Epilog

Daß ihm seit seinem Infarkt die linke Seite fehlte, war Lorenz nie wirklich aufgefallen. Er hatte es nur gewußt, wie man weiß – oder wie man lange Zeit geglaubt hatte zu wissen –, Pluto sei unbewohnt. Was Lorenz nun aber sehr wohl bemerkte, war der Umstand, praktisch mit seinem Weggehen aus Wien wieder über genau diese linke Seite zu verfügen. Ihm kam es vor, als müßte er plötzlich nicht durch zwei, sondern durch vier Augen schauen. Er sah Oslo gewissermaßen doppelt.

Solcherart empfand er einen Zustand permanenter Betrunkenheit. Unfähig, sich auszunüchtern. Und ohne sagen zu können, wie das hatte geschehen können. Denn es versteht sich, daß Lorenz den neuen alten Zustand keineswegs als Heilung begriff. Auch war es mehr als eine Koketterie, wenn er dachte, daß nur ein erneuter Infarkt ihn aus der Not schwindelerzeugender Doppelsichtigkeit würde befreien können.

Ebenso versteht sich, daß er dem Ort, an dem er nun lebte, Oslo, mit einiger Abneigung begegnete. So unsinnig es sein mochte, eine Stadt dafür verantwortlich zu machen, die Welt überflüssigerweise vieräugig zu sehen, Lorenz tat es trotzdem. Und übertrug sein Vorurteil auf sämtliche Bereiche der norwegischen Kultur. Für ihn waren die Norweger eine »Bagage von Neureichen«, deren vielbewunderter Hang zur Sachlichkeit nach seinem Dafürhalten bloß ein Merkmal ihrer Charakterlosigkeit darstellte.

Obgleich Lorenz Norwegisch erlernt hatte, wendete er es so gut wie nie an, sondern führte seine Gespräche in Englisch, dessen hier stark verbreitete Nutzung er als ein weiteres Indiz für die Rückgratlosigkeit dieses Volkes heranziehen konnte. Kein Wunder also, daß er auf die rührseligste Weise an Wien dachte, in einer praktisch neglectischen, einseitigen Manier. So interpretierte er etwa die in der Regel eher dürftigen Englischkenntnisse der Wiener als Beweis für deren Standfestigkeit, als Beweis für eine kulturelle Trotzhaltung wider die schleichende Invasion neoliberaler Welteroberung. Ja, Lorenz verfiel in das Schwarzweiß einer verklärten Vergangenheit und dämonisierten Gegenwart.

Dabei war seine Situation nicht die schlechteste. Er lebte zusammen mit Sera in einem Haus in der Huitfeldts gate. Zu ebener Erde führte er auch hier ein Strickwarengeschäft. Er hatte den Laden von einem Händler für Golfausrüstung übernommen und ihn sodann umbauen lassen. Allerdings mit sehr viel weniger Begeisterung und Sorgfalt wie im Falle von Plutos Liebe. Eigentlich hätte er sein neues Geschäft Plutos Haß nennen müssen angesichts dessen, wie er mitunter die Kundschaft behandelte. Für ihn waren die Norwegerinnen eine Kreuzung aus Killerwespe und Gefrierschrank, übrigens sehr im Unterschied zu den Finninnen, die manchmal hier einkauften. Aus irgendeinem verqueren Grund galt nämlich sein Laden unter finnischen Touristinnen als kultiger Geheimtip. Wenn eine Finnin erschien, kehrte Lorenz zu jenem Charme und jener umfassenden Attraktivität zurück, die einst aus der Konversion eines Pornodarstellers zum Kleingewerbler erwachsen war. Bei allen anderen Kundinnen jedoch wirkte er düster und verloren und misanthropisch, weder ein Meister der Wolle noch ein Diener der Frauen. Und es war allein Sera zu verdanken, daß das Geschäft überhaupt funktionierte. Aber auch sie wünschte sich…nun, sie konnte es so nicht aussprechen, gleichwohl kam es schon mal vor, daß sie dachte, ein zweiter Infarkt, natürlich in der Art des ersten, wäre kein Schaden.

In der Etage über dem Geschäft hatten die beiden eine Wohnung, während sich im letzten Stockwerk Claire Montbard eingerichtet hatte. Und zwar in aller Bescheidenheit, was nun weniger die Einrichtung betraf, sondern ihre Stellung in der Osloer Gesellschaft. Man kann sagen: Claire Montbard hatte sich verkleidet. Sie wirkte jetzt weder mondän noch auserwählt, noch beherrschend, sondern erinnerte an eine trauernde Witwe, die ihre Trauer auch ernst nimmt und nicht etwa mit den Trauergästen herummacht. So gesehen, verhielt sie sich also recht ähnlich wie Lorenz, nur daß in ihrem Fall die Tarnung eine bewußte war. Sie war nicht depressiv, sondern einfach vernünftig. Sie wollte nicht auffallen, noch nicht. Sie wartete wohl darauf – wie das in der Politik so ist –, daß die Machtverhältnisse auf X sich änderten und Leute ans Ruder kamen, die nicht ihr, sondern etwa dem toten Soonwald die Schuld daran gaben, daß die »Wetterhäuschen« auf Pluto mittels einer simplen kleinen NASA-Sonde entdeckt worden waren. Claire Montbard verblieb somit in der bedächtigen Haltung einer verschleierten Hinterbliebenen und harrte ihrer erneuten Inthronisierung. Sie hatte ihre vierhundert Jahre noch vor sich, da würde ein Moment raffinierten Stillhaltens nicht schaden.

