen. Ohne sich dabei von einer dahergelaufenen Stewardeß als Barkeeperin aus dem Konzept bringen zu lassen.

Claire äußerte, sie hätte in Wien einen Job für mich. Sie benötige jemanden, dem sie wirklich vertrauen könne und welchem sie nicht ständig auf die Finger klopfen müsse. Diese Fingerklopferei nerve sie zusehends.

»Das kann ich verstehen«, sagte ich, »aber denkst du im Ernst, ausgerechnet ich sei verläßlich?«

Claire schenkte mir einen Honigblick, in dem ein jeder Löffel rettungslos steckengeblieben wäre, und meinte: »Ich gehe davon aus, daß du nicht so blöd bist, ein weiteres Mal zu versuchen, 200000 Dollar auszugeben, die dir nicht gehören.«

»Stimmt«, sagte ich. »Wahrscheinlich hätte ich Skrupel. Aber das ist eine Sache. Eine andere ist, daß ich nicht nach Wien will. Ich fühle mich wohl in Botnang.«

»Na und? In Botnang kann ich dich nicht brauchen, Soonwald.«

»Meine Frau…«

»Das interessiert mich nicht. Da mußt du selbst zusehen, wie du das arrangierst. Bedenke die Alternative! Wenn ich darauf verzichte, dich zu decken, also denen da oben nicht irgendeine Geschichte auftische von wegen höherer Gewalt, dann wird es für dich und deine Frau keine Zukunft geben. Auch nicht in Botnang. – Gott weiß, was du an den Schwaben findest. Jede Nudelsuppe hat mehr Esprit als dieses Völkchen.«

»Dann verstehe ich nicht, wieso du in Singen eine Diskothek führst.«

»Ich sagte nicht, die Schwaben seien ohne Bedeutung. Sie verfügen über einige Macht in der Welt. – Doch Macht braucht keinen Esprit.«

»Und in Wien?«

»Ich denke, die Wiener sagen sich, daß der Esprit zwar keine Macht verleiht, trotzdem das Leben versüßt.«

»Auch eingebildeter Esprit?«

»Wieso? Gibt es einen anderen? Ich meine, hier auf der Erde.«

Ich vermied es, weiter dieses Thema zu behandeln. Ich wollte bloß wissen, an welche Art von Job Claire für mich dachte. Und fügte auch gleich an, daß ich ganz sicher nicht bereit wäre, mich als Killer oder Schläger zu verdingen.

»Das käme mir nie und nimmer in den Sinn«, versicherte sie. »Auch wenn ich gesehen habe, daß du so was bestens hinkriegst. Siehe Nix. – Aber ich weiß schon, du fühlst dich als ein Schöngeist.«

»Ich bin einer«, sagte ich so fest und gerade, als sei ich mittels dieses einzigen Ausspruchs in der Lage, mich und meine Frau und auch gleich das Bürgerblatt zu retten.

»Gut so«, meinte Claire. »Genau aus diesem Grund, wegen dieser Schöngeisterei, möchte ich dir die Leitung eines Restaurants übertragen, das wir Ende dieses Jahres in Wien eröffnen werden.«

»Wer ist wir?«

»Na, Wir-wir«, sagte Claire und schielte nach oben, Richtung Plafond, meinte aber natürlich erneut X.

»Was erhofft man sich davon?«

»Lieber Himmel, Soonwald, stell dich nicht blöd. Ich rede von einem Restaurant, in dem die Elite der Stadt verkehren wird. All diese Menschlein, die meinen, sich ihren Einfluß und ihr Geld redlich verdient zu haben. Und die dann also in den Luxusrestaurants dieser Welt zueinanderfinden und stolz von den begangenen Verbrechen schwärmen und von den zukünftigen laut träumen. Es ist nicht nötig, irgendwelche Wanzen in Botschaften und Regierungspalästen zu installieren, wenn man die Kontrolle über solche vergoldeten Wirtshäuser besitzt. Dort wird ganz offen gesprochen. Selbst vor dem Personal, das man für absolut loyal hält. Was es auch sicher ist. Nur, daß diese Loyalität uns gilt. Den Agenten erster Klasse.«

Ich ersparte mir, nach dem eigentlichen Zweck einer solchen Überwachung zu fragen. Das Bedürfnis nach Kontrolle ist auf X noch stärker ausgebildet als auf der Erde. Kontrolle ist bei uns ein Trieb. Seit jeher. Und einige unserer kritischen Denker meinen darum, daß unsere Unfähigkeit, die Vögel unter Kontrolle zu halten, weniger auf einem Fluch beruhe, als einen evolutionär bedingten Kontrapunkt zu unserem Kontrollwahn darstelle. Doch wer mag schon – hier wie dort – auf kritische Denker hören?