»Das Schönste an Oslo ist«, wiederholte Lorenz gerne, »daß hier so viele Gemälde von Edvard Munch hängen.«

Ja, Lorenz Mohn, der bisher der Malerei relativ leidenschaftslos gegenübergestanden war und eher ihre bildungsbürgerliche Notwendigkeit als ihren Einfluß auf die menschliche Psyche wahrgenommen hatte, also ihren Grundwert statt ihren Sexappeal, war bei einem seiner verzweifelten Spaziergänge durch die Stadt in das nahe der weißen Oper gelegene Munch-Museum geraten und hatte sich in die Bilder dieses frühen Expressionisten verliebt. Wie die meisten Menschen hatte er bis dahin bei Munch immer nur an den berühmten »Schrei« gedacht gehabt, der wie ein Markenzeichen menschlicher Verzweiflung fungierte, als wollte ebendiese Menschheit mittels eines solchen Bildes fernen Betrachtern mitteilen: Seht her, so dreckig geht es uns. Aber gleichzeitig sind wir in der Lage, unser Unglück in so schöne Bilder zu übertragen.

Lorenz war in dieses auf eine flughafenartige Weise schwer bewachte Museum mit dem Bedürfnis getreten, etwas Verrücktes zu tun, zum Beispiel einen Kugelschreiber zu nehmen und an einem der sündteuren, fast mehr von den Versicherungssummen als von den Bilderrahmen getragenen Gemälden eine liebevolle Schmiererei vorzunehmen. Etwa von der Sorte, wie es der zur Fahnenflucht bereite Xler Klaus Soonwald versucht hatte, indem er ein paar mit Norwegerpullovern kostümierte Araber angepöbelt hatte. Was ja auch von Erfolg gekrönt gewesen war. – Freilich, in jedem Erfolg steckt eine Niederlage. Wie in der Gesundheit die Krankheit steckt. Nur die Kranken können nicht mehr krank werden.

(Es wäre übrigens zu erwähnen, daß jener im August 2004 geschehene Raub des Gemäldes »Der Schrei«, damals aus dem noch an der Tøyengata gelegenen Museumsgebäude, im Auftrag eines X-Agenten erfolgt war. Nur, daß man sich unklugerweise auf die Fähigkeiten der Osloer Mafia verlassen hatte, wodurch das Bild erstens Schaden genommen und zweitens zum Spielball unverschämter Forderungen geworden war, so lange, bis es sich wieder glücklich in den Händen des norwegischen Staates befunden hatte. Auf diese Weise war den Leuten auf X klar geworden, daß man mit der Mafia keine Geschäfte machen konnte, sondern diese Berufsschurken mit aller Macht kontrollieren mußte. So, wie Claire Montbard es in Wien und im badischen Singen vorgemacht hatte. Und darum war es dann auch nicht der bekannte »Schrei« von Munch gewesen, sondern ein unbekannter rosa Picasso aus Singener Privatbesitz, der die Reise nach X angetreten hatte.)

Lorenz hätte also gerne ein kleines Attentat begangen, wie das Verrückte gerne tun. Aber er war ja gar nicht verrückt, sondern bloß wütend und traurig und schwermütig. Außerdem fehlte ihm ein Kugelschreiber, ein Feuerzeug, ein kleines Messer, irgendein Gerät, mit dem er die Attacke hätte vornehmen können. Einfach in ein Bild zu treten wäre ihm nun wirklich nicht in den Sinn gekommen. Solcherart in der Zwickmühle der Bedürfnisse und eingeschränkter Spielräume, wurde er nur noch bedrückter, fand jedoch gleichzeitig in der Kunst Munchs, vor allem in den frühen Arbeiten, eine wunderbare bildnerische Entsprechung zur eigenen Trübsinnigkeit. So ist das ja oft mit der Kunst. Sie bildet unser Leiden ab, und wir fühlen uns von ihr verstanden, als wäre sie unser bester Freund. – Ist sie wahrscheinlich auch.

Gleich bei diesem ersten Besuch war ihm ein Gemälde besonders aufgefallen: »Inger i svart og fiolett«, also: Inger in Schwarz und Violett. Darauf sieht man eine junge Frau, die Schwester des Künstlers, Inger Munch. Sie steht da, beinahe lebensgroß, die Hände verschränkt, ja eigentlich ist die ganze Person verschränkt: verschlossen und abwehrend, freilich auf eine sehr anziehende Weise. Die junge Frau auf diesem Bild demonstriert eine feste Würde sowie eine versteinerte – und nur darum halt- und erhaltbare – Zerbrechlichkeit, wie bei diesen schönen alten Vasen, die, nachdem sie zu Bruch gegangen und restauriert worden sind, im zusammengeklebten Zustand sehr viel robuster wirken also zuvor. Und es ja auch sind. (Zumindest geht man mit ihnen um einiges vorsichtiger um.)

Der Mund dieser Frau ist nicht bloß geschlossen, sondern ausgesprochen versperrt. Allein die Augen reden. Ganz in der Art einer Unberührbaren. Dergestalt, als bezweifle die Porträtierte den Sinn genau jener Malerei, welcher sie gerade zum Opfer fällt. Ja, sie ist ein Opfer, aber ein erhabenes, freies, distanziertes, eben ein unberührbares Opfer.

Für Lorenz jedenfalls war dieses Bild anbetungswürdig. Zudem fand er Gefallen daran, daß die Figur im gemalten Raum nicht zentral positioniert war, sondern etwas nach rechts verschoben stand, sodaß er sich – als der Leider-nein-Neglectiker, der er war – dennoch auf die »richtige« Seite konzentrieren konnte. Wobei es auf diese Weise passierte, daß er den linksseitigen, eher hingehauchten als gemalten Schatten der Frau übersah. – Es gab da übrigens eine biographische Note in Edvard Munchs Leben, die Lorenz besonders anzog, nämlich der Umstand, daß Munch von seiner Geliebten Tulla Larssen 1902 angeschossen worden war, wovon er eine Verletzung seiner linken Hand davongetragen hatte. Was ja sicher kein Spaß ist. Umsomehr, als Munch wohl auch eine zweite, imaginäre, tief ins Herz eindringende Kugel abbekommen hatte, die ein Leben lang durch dieses Herz gewandert war, im Stil einer Schraube. Doch die Verletzung der linken Hand bedeutete für Lorenz nun mal ein Symbol von großer Kraft.

Mindestens einmal in der Woche suchte Lorenz die Munch-Sammlung auf, schlenderte durch die vertrauten Räume, blieb einmal da, einmal dort stehen, filterte immer neue Details und Erkenntnisse aus den Bildern und kam sodann bei dem Porträt der schlanken, scheinbar ganz leicht über dem Boden schwebenden Inger zu stehen, nahm auf einer Bank Platz und verlor sich für eine halbe Stunde und mehr in der Betrachtung einer Frau, von der jemand einmal behauptet hatte, genau so hätte Lilli Steinbeck in ihren jungen Jahren ausgesehen. Aber wer war Lilli Steinbeck? Lorenz hatte keine Ahnung. Und wollte es auch gar nicht wissen, denn er verglich Inger gerne mit Sera, empfand die gleiche klare Schönheit, eine Schönheit, wie man sie von antiken Säulen kennt, die nichts außer sich selbst tragen.

Den Museumswärtern war Lorenz natürlich aufgefallen. Zu Anfang hatten sie ihn besonders im Auge behalten wegen seiner deutlichen Liebe zu diesem einen Bild. Doch nach und nach schien sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß die Leidenschaft dieses Besuchers für »Inger in Schwarz und Violett» keine gefährliche sein konnte. Nicht zuletzt war das Gemälde nicht bedeutend genug, wie eben der »Schrei« oder »Abend auf Karl Johan«, um ernsthaft ein Attentat zu provozieren. Man ließ Lorenz also in Ruhe herumsitzen. Welcher wiederum dem Museumspersonal in einer Weise zunickte, wie man das mit den Kellnern seines Stammrestaurants tut, ohne gleich in ein freundschaftliches Geplauder zu verfallen, weil man schließlich nicht zum Plaudern in dieses Restaurant kommt, sondern zum Essen.

Es war ein kalter, trüber Tag im Spätherbst, als Lorenz hoch zum Schloß spazierte, dort, wo ein König wie in einem Puppenhaus saß und sich beinahe wünschte, gestürzt zu werden, damit endlich etwas geschehe. Aber da hätte er schon nach Afrika gehen müssen. Hier, in Oslo, kam niemand auf die Idee, irgendwas oder irgend jemanden zu stürzen. Schon gar nicht in dieser Residenz, die aussah wie aus einem Ausschneidebogen. Auch Lorenz fragte sich oft: Was denkt sich so ein König? So ganz ohne die Macht, in den Krieg zu ziehen und töten und leben zu lassen, ohne die Möglichkeit, »Kopf ab!« zu schreien und ein wenig Furcht zu verbreiten. Klar, ein König konnte auch einfach ein netter Kerl sein, der hin und wieder seinem Volk zuwinkte. Doch dafür brauchte es ja eigentlich keinen König. Könige waren von Gott in die Welt gesetzt worden, um einen Schrecken zu vermitteln und schlußendlich gestürzt zu werden. Ein König als »netter Kerl« war ein Widerspruch, unsinnig und überflüssig. Und außerdem teuer, wie vieles Unsinnige und Überflüssige. Ja, fast schien es, als würde dieser armselige, von niemandem gehaßte (und, um ehrlich zu sein, auch von niemandem geliebte) König seine Daseinsberechtigung alleine daraus beziehen, ein teurer Spaß zu sein, den sich dieser Staat leistete.