Nun, das war nicht mein Thema. Mein Thema war, daß ich nicht nur keine Lust hatte, nach Wien zu gehen – und auch gar nicht gewußt hätte, wie Maritta zu etwas Derartigem zu überreden war–, sondern daß ich zudem von einer starken Abneigung gegen genau jene Kreise beseelt war, denen ich in einem solchen Restaurant begegnen würde. Ganz abgesehen davon, daß ich nicht die geringste Erfahrung im gastronomischen Gewerbe besaß. Es ist ja schon erwähnt worden, daß sich meine Kochkunst in der Regel auf die Zubereitung einfachster Nudelgerichte beschränkte. Nein, ich war in jeder Hinsicht ungeeignet, ein Restaurant dieser Gattung zu führen. Somit einen Gegenstand zu betreuen, der meine zentralen Punkte Verstand, Herz und gute Laune ins Groteske und Abartige verkehrte. Die gute Laune war an solchen Orten die gute Laune der Kriegsgewinnler. – So sagte ich das auch.

Claire verzog das Gesicht zu einer verbogenen Sicherheitsnadel und erklärte: »Niemand wird verlangen, daß du diese Leute liebst. Noch persönlich für sie kochen mußt. Ich benötige nicht deine Fähigkeiten als Edelgastronom, sondern die eines Agenten erster Klasse, der du ja nun mal bist. Den Rest laß meine Sorge sein. Sobald ich dich in diese Stadt einführe, wirst du augenblicklich eine bekannte Persönlichkeit sein. Und kein Mensch wird sich darum kümmern, ob du ein Stück Fleisch vom anderen unterscheiden kannst. Oder meinst du, die Gäste in solchen Restaurants wären dazu in der Lage? Gleich wie gelackt sie daherreden. – Merk dir eins, Soonwald, in Wien sind alle – Aristokraten wie Arbeiter, Manager wie Künstler, vom Hausmeister bis zum Universitätsprofessor, von der Nutte bis zur Stadträtin –, sind alle Proleten. Vergiß das nie! Proleten, die mitunter Esprit besitzen…na, wenigstens die Nutten, wenn schon nicht die Stadträtinnen.«

»Und was genau ist das, ein Prolet?« fragte ich.

»Ein Bauer ohne Land«, antwortete Claire.

Jetzt hätte ich fragen können, was ein Bauer sei. Ein Trottel mit Land? Ich selbst kann auch nicht behaupten, eine Vorliebe für die bäuerliche Kultur zu besitzen. Ein brutales Volk, brutal gegen die Natur, brutal gegen Tier und Mensch. Meine Liebe gilt dem Kleinbürgertum. Jedenfalls hatte ich meine Schwierigkeiten, mir ganz Wien als eine Hochburg landloser Bauern vorzustellen.

Ich stand da und fühlte mich hilflos. Hilflos gerade dadurch, gar nicht erst viel nachzudenken zu brauchen. Ich war ohne Wahl. Ich würde Botnang aufgeben müssen, wahrscheinlich sogar Maritta – ein nur schwer erträgliches Opfer, weil ja meine ganze gewagte Aktion vor allem darin begründet gewesen war, diese Frau nicht verlassen zu müssen.

»Ich glaube«, sagte Claire, »ich rauche jetzt doch noch eine. Das wird dieses Flugzeug schon aushalten. Am Ende der Zigarette, Soonwald, möchte ich deine Entscheidung hören.«

»Pest oder Cholera. Leben in Wien oder Sterben in Botnang.«

»Richtig, Soonwald, die Wiener haben es irgendwie mit der Pest. Es ist ihre historische Lieblingskrankheit. Sie werden ganz sentimental, wenn sie über die Zeiten der Pest reden, die sie ja wegen ihres geringen Lebensalters gar nicht haben miterleben können.«