Aber weil das Schloß nun mal gleich oberhalb der Huitfeldts gate lag, gehörte es zum Lorenzschen Donnerstagsritual, bei dem zweidimensional anmutenden Komplex vorbeizuschauen und eine Weile die beiden lebenden Zinnsoldaten zu betrachten, die nach einem strengen Plan die Front abschritten. Der Donnerstag war Lorenz’ freier Wochentag. Und obwohl er auch jeden anderen Tag hätte frei haben können, hielt er sich an diese Regel.

Schneefall hatte eingesetzt, zögerlich zuerst, auf eine hüstelnde Weise, wie jemand, der in der rücksichtsvollsten Weise sein Gegenüber auf eine, wie man so sagt, offene Hosentüre aufmerksam macht. Aber was nützt alle Rücksicht, wenn das Gegenüber zu dämlich ist, den Wink zu begreifen? Es dauerte nicht lange, da fiel der Schnee, getragen von einem heftigen Meerwind, in dicken Flocken zur Erde. Das Schloß, die Soldaten, der Park, die Touristen verschwanden hinter dem Geflirr der dahinschießenden Kristalle. Lorenz setzte sich seine Mütze auf, stellte den Kragen hoch, schloß den Mantel, stemmte sich gegen den Wind und bewegte sich zum Hafen hinunter, Richtung Oper.

Das Gestöber machte ihm schwer zu schaffen. Er war nicht mehr der Sportsmann früherer Tage. Dennoch ging er zu Fuß. Er wollte sich vom norwegischen Wetter nicht seine donnerstäglichen Gepflogenheiten nehmen lassen. Denn er haßte die Osloer Straßenbahnen, von der Metro ganz zu Schweigen. Da litt er lieber.

Als er endlich das Museum erreichte, war die Stadt weiß wie ihre Oper.

Die wichtigste aller Gepflogenheiten an einem Donnerstag ergab sich aus dem Besuch von Inger in Schwarz und Violett. Und als Lorenz nun – vom Winter geradezu durchgeprügelt – in die geliebten Hallen der Munch-Sammlung eintrat, empfand er eine warme Erregung. Nicht, daß er nicht auch an diesem Ort beseelt war vom Zustand des Verlorenseins, doch in Anbetracht der in ihrer Verschränkung maßlos schönen Inger brauchte sich Lorenz nicht mehr so alleine zu fühlen. Es muß nämlich gesagt werden, daß, obgleich Lorenz und Sera weiterhin das darstellten, was man ein »gutes Paar« nennt, Lorenz in diesen drei Osloer Jahren auch in seiner Ehe in einen Zustand der Einsamkeit geraten war. Er fühlte sich unverstanden, vor allem unverstanden, was die Qual betraf, wieder beide Seiten der Welt wahrnehmen zu müssen. Zudem unverstanden in seiner Ablehnung Oslos, umsomehr, als Sera, der es anfangs alles andere als egal gewesen war, praktisch über Nacht ihr Wien und ihre Wohnung und ihre Schwester aufgeben zu müssen, sich einerseits in der ihr eigenen gescheiten Art in das Unauflösliche eingefügt und in der Folge eine große Zuneigung für Oslo und die Osloer entwickelt hatte. Sie mochte den guten Geschmack, die hohe Bildung und die weltoffene Art dieser Leute. Und im Gegensatz zu Lorenz beging sie nicht den Fehler, zu meinen, sie sei es Wien schuldig, Oslo zu hassen. (Wobei gesagt werden muß, daß Wien genau zu jenen »almamahlerischen Damen« zählt, welche derartige Gefühlswallungen einfordern.) Dieser durchaus vernünftigen Einstellung Seras war es zu verdanken, daß sie ihrem Mann fremd geworden war. Obzwar in alter Liebe und Zuneigung fremd geworden, aber fremd bleibt fremd. Darum also Inger.

Bloß, Inger war nicht da!

Es bedeutete mehr als einen mächtigen Schrecken, den Lorenz ereilte, als er in den Raum trat und dort, wo üblicherweise das Porträt von Munchs Schwester hing, nun eine Lücke klaffte, die nicht gefüllt, sondern eher unterstrichen wurde von einem kleinen weißen Computerausdruck, ergänzt von der Unterschrift irgendeines leitenden Beamten, der die Entfernung des Bildes zu Restaurationszwecken verantwortete.

Als hätte man den unglücklichen Lorenz erwartet, standen zwei Museumswärter nahe der geleerten Wandfläche. Sie sagten nichts, betrachteten ihn nur in einer leicht vorgebeugten Haltung. Wie zum Sprung bereit. Vielleicht fürchteten sie doch noch eine Attacke.

Es war einer der seltenen Fälle, daß Lorenz die Landessprache benutzte, als er sich jetzt bei den beiden Männern nach dem Bild erkundigte. Der jüngere von ihnen gab die Antwort, und zwar in einem perfekten Englisch. Er versicherte, es handle sich nur um eine kleine Ausbesserung, nichts Dramatisches. Das Gemälde dürfte recht bald wieder an seinem alten Platz zu bewundern sein.

Lorenz dachte: So würden sie auch reden, wenn ein Atomkraftwerk brennt oder eine Bohrinsel auseinanderbricht.

Er fragte, wo das Bild jetzt sei.

Nun, in den Restaurationswerkstätten. Wo auch sonst?

Lorenz drehte sich um und ging. Der eine Wärter rief ihm nach, daß der Zutritt selbstverständlich verboten sei, er müsse sich gar nicht erst bemühen…

Lorenz gab ein verächtliches Geräusch von sich, als würde er einen kleinen Teil des eigenen Gehirns willentlich in Brand setzen. Ein zerebrales Kabinett, auf das er gerne verzichten konnte. – Obgleich vorsichtige Menschen jetzt einwenden würden, daß man nicht einfach ein Kabinett in Brand zu setzen vermag, ohne einen Großbrand zu riskieren.

Aber das war nicht der Moment für Kleinmut. Lorenz trat aus dem Ausstellungsbereich und bewegte sich hinüber zum Verwaltungskomplex der umfangreichen Einrichtung. Durch die Scheiben des langgestreckten Ganges schaute er hinaus. Es war nun nichts mehr zu sehen außer dem wirbelnden Schnee. Die Oper, das Meer, die Stadt, alles war verwoben im Strickmuster fließender weißer Fäden. Ein wenig so, wie es bei der Geburt der Welt gewesen war, pure Energie, sich ausbreitende Strahlung. Denn das darf man nicht vergessen, daß in den ersten Sekunden des Universums bereits die Oper von Oslo, das Meer vor Oslo, die ganze Stadt angelegt gewesen waren. Und angesichts dessen, wie es jetzt dort draußen zuging, schienen die Dinge wieder in das strukturlose, bloße Vorausgedachtsein des Urbeginns zurückzufallen.

Doch das interessierte Lorenz nicht. Er wollte zu Inger. Er geriet an eine unbewachte Kontrollschranke, eine erste Hürde, die er so leicht übersprang, als habe der alte Sportsgeist nur darauf gewartet, wieder zum Leben erweckt zu werden. Allerdings stellte sich sofort heraus, daß die Schranke nicht so dumm war, wie sie aussah. Eine Sirene ging los. Lorenz begann zu rennen, vorbei am Lift, hinein in ein Treppenhaus, in dem er sich rasch nach unten bewegte. Er vernahm aufgeregte Stimmen über sich, lief weiter abwärts, stieß dann aber eine unbeschriftete Türe auf und stürzte in einen Gang, dessen Beleuchtung automatisch ansprang. Er schien sich in einem Lager zu befinden, hetzte vorbei an Stapeln von Kartons, kam in weitere Räume, traf endlich auf einen Menschen, einen Mann, den er nach den Restaurationswerkstätten fragte. Der Mann fragte zurück, ob … Lorenz drängte ihn zur Seite und rannte weiter, erreichte erneut ein Treppenhaus, enger als das erste, nicht so blitzblank. Es war, als würde er sich in eine quasi schlechtere Gegend verirren. Und tatsächlich bestehen ja auch modernste Gebäude aus guten und schlechten Bezirken, aus Zentren und Peripherien, aus Wallstreet und Bronx, aus Ameisenhaufen und Wüsteneien. Aus hellen Sphären und dunklen Schlünden.

Lorenz befand sich nun eindeutig auf dem Weg in die dunklen Schlünde. Allerdings wähnte er sich falsch. Er meinte zu spüren, daß er sich von Inger entfernte. Ganz so wie in diesem Spiel, wenn Kinder durch das Ausrufen von »kalt« und »warm« und den betreffenden Steigerungen wie »Nordpol« und »Backofen« den mit verbundenen Augen Suchenden an die richtige Stelle dirigieren. Welcher Geist auch immer Lorenz dirigierte, er führte ihn aus den tiefgelegenen Etagen wieder heraus und leitete ihn nach oben, während Lorenz’ Verfolger den Eindringling im unterirdischen, tresorartigen Bereich vermuteten. Aus gutem Grund, da dort – vor der Öffentlichkeit noch geheimgehalten – eine fünfte Version des »Schreis« lagerte. Kein Wunder also, daß man einen Überfall nicht oben, sondern unten befürchtete und es sich im Zuge glücklicher Umstände (oder dank der weisen Führung eines guten, kindlich klugen, mit Hilfe von Temperaturangaben lotsenden Schutzengels) ergab, daß Lorenz und die schwerbewaffneten Sicherheitskräfte ungesehen aneinander vorbeiliefen.