Nun, das war ein ganz grundsätzliches Problem der Menschen: daß sie vor allem im Bewußtsein dessen existierten, was sie nie am eigenen Leib erfahren hatten. Fast jeder in Deutschland und Österreich schien sich noch unter dem Eindruck der Nazizeit zu befinden, aber nur die wenigsten konnten eine konkrete Erinnerung anführen. Leute fühlten sich schuldig oder betonten umgekehrt ihre Unschuld, als wären sie leibhaftig Teil dieser Geschichte gewesen. Andere pochten geradezu auf einer Opferrolle, als seien sie ihre eigenen Großeltern. Manche Menschen wiederum beschrieben mit geradezu wehmütiger Eindringlichkeit die Fünfzigerjahre, obwohl sie erst Anfang der Sechziger auf die Welt gekommen waren. Einige taten so, als hätten sie die Malerei bei Gustav Klimt erlernt und das Autofahren in einem Mercedes Silberpfeil. Für einen uneingeweihten Außerirdischen mochte es so aussehen, als seien auch Menschen langlebige Wesen, die höchstpersönlich ihre Tausendjährigen Reiche durchwanderten. Doch in Wirklichkeit fußte fast das gesamte menschliche Bewußtsein auf einem nie gelebten Gestern und der schmerzlichen Unerfahrung einer viel zu fernen Zukunft.

Claire rauchte. Die Barkeeperin wandte sich mit einem tiefen Seufzen zu ihr hin.

»Schätzchen, bitte«, säuselte Claire. »Ersparen Sie mir die Peinlichkeit, Ihnen zu erklären, wer ich bin. Und daß, wenn ich möchte, Sie Ihren hübschen kleinen Hintern nie wieder in dieses Flugzeug hineinbekommen.«

Die Barkeeperin schloß ihre Augen wie unter dem Einfall jener Lampen in Zahnarztpraxen, verdrehte wahrscheinlich hinter den Lidern ihre Augen und kehrte uns blind den Rücken zu.

Ich sagte zu Claire: »Ihr Charme ist umwerfend, gnädige Frau.«

»Sehr schön, wie du das sagst: Gnädige Frau. Du bist absolut zum Wiener geboren.«

Ja, da konnte sie sogar recht haben. Zumindest war es eine erträgliche Vorstellung, daß mein Gang nach Wien nicht nur auf einem Befehl basieren würde, sondern zudem eine innere Logik besaß, eine Wurzel, eine Formel, eine Gesetzmäßigkeit, welche quasi physikalischen Ursprungs war.

Ich wartete noch einen Augenblick, wie der Schlaflose auf das Läuten des Weckers wartet, dann nickte ich. Das genügte. Claire lachte kurz und lautlos, drückte ihre Zigarette aus und rutschte in einer vollendeten Drehung – ein kleines Gedicht ihrer aus der Verschränkung sich lösenden Beine, wie von Stefan George – vom Hocker.

Sie wies mich an, spätestens in drei Wochen in Wien zu sein. Wobei sie es gerne sehen würde, könnte ich meine Frau überzeugen, mitzuziehen. Alleinstehende Männer seien immer ein wenig schwierig, tendierten zur Lausbüberei, zu Unmäßigkeiten und Momenten der Einfalt. Eine präsente Ehefrau sei bestens geeignet, selbst noch im Streit, einem Mann den nötigen Halt zu geben.

Das war ein Punkt, in dem ich meiner zukünftigen Chefin absolut beipflichtete.

So gingen wir also beinahe einträchtig auseinander.

Ich sah ihr hinterher. Ich wußte übrigens, daß, wenn sie gewollt hätte, sie mich sehr wohl auf der Stelle hätte eliminieren können. Trotz Zeugen. Sie besaß eine Macht, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt war.

Doch offenkundig nützte ich ihr lebend mehr als tot. Was ja meistens der Fall ist. Vielleicht würde es mir einmal leid tun, den Wiener Bäcker Nix umgebracht zu haben. Jetzt, wo ich begriff, wie sehr diese Stadt den Dreh- und Angelpunkt einer von außerirdischer Dämonie beherrschten Welt bildete.

Zurück auf meinem Sitz, plazierte ich Marittas Kopf wieder auf meiner Schulter. Sie stöhnte leicht auf. Ich strich ihr über das Haar. Sie ließ es bereits färben, das Haar. Mein Gott, ich würde es auch lieben, wenn es einmal vollständig grau wäre. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Ich fürchtete das eigene Alter, aber mitnichten das Alter meiner Frau.

Noch ein Blick aus dem Fenster. Tiefes, dunkles Blau und in der Mitte ein dünner roter Streifen. Natur als geometrische Phrase. Die Welt erwachte.

Ich schlief ein.