Solcherart unbehindert, stieg Lorenz bis ins letzte Stockwerk hoch, wo er auf die Maxima »brennheiß«, »Wüstensand« und »Kernschmelze« traf. Beziehungsweise auf einen langen, fensterlosen Flur, weiße, leere Wände, helles, jeden Winkel ausleuchtendes Licht sowie einen silbergrauen Teppichboden, der absolut jedes Geräusch schluckte, selbst das der Klimaanlage, die Lorenz nur wegen der feinen Brise wahrnahm, die seine Stirn kranzartig einrahmte, seinen Schweiß geradezu abtupfte.

Niedrig und schmucklos, wie der Raum war, mutete er dennoch sakral an. Wohl auch darum, weil eine einzige Türe an seinem Ende einen logischen Abschluß bildete. Denn was wäre logischer als am Ende eine Türe? Dazu brauchte man nicht einmal richtig religiös sein. Freilich besteht das Wesen von Türen nicht zuletzt in ihrem zeitweiligen Verschlossensein. Daß diese Türe hier abgesperrt war, darüber war sich Lorenz so sicher wie über den Umstand, daß sich hinter ihr Inger in Schwarz und Violett befand.

Einen halben Meter vor der klinkenlosen Türe ragte aus dem sanften Silbergrau des Bodens eine metallene Säule, die in Hüfthöhe eine schräggestellte ovale Fläche bildete, auf der eine gläserne Tastatur die Ziffern 0 bis 9 aufführte. Die Null stand allein, sodann die üblichen Dreierreihen. Tastatur ist nicht ganz richtig. Vielmehr waren die Ziffern ohne jegliche Umrandung und so zart wie dünn auf die Glasplatte aufgedruckt oder hineingraviert worden. Lorenz dachte mit einiger Wehmut an die guten, alten Telefone mit ihren Drehscheiben und an echte Schreibmaschinen mit echten Tasten, die man noch hatte anschlagen müssen, während die Geräte heutzutage bereits auf jede zaghafte Annäherung zu reagieren schienen. Das war ja nicht zuletzt der Grund, daß so viel Geschriebenes in der Welt umging. Die Tastaturen der Handys und Computer verhielten sich gleich Katzen, die sich unter einer Berührung winden, die gar nicht stattfindet, sondern bloß als Andeutung oder Vorhaben besteht.

Aber abgesehen von dieser gewissen Aversion gegen das neumodische Zeug war Lorenz ohnehin nicht in der Lage, einen bestimmten Code zu wählen. Wie denn auch?

Er erstarrte in Ratlosigkeit. Hier waren weder Mut noch Wahnsinn gefragt. Hier war keine Brücke, von der man springen konnte. Niemand, der sich von einer Kaltblütigkeit beeindrucken ließ oder den eine poetische Phrase rührte. Zudem fürchtete Lorenz zu Recht, daß die Sicherheitsleute demnächst auf die Idee kommen würden, auch mal ganz oben nachzuschauen. Nicht, daß er Angst hatte vor den rechtlichen Folgen, seine Angst war allein die, Inger nie wieder zu sehen.

Mit hängenden Schultern stand er da und stierte auf den Boden. Auf diese Weise fiel sein Blick zufällig auf die verschmähte Seite, dort, wo seine linke Hand gleich einer vertrockneten Rebe aus dem Ärmel heraushing. Im ersten Moment meinte Lorenz auf seinem Handrücken eine Verletzung zu erkennen, so eine, wie sie vielleicht der von seiner Geliebten in Herz und Hand getroffene Edvard Munch davongetragen hatte. Indem Lorenz jedoch den Arm leicht anhob, stellte er ungläubig fest, daß hier etwas auf seiner Haut geschrieben stand. Eine mit blauem Filzschreiber gezeichnete Ziffernreihe. Ganz in der Art, wie man das von Personen kennt, die sich in großer Eile und bar eines Stück Papiers eine Telefonnummer auf ihrem Handrücken notieren. Aber es war nicht seine eigene Schrift. Jemand anders mußte …

Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wer ihm eine Abfolge von eins, zwei, …von sechs Ziffern auf seine Haut aufgemalt haben sollte.

Er dachte nach. Atmete wie aus einem Salzstreuer, wie durch viele kleine, winzig-enge Löcher. – Im Grunde ergab sich eine einzige Möglichkeit: daß nämlich sein Neglect doch nicht völlig verschwunden war, daß er noch immer, wenngleich nur kurz, in Phasen einseitiger rechtslastiger Wahrnehmung geriet. So würden sich auch die flüchtigen Momente der Zufriedenheit erklären lassen, die er selbst hier in Oslo mitunter erlebte und die ihm immer zauberisch unbegründet vorkamen.

Ja, das war es. Jemand mußte ihm, während er sich glücklich in der rechten Hemisphäre aufgehalten hatte, diese Nummer auf seinen empfindungslosen linken Handrücken aufgezeichnet haben.

Claire Montbard?

Und zu welchem Zweck?

Nun, vielleicht können manchmal die Mittel den Zweck heiligen.

Er vernahm aus der Ferne Stimmen. Seine Verfolger. Weshalb er sich nicht länger mit den Fragen nach dem Warum und Wieso aufhielt, sondern die einzelnen Ziffern auf der Scheibe antippte. Nach und nach offenbarte sich – auf einem aus dem Glas herausleuchtenden zartrosa Display – dieselbe Zahl wie auf Lorenz’ linkem Handrücken.

Was hier allerdings fehlte, war eine Okaytaste. Natürlich fehlte sie, denn so klug war diese Maschine durchaus, von allein zu wissen, wann etwas okay war.

Und okay war diese Ziffernreihe ganz sicher: 134340.

Die Türe öffnete sich.

Lorenz betrat einen weiten, hohen Raum, dessen Wände im Dunkel verschwanden, während das Zentrum matt beleuchtet dalag. Aus ebendieser Mitte erhob sich ein kartonartiges Behältnis von der Größe eines Geräteschuppens. Ein Postpaket für einen Riesen. Doch der bräunlichen Oberfläche zum Trotz schien es sich um ein Metall zu handeln. Erst nachdem Lorenz mehrmals das Objekt umrundet hatte, fiel ihm die ungemein feine Naht auf, welche möglicherweise die Umrandung einer Tür bildete. Und als er nun den Kopf ganz nahe heranführte, erkannte er auf der ansonsten vollkommen strukturlosen Fläche erneut eine glatte Zifferntastatur, welche in der Art einer hingehauchten Feuchtigkeit auftauchte und sodann verschwand, auftauchte, verschwand, in gleichmäßigen Abständen, verwandt der ein Stück über das Wasser sich erhebenden und dann wieder im Wasser versinkenden Brust eines Mannes, der in einer Badewanne liegt.

Jeder erlebt das. Diese Momente, da man ganz genau weiß, wen oder was man vor sich hat, auch wenn die Hinweise mehr als spärlich sind. Auf diese intuitive Weise erkennt man etwa den Teufel, oder man erkennt ein konkretes Muster in einer abstrakten Anhäufung, oder man spürt ein weit in der Zukunft liegendes Unglück, das soeben seinen harmlos wirkenden Anfang nimmt. Es geht dabei weniger um eine seherische Fähigkeit als um das absichtslose Auffangen einer im Raum stehenden Gewißheit. Man könnte auch sagen, man fällt in diese Gewißheit hinein, man stößt sich den Kopf an ihr oder gerät in ihre Umarmung.

Jedenfalls war es für Lorenz in diesem Augenblick eine völlig klare Sache, daß es sich bei dem Container, vor dem er stand, um ein Behältnis handelte, in dem ein Experiment stattfand, welches allgemein bekannt war unter den Namen Schrödingers Katze.

Schrödinger, das ist dieser österreichische – und wie alles Österreichische letztendlich in der Paranoia gelandete – Wellenmechaniker, der für seine gleichnamige Gleichung berühmt wurde, vor allem aber für seine Katze. Diese fiktive Katze wird bei Schrödinger in eine fiktive Kiste gesperrt, von der nichts nach außen dringt. Ebenfalls in der Kiste befinden sich ein radioaktives Atom sowie ein Geigerzähler, der bei dem zufällig einsetzenden Zerfall des Atoms zu klicken beginnt und damit einen Mechanismus in Gang setzt, der das Ausströmen eines giftigen, eines für die Katze tödlichen Gases zur Folge hat. Beziehungsweise haben könnte, da man ja bis zum Öffnen nicht sagen kann, ob sich der radioaktive »Unfall« vollzogen hat oder nicht.

Lorenz Mohn hatte bereits als Kind oder Jugendlicher von diesem Experiment gehört gehabt, und wie viele andere hatte er sich weniger für die physikalische Bedeutung interessiert, sondern vor allem an die Grausamkeit gedacht – auch wenn es nur eine gedachte Grausamkeit war –, die darin bestand, eine unschuldige Katze in einen Behälter zu sperren. Denn mit dem Denken beginnt ja das ganze Unglück. Lorenz hatte sich immer wieder gefragt, wie jemand imstande sein konnte, einer auch nur imaginierten Katze eine solche Qual anzutun, um sodann auf eine völlig ungerührte Weise quantenmechanische Überlegungen anzustellen, die in der Einsicht gipfelten, daß erst im Moment der Beobachtung – also beim Öffnen der Kiste – die Wirklichkeit sich darauf festlegen könne, ob die Katze schon tot sei oder eben nicht. Denn vor diesem Öffnen, vor dem Moment der Messung und Beobachtung, bestehe ein Zustand der Überlagerung, ein Zustand des Sowohl-Als-auch, weil Wellenfunktionen für ein totes ebenso wie für ein lebendiges Tier existieren würden. Einerseits. Andererseits mochte ja die Katze selbst in der Lage sein, das eventuelle Auslösen des Mechanismus wahrzunehmen und damit also ihrerseits mittels Augenschein die Wirklichkeit zu markieren, noch bevor der außenstehende Experimentator dazu in der Lage war.

Gerade dieser Umstand erschien Lorenz besonders widerwärtig, sich eine den eigenen Tod beobachtende und solcherart physiktheoretisch bedeutsame Katze vorzustellen. Sein jugendlicher Zorn hatte ihn zu der Frage geführt, weshalb der gute Schrödinger sich eine fiktive Katze ausgedacht hatte und nicht etwa ein fiktives Ebenbild, einen theoretischen Schrödinger. Für den jungen Lorenz stand fest, daß diese verdammten Wissenschaftler gefälligst an sich selbst herumexperimentieren sollten, anstatt Tiere – gleichgültig ob real oder erfunden – für ihre Zwecke zu mißbrauchen, für ihren unstillbaren Drang nach Weltzerlegung. (Lorenz wußte nicht, daß ein anderer Quantenmensch, Eugene Paul Wigner, immerhin so weit gegangen war, in einem ergänzenden Gedankenexperiment der theoretischen Katze einen theoretischen Menschen zur Seite zu stellen, nämlich »Wigners Freund«. Vom Standpunkt humaner Gepflogenheiten war es freilich auch nicht sehr viel besser, nicht nur das Leben der Katze, sondern auch das des Freundes zu riskieren, selbst wenn dieser Freund bloß ein Klon Wigners sein mochte.– Das wird überhaupt das Thema der Zukunft werden: ob wir einmal mit unseren Klonen so schlecht umgehen wie mit unseren Tieren.)

Was Lorenz freilich bereits zu Jugendzeiten als absolut stichhaltig empfunden hatte, war die Vorstellung, daß die Dinge nur so lange klar und deutlich erscheinen, solange wir sie beobachten. Beobachten wir sie nicht, so zeigen sie ihr wahres Gesicht, werden nebulös, milchig, unscharf, unzuverlässig oder – wie die Physiker dazu sagen – verschmiert. Ja, die Wirklichkeit ist eine verschmierte, gibt sich aber adrett und sauber, sobald nur einer von uns hinschaut. Wie diese Kids, die freundlich lächelnd ihre Alten um Geld fürs Kino bitten, um dann auf eine Drogenparty zu gehen.

Eines nun stand außer Frage: Für eine kleine Katze brauchte es keinen solchen Behälter wie diesen hier. Und ebenso überzeugt war Lorenz davon, daß sich in diesem schalldichten Kasten niemand anderes als Inger befinden konnte, eingesperrt mit einem irgendwann oder aber bereits zerfallenen radioaktiven Atom. Entweder war Inger tot, oder sie lebte. Beziehungsweise mußte man sich eine verschmierte Inger denken, bei welcher der Tod und das Leben ineinander verschränkt waren.

Welche Inger bitte schön? Inger in Schwarz und Violett?

Doch für Lorenz bestand kein Unterschied mehr zwischen dem Realen und dem Fiktiven. Zwischen dem Gemälde und der Person auf dem Gemälde. Zwischen wirklichen und erfundenen Katzen. Zwischen echten Helden und Romanfiguren. Die ganze Welt bedeutete ein Experiment, in dem jeder gleichzeitig als Katze und als Schrödinger fungierte. Schrödingers Katze und Katzes Schrödinger.

Diese Einsicht traf Lorenz nun mit voller Wucht, als sich hinter ihm die automatische Türe mit dem singenden Ton tendenziell zynischer Gebäudetechnik schloß. Gleichzeitig sprang ein weiterer Scheinwerfer an, der eine dicht unter der Decke hängende, für Lorenz unerreichbare Konstruktion beleuchtete, die auf eine geradezu illustrative Weise einen Geigerzähler mit einer hammerartigen Konstruktion verband. Der Hammer war auf ein schmales, gläsernes Gefäß gerichtet. Keine Frage, daß sich darin ein giftiges Gas befinden mußte.

Lorenz war gefangen. So wie Inger gefangen war. Genau so, wie auch jener gefangen war, der auf der anderen Seite der dicht verschlossenen Türe stand und nicht wissen konnte, ob Lorenz bereits gestorben war oder nicht.

Lorenz überlegte, die Tastatur an der Außenhaut des Behältnisses, in dem Inger stecken mußte, zu berühren und die Zahl 134340 einzugeben. Überzeugt, daß sich auf diese Weise die Türe öffnen würde und er dann also feststellen konnte, ob Inger tot war oder nicht.

Aber er schreckte zurück. Was war, wenn die Zeit des Atoms und damit natürlich auch Ingers Zeit bereits abgelaufen waren und folglich das freigewordene giftige Gas sich beim Öffnen in dem seinen noch unvergifteten Raum ausbreiten würde?

Andererseits: Wollte er noch leben, wenn Inger es nicht mehr tat?

Die Sekunden verstrichen und dehnten sich zu Ewigkeiten von der Art zitternder Knie. Am Horizont ging eine kleine, blasse Kugel auf: Pluto. Wie schön!

Wir sind alle theoretische Katzen.